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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried  

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Drittes Buch

V

Fortbildung der Geschöpfe zu einer Verbindung mehrerer Begriffe und zu einem eignen freiern Gebrauch der Sinne und Glieder

1. In der toten Natur liegt alles noch in einem dunkeln, aber mächtigen Triebe. Die Teile dringen mit  innigen Kräften zusammen; jedes Geschöpf sucht Gestalt zu gewinnen und formt sich. In diesem Trieb ist  noch alles verschlossen; er durchdringt aber auch das  ganze Wesen unzerstörbar. Die kleinsten Teile der  Kristalle und Salze sind Kristalle und Salze; ihre bildende Kraft Wirkt in der kleinsten Partikel wie im  Ganzen, unzerteilbar von außen, von innen unzerstörbar.

2. Die Pflanze ward in Röhren und andern Teilen  auseinandergeleitet; ihr Trieb fängt an, diesen Teilen  nach sich zu modifizieren, ob er wohl im Ganzen  noch einartig wirket. Wurzel, Stamm, Äste saugen,  aber auf verschiedne Art, durch verschiedne Gänge,  verschiedne Wesen. Der Trieb des Ganzen modifiziert sich also mit ihnen, bleibt aber noch im Ganzen eins  und dasselbe; denn die Fortpflanzung ist nur Effloreszenz des Wachstums; beide Triebe sind der Natur  des Geschöpfs nach unabtrennbar.

3. Im Pflanzentier fängt die Natur an, einzelne  Werkzeuge, mithin auch ihre inwohnenden Kräfte,  unvermerkt zu sondern: die Werkzeuge der Nahrung  werden sichtbar; die Frucht löset sich schon im Mutterleibe los, ob sogleich noch als Pflanze in ihm genährt wird. Viele Polypen sprossen aus einem Stamm; die Natur hat sie an Ort und Stelle gesetzt und mit  einer eignen Bewegbarkeit noch verschonet; auch die  Schnecke hat noch einen breiten Fuß, mit dem sie an  ihrem Hause haftet. Noch mehr liegen die Sinne dieser Geschöpfe ungeschieden und dunkel ineinander;  ihr Trieb wirkt langsam und innig; die Begattung der  Schnecke dauert viele Tage. So hat die Natur diese  Anfänge der lebendigen Organisation, soviel sie  konnte, mit dem Vielfachen verschont, das Vielfache  aber dafür in eine dunkle einfache Regung tiefer gehüllt und fester verbunden. Das zähe Leben der  Schnecke ist beinah unzerstörbar.

4. Als sie höher hinaufschritt, beobachtete sie eben  die weise Vorsicht, das Geschöpf an ein Vielfaches  abgetrenneter Sinne und Triebe nur allmählich zu gewöhnen. Das Insekt konnte auf einmal nicht alles  üben, was es üben sollte; es muß also seine Gestalt  und sein Wesen verändern, um jetzt als Raupe dem  Triebe der Nahrung, jetzt als Zwiefalter der Fortpflanzung genugzutun; beider Triebe war es in einer Gestalt nicht fähig. Eine Art Bienen konnte nicht alles  ausrichten, was der Genuß und die Fortpflanzung dieses Geschlechts forderte; also teilte die Natur und  machte diese zu Arbeitern, jene zu Fortpflanzern,  diese zur Gebärerin: alles durch eine kleine Abänderung der Organisation, wodurch die Kräfte des ganzen Geschöpfs eine andre Richtung bekamen. Was sie in  einem Modell nicht ausfahren konnte, legte sie in  drei Modellen, die alle zusammengehören, gebrochen auseinander. So lehrte sie also ihr Bienenwerk  die Biene in drei Geschlechtern, wie sie den Schmetterling und andre Insekten ihren Beruf in zwo verschiednen Gestalten lehrte.

