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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried   

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Fünftes Buch

II

Keine Kraft der Natur ist ohne Organ; das Organ ist aber nie die Kraft selbst, die mittelst jenem wirket

Priestley und andre haben den Spiritualisten vorgerückt, daß man in der ganzen Natur keinen reinen  Geist kenne und daß man auch den innern Zustand der Materie lange nicht genug einsehe, um ihr das Denken  oder andere geistige Kräfte abzusprechen, mich  dünkt, sie haben in beidem recht. Einen Geist, der  ohne und außer aller Materie wirkt, kennen wir nicht;  und in dieser sehen wir so viele geistähnliche Kräfte  daß mir ein völliger Gegensatz und Widerspruch dieser beiden allerdings sehr verschiednen Wesen des  Geistes und der Materie, wo nicht selbst widersprechend, so doch wenigstens ganz unerwiesen scheinet.  Wie können zwei Wesen gemeinschaftlich und innig  harmonisch wirken, die, völlig ungleichartig, einander wesentlich entgegen wären? Und wie können wir dies  behaupten, da uns weder Geist noch Materie im Innern bekannt ist?

Wo wir eine Kraft wirken sehen, wirkt sie allerdings in einem Organ und diesem harmonisch; ohne  dasselbe wird sie unsern Sinnen wenigstens nicht  sichtbar, mit ihm aber ist sie zugleich da, und wenn  wir der durchgehenden Analogie der Natur glauben  dürfen, so hat sie sich dasselbe zugebildet. Präformierte Keime, die seit der Schöpfung bereitlagen, hat  kein Auge gesehen; was wir vom ersten Augenblick  des Werdens eines Geschöpfs bemerken, sind wirkende organische Kräfte. Hat ein einzelnes Wesen  diese in sieh, so erzeugt es selbst; sind die Geschlechter geteilt, so muß jedes derselben zur Organisation  des Abkömmlings beitragen, und zwar nach der Verschiedenheit des Baues auf eine verschiedene Weise.  Geschöpfe von Pflanzennatur, deren Kräfte noch einartig, aber desto inniger wirken, haben nur einen leisen Hauch der Berührung nötig, ihr Selbsterzeugtes  zu beleben; auch in Tieren, wo der lebendige Reiz  und ein zähes Leben durch alle Glieder herrschet, mithin fast alles Produktions- und Reproduktionskraft ist,  bedarf die Frucht der Belebung oft nur außer Mutterleibe. Je vielartiger der Organisation nach die Geschöpfe werden, desto unkenntlicher wird das, was  man bei jenen den Keim nannte; es ist organische  Materie, zu der lebendige Kräfte kommen müssen, sie erst zur Gestalt des künftigen Geschöpfs zu bilden.  Welche Auswirkungen gehen im Ei eines Vogels vor,  ehe die Frucht Gestalt gewinnt und sich diese vollendet! Die organische Kraft muß zerrütten, indem sie  ordnet; sie zieht Teile zusammen und treibt sie auseinander, ja es scheint, als ob mehrere Kräfte im  Wettstreit wären und zuerst eine Mißgeburt bilden  wollten, bis sie in ihr Gleichgewicht treten und das  Geschöpf das wird, was es seiner Gattung nach sein  soll. Siehet man diese Wandlungen, diese lebendigen  Wirkungen sowohl im Ei des Vogels als im Mutterleibe des Tiers, das Lebendige gebäret, so, dünkt  mich, spricht man uneigentlich, wenn man von Keimen, die nur entwickelt würden, oder von einer Epigenesis redet, nach der die Glieder von außen zuwüchsen. Bildung (genesis) ist's, eine Wirkung innerer Kräfte, denen die Natur eine Masse vorbereitet  hatte, die sie sich zubilden, in der sie sich sichtbar  machen sollten. Dies ist die Erfahrung der Natur; dies bestätigen die Perioden der Bildung in den verschiedenen Gattungen von mehr oder minder organischer  Vielartigkeit und Fülle von Lebenskräften, nur hieraus lassen sich die Mißbildungen der Geschöpfe  durch Krankheit, Zufall oder durch die Vermischung  verschiedner Gattungen erklären, und es ist dieser  Weg der einzige, den uns in allen ihren Werken die  kraft- und lebenreiche Natur durch eine fortgehende  Analogie gleichsam aufdringt.

Man würde mich unrecht verstehen, wenn man mir  die Meinung zuschriebe, als ob, wie einige sich ausgedrückt haben, unsre vernünftige Seele sich ihren  Körper in Mutterleibe, und zwar durch Vernunft, gebauet habe. Wir haben gesehen, wie spät die Gabe der Vernunft in uns angebauet werde und daß wir zwar  fähig zu ihr auf der Welt erscheinen, sie aber weder  eigenmächtig besitzen noch erobern mögen. Und wie  wäre ein solches Gebilde auch für die reifste Vernunft des Menschen möglich, da wir dasselbe in keinem  Teil weder von innen noch außen begreifen und selbst der größeste Teil der Lebensverrichtungen in uns  ohne das Bewußtsein und den Willen der Seele fortgeht? Nicht unsre Vernunft war's, die den Leib bildete, sondern der Finger der Gottheit, organische Kräfte. Sie hatte der Ewige auf dem großen Gange der Natur  so weit hinaufgeführt. daß sie jetzt, von seiner Hand  gebunden, in einer kleinen Welt organischer Materie,  die er ausgesondert und zur Bildung des jungen Wesens sogar eigen umhüllt hatte, ihre Schöpfungsstätte  fanden. Harmonisch vereinigten sie sich mit ihrem  Gebilde, in welchem sie auch, solange es dauert, ihm  harmonisch wirken, bis, wenn dies abgebraucht ist,  der Schöpfer sie von ihrem Dienst abruft und ihnen  eine andre Wirkungsstätte bereitet.

