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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Sechzehntes Buch

I

Vasken, Galen und Kymren

Von allen den zahlreichen Völkerschaften, die einst die spanische Halbinsel bewohnten, sind aus der ältesten Zeit allein die Vasken übrig, die, um das pyrenäische Gebirge in Spanien und Frankreich noch jetzo wohnhaft, ihre alte Sprache, eine der ältesten der Welt, erhalten haben. Wahrscheinlich erstreckte sich dieselbe einst über den größesten Teil von Spanien, wie es noch, aller Veränderungen ungeachtet, viele Namen der Städte und Flüsse dieses Landes zeigen. [243] Selbst unser Name Silber soll aus ihr sein, der Name des Metalles, das, nebst dem Eisen, in Europa und aller Welt die meisten Revolutionen in Gang gebracht hat; denn der Sage nach war Spanien das erste europäische Land, das seine Bergwerke baute, da es den frühesten Handelsnationen dieser Weltgegend, den Phöniciern und Karthaginensern, nahe und bequem lag: es war ihnen das erste Peru. Die Völker selbst, die unter dem Namen der Vasken und Kantabrer sehr bekannt sind, haben sich in der alten Geschichte als ein schnelles, leichtes, tapfres, freiheitliebendes Volk gezeigt. Sie begleiteten den Hannibal nach Italien und sind in den römischen Dichtern ein furchtbarer Name: sie, nebst den spanischen Kelten, waren es, die den Römern die Unterjochung dieses Landes am schwersten machten, also daß Augustus über sie zuerst, und vielleicht auch nur dem Scheine nach, triumphierte; denn was nicht dienen wollte, zog sich in die Gebirge. Als die Wandalen, Alanen, Sveven. Goten und andere teutonische Völker ihren wilden Durchzug durch die Pyrenäen nahmen und einige derselben in ihrer Nachbarschaft Reiche stifteten, waren sie noch das tapfre, unruhige Volk, das unter den Römern seinen Mut nicht verloren hatte; und als Karl der Große auf seinem Rückzuge vom Siege über die spanischen Sarazenen durch ihr Land zog, waren eben noch sie es, die durch einen listigen Angriff jene in den alten Romanen so berühmte Niederlage bei Ronceval veranlaßten, in welcher der große Roland blieb. Späterhin machten in Spanien und Aquitanien sie den Franken zu schaffen, wie sie es den Sveven und Goten getan hatten; auch bei Wiedereroberung des Landes aus den Händen der Sarazenen blieben sie nicht müßig, ja sie erhielten selbst in den Jahrhunderten der tiefsten barbarischen Mönchsunterdrückung ihren Charakter. Als nach der langen Nacht eine Morgenröte der Wissenschaft für Europa aufging, brach sie durch die fröhliche Dichtkunst der Provenzalen in ihrer Nachbarschaft, zum Teil in denen von ihnen bewohnten Ländern, hervor, die auch in spätem Zeiten Frankreich viele fröhliche und aufgeklärte Geister gegeben haben. Zu wünschen wäre es, daß wir die Sprache, die Sitten und die Geschichte dieses raschen und frohen Volks mehr kennten und daß, wie Macpherson unter den Galen, ein zweiter Larramendi unter ihnen etwa auch nach Resten ihres alten vaskischen Nationalgeistes forschte. [244] Vielleicht hat sich die Sage jener berühmten Rolandsschlacht, die durch den fabelhaften Erzbischof Turpin in einer Mönchsepopee zu so vielen Romanen und Heldengedichten des Mittelalters Anlaß gegeben, auch unter ihnen erhalten; wo nicht, so war doch ihr Land wenigstens die Pforte vor Troja, die mit Abenteuern, die daselbst geschehen sein sollten, lange Zeit die Phantasie der europäischen Völker füllte.