5. Je höher sie schritt, je mehr sie den Gebrauch  mehrerer Sinne, mithin die Willkür zunehmen lassen  wollte, desto mehr tat sie unnötige Glieder weg und  simplifizierte den Bau von innen und außen. Mit der  Haut der Raupe gingen Füße weg, die der Schmetterling nicht mehr bedurfte; die vielen Füße der Insekten, ihre mehreren und vielfachern Augen, ihre Fühlhörner und mancherlei andre kleine Rüstwerkzeuge verlieren  sich bei den höhern Geschöpfen. Bei jenen war im  Kopf wenig Gehirn; dies lag im Rückenmark längs  hinunter, und jedes Nervenknötchen war ein neuer  Mittelpunkt der Empfindung. Die Seele des kleinen  Kunstgeschöpfs war also in sein ganzes Wesen gebreitet. Je mehr das Geschöpf an Willkür und Verstandesähnlichkeit wachsen soll, desto größer und  hirnreicher wird der Kopf; die drei Hauptteile des Leibes treten in mehrere Proportion gegeneinander, da sie bei Insekten, Würmern u. f. noch gar verhältnislos  waren. Mit welchen großen mächtigen Schwänzen  schleppen sich noch die Amphibien ans Land; ihre  Füße stehn unförmlich auseinander. In Landtieren  hebt die Natur das Geschöpf; die Füße werden höher  und rücken mehr zusammen. Der Schwanz mit seinen  fortgesetzten Rückenwirbeln schmälert und kürzt  sich; er verliert die groben Muskelkräfte des Krokodils und wird biegsamer, feiner, bis er sich bei edlern  Tieren gar nur in einen haarigen Schweif ändert und  die Natur ihn zuletzt, indem sie sich der aufrechten  Gestalt nähert, gar wegwirft. Sie hat das Mark desselben höher hinaufgeleitet und an edlere Teile verwendet.

6. Indem die bildende Künstlerin also die Proportion des Landtiers fand, die beste, darin diese Geschöpfe gewisse Sinnen und Kräfte gemeinschaftlich üben und einer Form der Gedanken und Empfindungen vereinigen lernten, so änderte sie zwar nach der  Bestimmung und Lebensart jedweder Gattung auch  die Bildung derselben und schuf aus eben den Teilen  und Gliedern jedem Geschlecht seine eigne Harmonie  des Ganzen, mithin auch seine eigne, von allen andern Geschlechtern organisch verschiedne Seele; sie behielt indes doch unter allen eine gewisse Ähnlichkeit  bei und schien einen Hauptzweck zu verfolgen. Dieser Hauptzweck ist offenbar, sich der organischen  Form zu nähern, in der die meiste Vereinigung klarer  Begriffe, der vielartigste und freieste Gebrauch verschiedner Sinne und Glieder stattfände, und eben dies  macht die mehr oder mindere Menschenähnlichkeit  der Tiere. Sie ist kein Spiel der Willkür, sondern ein  Resultat der mancherlei Formen, die zu dem Zweck,  wozu sie die Natur verbinden wollte, nämlich zu einer Übung der Gedanken, Sinne, Kräfte und Begierden, in diesem Verhältnis, zu solchen und keinen andern  Zwecken nicht anders als also verbunden werden  konnten. Die Teile jedes Tiers stehen auf seiner Stufe  in der engsten Proportion untereinander; und ich glaube, alle Formen sind erschöpft, in denen nur ein lebendiges Geschöpf auf unsrer Erde fortkommen konnte. Dem Tier ward ein vierfüßiger Gang; denn als  Menschenhände konnt es noch nicht seine Vorfüße  gebrauchen; durch den vierfüßigen Gang aber ward  ihm sein Stand, sein Lauf, sein Sprung und der Gebrauch aller seiner Tiersinne am leichtesten. Noch  hängt sein Kopf zur Erde; denn von der Erde sucht's  Nahrung. Der Geruch ist bei den meisten herrschend;  denn er muß den Instinkt wecken oder ihn leiten. Bei  diesem ist das Gehör, bei jenem das Auge scharf; und  so hat die Natur nicht nur bei der vierfüßigen Tierbildung überhaupt, sondern bei der Bildung jedes  Geschlechts besonders die Proportion der Kräfte und  Sinne gewählt, die sich in dieser Organisation am besten zusammen üben konnten. Darnach verlängte oder kürzte sie die Glieder, darnach stärkte oder schwächete sie die Kräfte: Jedes Geschöpf ist ein Zähler zu  dem großen Nenner, der die Natur selbst ist; denn  auch der Mensch ist ja nur ein Bruch des Ganzen,  eine Proportion von Kräften, die sich in dieser und  keiner andern Organisation durch die gemeinschaftliche Beihülfe vieler Glieder zu einem Ganzen bilden  sollte.