Wollen wir also dem Gange der Natur folgen, so ist offenbar:

1. Daß Kraft und Organ zwar innigst verbunden,  nicht aber eins und dasselbe sei. Die Materie unsres  Körpers war da, aber gestalt- und leblos, ehe sie die  organischen Kräfte bildeten und belebten.

2. Jede Kraft wirkt ihrem Organ harmonisch;  denn sie hat sich dasselbe zur Offenbarung ihres Wesens nur zugebildet. Sie assimilierte die Teile, die der  Allmächtige ihr zuführte und in deren Hülle er sie  gleichsam einwies.

3. Wenn die Hülle wegfällt, so bleibt die Kraft, die voraus, obwohl in einem niedrigern Zustande und  ebenfalls organisch, dennoch vor dieser Hülle schon  existierte. War's möglich, daß sie aus ihrem vorigen  in diesen Zustand übergehen konnte, so ist ihr auch  bei dieser Enthüllung ein neuer Übergang möglich.  Fürs Medium wird der sorgen, der sie, und zwar viel  unvollkommener, hieher brachte.

Und sollte uns die sich immer gleiche Natur nicht  schon einen Wink über das Medium gegeben haben,  in dem alle Kräfte der Schöpfung wirken? In den tiefsten Abgründen des Werdens, wo wir keimendes  Leben sehen, werden wir das unerforschte und so  wirksame Element gewahr, das wir mit den unvollkommenen Namen Licht, Äther, Lebenswärme benennen und das vielleicht das Sensorium des Allerschaffenden ist, dadurch er alles belebet, alles erwärmet. In tausend und Millionen Organe ausgegossen,  läutert sich dieser himmlische Feuerstrom immer feiner und feiner; durch sein Vehikulum wirken vielleicht alle Kräfte hienieden, und das Wunder der irdischen Schöpfung, die Generation, ist von ihm unabtrennlich. Vielleicht ward unser Körpergebäude auch  eben deswegen aufgerichtet, daß wir, selbst unsern  gröbern Teilen nach, von diesem elektrischen Strom  mehr an uns ziehen, mehr in uns verarbeiten könnten;  und in den feinern Kräften ist zwar nicht die grobe  elektrische Materie, aber etwas von unserer Organisation selbst Verarbeitetes, unendlich Feineres und dennoch ihr Ähnliches das Werkzeug der körperlichen  und Geistesempfindung. Entweder hat die Wirkung  meiner Seele kein Analogon hienieden, und sodenn  ist's weder zu begreifen, wie sie auf den Körper  wirke, noch wie andre Gegenstände auf sie zu wirken  vermögen; oder es ist dieser unsichtbare himmlische  Licht- und Feuergeist, der alles Lebendige durchfließt und alle Kräfte der Natur vereinigt. In der menschlichen Organisation hat er die Feinheit erreicht, die ihm ein Erdenbau gewähren konnte; vermittelst seiner  wirkte die Seele in ihren Organen beinah allmächtig  und strahlte in sich selbst zurück mit einem Bewußtsein, das ihr Innerstes reget. Vermittelst seiner füllte  sich der Geist mit edler Wärme und wußte sich durch  freie Selbstbestimmung gleichsam aus dem Körper, ja aus der Welt zu setzen und sie zu lenken. Er hat also  Macht über dasselbe gewonnen, und wenn seine Stunde schlägt, wenn seine äußere Maschine aufgelöset  wird, was ist natürlicher, als daß nach innigen, ewig  fortwirkenden Gesetzen der Natur er das, was seiner  Art geworden und mit ihm innig vereint ist, nach sich  ziehe? Er tritt in sein Medium über, und dies ziehet  ihn - oder vielmehr du ziehest und leitest uns, allverbreitete bildende Gotteskraft, du Seele und Mutter  aller lebendigen Wesen, du leitest und bildest uns zu  unsrer neuen Bestimmung sanft hinüber.

Und so wird, dünkt mich, die Nichtigkeit der  Schlüsse sichtbar, mit denen die Materialisten unsre  Unsterblichkeit niedergeworfen zu haben meinen.  Lasset es sein, daß wir unsre Seele als einen reinen  Geist nicht kennen; wir wollen sie auch als solchen  nicht kennenlernen. Lasset es sein, daß sie nur als  eine organische Kraft wirke; sie soll auch nicht anders wirken dürfen; ja ich setze noch dazu: sie hat erst in  diesem ihrem Zustande mit einem menschlichen Gehirn denken, mit menschlichen Nerven empfinden gelernt und sich einige Vernunft und Humanität angebildet. Lasset es endlich sein, daß sie mit allen Kräften  der Materie, des Reizes, der Bewegung, des Lebens  ursprünglich eins sei und nur auf einer höhern Stufe  in einer ausgebildetern, feinern Organisation wirke;  hat man denn je auch nur eine Kraft der Bewegung  und des Reizes untergehen sehen, und sind diese nie- dern Kräfte mit ihren Organen eins und dasselbe? Der nun eine unzählbare Menge derselben in meinen Körper führte und jeder ihr Gebilde anwies, der meine  Seele über sie setzte und ihr ihre Kunstwerkstätte und an den Nerven die Bande anwies, dadurch sie alle  jene Kräfte lenket: wird ihm im großen Zusammenhange der Natur ein Medium fehlen, sie hinauszuführen? Und muß er es nicht tun, da er sie ebenso wunderbar, offenbar zu einer höhern Bildung, in dies organische Haus führte?

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