Die Galen, die unter dem Namen der Gallier und Kelten ein bekannteres und berühmteres Volk sind, als die Vasken waren, hatten am Ende mit ihnen einerlei Schicksal. In Spanien besaßen sie einen weiten und schönen Erdstrich, auf welchem sie den Römern mit Ruhm widerstanden; in Gallien, welches von ihnen den Namen hat, haben sie dem Cäsar eine zehnjährige und in Britannien seinen Nachfolgern eine noch längere, zuletzt nutzlose Mühe gekostet, da die Römer endlich diese Insel selbst aufgeben mußten. Außerdem war Helvetien, der obere Teil von Italien, der untere Teil von Deutschland längs der Donau bis nach Pannonien und Illyrikum zu, wenn auch nicht allenthalben in dichten Reihen, mit Stämmen und Kolonien aus ihrem Schöße besetzt, und in den altem Zeiten waren unter allen Nationen sie der Römer furchtbarste Feinde. Ihr Brennus legte Rom in die Asche und machte der künftigen Weltbeherrscherin beinah ein völliges Ende. Ein Zug von ihnen drang bis in Thracien, Griechenland und Kleinasien ein, wo sie unter dem Namen der Galater mehr als einmal furchtbar geworden. Wo sie indessen ihren Stamm am dauerhaftesten, und gewiß nicht ganz ohne Kultur, angebaut haben, war in Gallien und den britannischen Inseln. Hier hatten sie ihre merkwürdige Druidenreligion und in Britannien ihren Oberdruiden; hier hatten sie jene merkwürdige Verfassung eingerichtet, von welcher in Britannien, Irland und auf den Inseln noch so viele, zum Teil ungeheure Steingebäude und Steinhaufen zeugen: Denkmale, die, wie die Pyramiden, wahrscheinlich noch Jahrtausende überdauern und vielleicht immer ein Rätsel bleiben werden. Eine Art Staats- und Kriegseinrichtung war ihnen eigen, die zuletzt den Römern erlag, weil die Uneinigkeit ihrer gallischen Fürsten sie selbst ins Verderben stürzte; auch waren sie nicht ohne Naturkenntnisse und Künste, so viele derselben ihrem Zustande gemäß schienen; am wenigsten endlich ohne das, was bei allen Barbaren die Seele des Volks ist, ohne Gesänge und Lieder. Im Munde ihrer Barden waren diese vorzüglich der Tapferkeit geweiht und sangen die Taten ihrer Väter. [245] Gegen einen Cäsar und sein mit aller römischen Kriegskunst ausgerüstetes Heer erscheinen sie freilich als halbe Wilde; mit andern nordischen Völkern, auch mit mehreren deutschen Stämmen verglichen, erscheinen sie nicht also, da sie diese offenbar an Gewandtheit und Leichtigkeit des Charakters, wohl auch an Kunstfleiß, Kultur und politischer Einrichtung übertrafen; denn wie der deutsche Charakter noch jetzt in manchen Grundzügen dem ähnlich ist, den Tacitus schildert, so ist auch schon im alten Gallier, trotz alles dessen, was die Zeiten verändert haben, der jüngere Gallier kenntlich. Notwendig aber waren die so weit verbreiteten verschiedenen Nationen dieses Volksstammes nach Ländern, Zeiten, Umständen und wechselnden Stufen der Bildung sehr verschieden, so daß der Gale an der Küste des Hochoder Irlands mit einem gallischen oder keltiberischen Volk, das die Nachbarschaft gebildeter Nationen oder Städte lange genossen hatte, wohl wenig gemein haben konnte.

Das Schicksal der Galen in ihrem großen Erdstrich endigte traurig. Den frühesten Nachrichten nach, die wir von ihnen haben, hatten sie sowohl dies- als jenseit der Meerenge die Belgen oder Kymren zur Seite, die ihnen allenthalben nachzudringen scheinen. Diesund jenseit wurden zuerst die Römer, sodann mehrere teutonische Nationen ihre Überwinder, von denen wir sie oft auf eine sehr gewaltsame Art unterdrückt, entkräftet oder gar ausgerottet und verdrängt sehen werden, so daß wir anjetzt die galische Sprache nur an den äußersten Enden ihrer Besitztümer, in Irland, den Hebriden und dem nackten, schottischen Hochlande wiederfinden. Goten, Franken, Burgunder, Alemannen, Sachsen, Normänner und andere deutsche Völker haben in mancherlei Vermischungen ihre andern Länder besetzt, ihre Sprache vertrieben und ihren Namen verschlungen.

Indessen gelang es doch der Unterdrückung nicht, auch den innern Charakter dieses Volks in lebendigen Denkmalen ganz von der Erde zu vertilgen; sanft wie ein Harfenton entschlüpfte ihr eine zärtlich-traurige Stimme aus den Gräbern, die Stimme Ossians, des Sohnes Fingal, und einiger seiner Genossen. Sie bringt uns, wie in einem Zauberspiegel, nicht nur Gemälde alter Taten und Sitten vor Augen, sondern die ganze Denk- und Empfindungsweise eines Volkes auf dieser Stufe der Kultur, in solchen Gegenden, bei solchen Sitten tönet uns durch sie in Herz und Seele. Ossian und seine Genossen sagen uns mehr vom innern Zustande der alten Galen, als ein Geschichtschreiber uns sagen könnte, und werden uns gleichsam rührende Prediger der Humanität, wie solche auch in den einfachsten Verbindungen der menschlichen Gesellschaft lebt. Zarte Bande ziehen sich auch dort von Herz zu Herzen, und jede ihrer Saiten tönt Wehmut. Was Homer den Griechen wurde, hätte ein galischer Ossian den Seinigen werden können, wenn die Galen Griechen und Ossian Homer gewesen wäre. Da dieser aber nur, als die letzte Stimme eines verdrängten Volks, zwischen Nebelbergen in einer Wüste singt und wie eine Flamme über Gräbern der Väter hervorglänzt, wenn jener, in Ionien geboren, unter einem werdenden Volk vieler blühenden Stämme und Inseln, im Glanz seiner Morgenröte, unter einem so andern Himmel, in einer so andern Sprache das schildert, was er entschieden, hell und offen vor sich erblickte und andere Geister nachher so vielfach anwandten, so sucht man freilich in den kaledonischen Bergen einen griechischen Homer an unrechtem Orte. Töne indessen fort, du Nebelharfe Ossians; glücklich in allen Zeiten ist, wer deinen sanften Tönen gehorcht. [246]