7. Notwendig mußte also in einer so durchdachten  Erdorganisation keine Kraft die andre, kein Trieb  den andern stören; und unendlich schön ist die Sorgfalt, die die Natur hier verwandte. Die meisten Tiere  haben ihr bestimmtes Klima, und es ist gerade das,  wo ihre Nahrung und Erziehung ihnen am leichtesten  wird. Hätte die Natur sie in dieser Erträglichkeit vieler Erdstriche unbestimmter gebildet, in welche Not  und Verwilderung wäre manche Gattung geraten, bis  sie ihren Untergang gefunden hätte! Wir sehen dies  noch an den bildsamen Geschlechtern, die dem Menschen in alle Länder gefolgt sind; sie haben sich mit  jeder Gegend anders gebildet, und der wilde Hund ist  das fürchterlichste Raubtier worden, eben weil er verwildert ist. Noch mehr hätte der Trieb der Fortpflanzung das Geschöpf verwirren müssen, wenn er  unbestimmt gelassen wäre; nun aber legte die bildende Mutter auch diesen in Fesseln. Er wacht nur zu  bestimmter Zeit auf, wenn die organische Wärme des  Tiers am höchsten steiget; und da diese durch physische Revolutionen des Wachstums, der Jahrszeit, der  reichsten Nahrung bewirkt wird und die gütige Vorsorgerin die Zeit des Tragens auch hiernach bestimmte, so ward für alt und jung gesorget. Das Junge  kommt auf die Welt, wenn es für sich fortkommen  kann, oder es darf in einem Ei die böse Jahrszeit überdauern, bis eine freundlichere Sonne es aufweckt; das  Alte fühlet nur dann den Trieb, wenn dieser es in  nichts anderm störet. Auch das Verhältnis der beiden  Geschlechter in der Stärke und Dauer dieses Triebes  ist darnach eingerichtet.

Über allen Ausdruck ist die wohltätige Mutterliebe, mit der auf diese Weise die Natur jedes lebendige Geschöpf zu Tätigkeiten, Gedanken und Tugenden, der  Fassung seiner Organisation gemäß, gleichsam erziehet und tätig gewöhnet. Sie dachte ihm vor, da sie  diese Kräfte in solche und keine andre Organisation  setzte, und nötigte das Geschöpf nun, in dieser Organisation zu sehen, zu begehren, zu handeln, wie sie  ihm vorgedacht hatte und in den Schranken dieser Organisation Bedürfnis, Kräfte und Raum gab.

Keine Tugend, kein Trieb ist im menschlichen Herzen, von dem sich nicht hie und da ein Analogon in  der Tierwelt fände und zu dem also die bildende Mutter das Tier organisch gewöhnet. Es muß für sich sorgen, es muß die Seinigen lieben lernen; Not und die  Jahrszeit zwingen es zur Gesellschaft, wenn auch nur  zur geselligen Reise. Dieses Geschöpf zwingt der  Trieb zur Liebe, bei jenem macht das Bedürfnis gar  Ehe, eine Art Republik, eine gesellige Ordnung. Wie  dunkel dies alles geschehe, wie kurz manches daure,  so ist doch der Eindruck davon in der Natur des Tiers  da; und wir sehen, er ist mächtig da, er kommt wieder, ja er ist in diesem Geschöpf unwidertreiblich, unauslöschlich. Je dunkler, desto inniger wirkt alles; je weniger Gedanken sie verbinden, je seltner sie Triebe  üben, desto stärker sind die Triebe, desto vollendeter  wirken sie. Überall also liegen Vorbilder der menschlichen Handlungsweisen, in denen das Tier geübt  wird, und sie, da wir ihr Nervengebäude, ihren uns  ähnlichen Bau, ihre uns ähnlichen Bedürfnisse und  Lebensarten vor uns sehen, sie dennoch als Maschinen betrachten wollen, ist eine Sünde wider die Natur  wie irgend eine.

Es ist daher auch nicht zu verwundern, daß, je  menschenähnlicher ein Geschlecht wird, desto mehr  seine mechanische Kunst abnehme; denn offenbar stehet ein solches schon in einem vorübenden Kreise  menschlicher Gedanken. Der Biber, der noch eine  Wasserratte ist, bauet künstlich. Der Fuchs, der  Hamster und ähnliche Tiere haben ihre unterirdische  Kunstwerkstätte; der Hund, das Pferd, das Kamel, der Elefant bedürfen dieser kleinen Künste nicht mehr; sie haben menschenähnliche Gedanken, sie üben sich,  von der bildenden Natur gezwungen, in menschenähnlichen Trieben.

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