Die Kymren sind ihrem Namen nach Bergbewohner, und wenn sie mit den Belgen ein Volk sind, so treffen wir sie, von den Alpen an, die westlichen Ufer des Rheins bis zu seinem Ausfluß hinunter, ja vielleicht einst bis zur cirnbrischen Halbinsel, die uralters wahrscheinlich ein größeres Land war. Von deutschen Stämmen, die hart an ihnen saßen, wurden sie teilweise über das Meer gedrängt, so daß sie in Britannien die Galen einengten, die öst- und südlichen Küsten dieses Landes bald innehatten und, da ihre Stämme dies- und jenseit des Meers zusammenhingen, sie auch in manchen Künsten erfahrner als die Galen waren, in dieser Lage nichts so bequem als die Seeräuberei treiben konnten. Sie scheinen ein wilderes Volk gewesen zu sein als die Galen, das auch unter den Römern an Sittlichkeit wenig zunahm und, als diese das Land verließen, in einen so hülflosen Zustand der Barbarei und Ausschweifung versank, daß es bald die Römer, bald zu eignem Schaden die Sachsen als Hülfsvölker ins Land rufen mußte. Sehr übel erging es ihnen unter diesen deutschen Helfern. In Horden kamen diese herüber und verwüsteten bald mit Feuer und Schwert: weder Menschen noch Anlagen wurden verschonet; das Land wurde zur Einöde, und wir finden endlich die armen Kymren an die westliche Ecke Englands, in die Gebirge von Wales, in die Ecke von Cornwallis verdrängt oder nach Bretagne geflüchtet oder vertilget. Nichts gleicht dem Haß, den die Kymren gegen ihre treulosen Freunde, die Sachsen, hatten und viele Jahrhunderte durch, auch nachdem sie in ihre nackten Gebirge eingeschlossen waren, lebhaft nährten. Lange erhielten sie sich unabhängig, im völligen Charakter ihrer Sprache, Regierungsart und Sitten, von denen wir im Regulativ des Hofstaats ihrer Könige und ihrer Beamten noch eine merkwürdige Beschreibung haben [247], indessen kam auch die Zeit ihres Endes. Wales wurde überwunden und mit England vereinigt; nur die Sprache der Kymren erhielt und erhält sich noch, sowohl hier als in Bretagne. Sie erhält sich noch, aber in unsichern Resten; und es ist gut, daß ihr Charakter in Büchern aufgenommen worden [248], weil unausbleiblich sowohl sie als alle Sprachen dergleichen verdrängter Völker ihr Ende erreichen werden und mit dieser in Bretagne dies wohl zuerst geschehen dörfte. Nach dem allgemeinen Lauf der Dinge erlöschen die Charaktere der Völker allmählich; ihr Gepräge nützt sich ab, und sie werden in den Tiegel der Zeit geworfen, in welchem sie zur toten Masse hinabsinken oder zu einer neuen Ausprägung sich läutern.

Das Denkwürdigste, was uns von den Kymren übriggeblieben und wodurch wunderbar auf die Einbildungskraft der Menschen gewirkt worden, ist ihr König Artus mit seinen Rittern der runden Tafel. Natürlich kam die Sage von ihm sehr spät in Bücher, und nur nach den Kreuzzügen bekam sie ihren Schmuck der Romandichtung; ursprünglich aber gehört sie den Kymren zu, denn in Cornwallis herrschte König Artus; dort und in Wales tragen in der Volkssage hundert Orte noch von ihm den Namen. In Bretagne, der Kolonie der Kymren, wurde, vom romantischen Fabelgeist der Normannen belebt, das Märchen wahrscheinlich zuerst ausgebildet und breitete sich sodann mit zahllosen Erweiterungen über England, Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, ja späterhin in die gebildete Dichtkunst. Märchen aus dem Morgenlande kamen dazu, Legenden mußten alles heiligen und segnen; so kam dann das schöne Gefolge von Rittern, Riesen, dem Zauberer Merlin (auch einem Waliser), von Feen, Drachen und Abenteurern zusammen, an welchem sich jahrhundertelang Ritter und Frauen vergnügten. Es wäre umsonst, genau zu fragen, wenn König Artus gelebt habe; aber den Grund, die Geschichte und Wirkungen dieser Sagen und Dichtungen durch alle Nationen und Jahrhunderte, in denen sie geblüht, zu untersuchen und als ein Phänomenon der Menschheit ins Licht zu stellen, dies wäre, nach den schönen Vorarbeiten dazu, ein ruhmwürdiges Abenteuer, so angenehm als belehrend. [249]

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