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Richard III., freie Coloration nach einer Zeichnung von Johann Heinrich Füssli (um 1800)

A horse! a horse! my kingdom for a horse!
(Act 5, Scene 4)

König Richard

 der Dritte

 

William Shakespeare


 

 

Meinungen

 

Meinungen und Hinweise zu Shakespeares Richard III.


George Frederick Cooke 
als Richard III
Thomas Sully, 1811
(Pennsylvania Academy of 
Fine Arts, Philadelphia)

"Der hinkende und bucklige Richard, ungeeignet zum Zeitvertreib der Liebe, wird böse aus Vorsatz, doch ist dies nur einer von vielen Beweggründen. Seine seelischen Defekte allein aus seinen körperlichen Defekten zu erklären, hieße, diese vielfältig schillernde Gestalt zu eng sehen. Im übrigen erliegen ihm trotz seiner Häßlichkeit Anna, deren Mann er getötet hat, und Elisabeth, deren Kinder er ermorden ließ. Richard ist ein Renaissance-Mensch, der seine Klugheit für sein eigenes Verdienst und die Beschränktheit seiner Umwelt für deren Laster hält. Seinem Plan, die Herrschaft an sich zu reißen, ordnet er alle menschlichen Beziehungen, jede seiner Handlungen und alle seine Talente unter. Er kennt sich selbst sehr genau; er weiß, daß er ein Verbrecher ist, und er ist es mit Vergnügen. Daß er vor sich selbst aufrichtig und nicht nur klug, sondern ungewöhnlich mutig ist, noch im Angesicht seines Untergangs — dies gibt seinen Verbrechen eine schauerliche Größe. Er ist ein Genie und ein Mörder, und er stellt sein Genie und seine Morde in den Dienst seiner Herrschsucht: ein zynischer Zweckdenker und erbarmungsloser Verächter der Menschen, die er mit geradezu übermenschlicher Macht durch die Fülle seiner Persönlichkeit beherrscht. Sein Intellekt überstrahlt mit infernalischem Glanz noch den Abscheu vor seinen Verbrechen und läßt ihn schließlich erkennen, daß er selbst die Ursache seines Untergangs ist. Auf Richard als die Zentralfigur sind seine Opfer und Helfer bezogen; so wirken sie unselbständig und flach. Nur der Chor der klagenden und fluchenden Frauen hat etwas von seiner mythischen Gewalt — es sind Schicksalsstimmen von antikischen Maßen."

Georg Hensel, Spielplan, C. A. Koch's Verlag Nachf, Berlin Darmstadt Wien 1966, 1986, S 178


 William Charles Macready 
als Richard III, 
Samuel De Wilde, 1820
(The Royal National Theatre 
and the 
Shakespeare Memorial Theatre Trust)

"Shakespeares originellste Leistung in Richard III., die für alle Schwächen des allzu breit ausgearbeiteten Stücks entschädigt, ist nicht so sehr in der Figur Richards selbst zu suchen, als vielmehr in der frappierend intimen Beziehung des Bösewichts mit seinem Publikum. Wir pflegen einen nervenaufreibend vertraulichen Umgang mit ihm; Buckingham vertritt unsere Stelle, und als er in Ungnade fällt und Richard ihn schließlich hinrichten lässt, schaudert uns in der Erwartung, dass der König sich auch uns zuwenden könnte mit den Worten: »Genug von diesen Leuten! Aufs Schafott mit ihnen!« Und wir sind tatsächlich schuldig, insofern zumindest, als wir allesamt unfähig waren, Richards ungeheurem Zauber, der uns alle in Machiavellisten verwandelt hat, zu widerstehen... Er macht jeden von uns zu seiner Lady Anne, indem er jene verborgenen sadomasochistischen Neigungen anspricht, die jedes Theaterpublikum auszeichnet - wir alle im Saal sind schließlich hier, um uns vom Leiden anderer unterhalten zu lassen. Richard macht uns zu Komplizen im grausamen Spiel, die sein alles andere als unschuldiges Vergnügen teilen und darüber hinaus die kitzelnde Lust-Angst genießen, sie könnten bald schon selbst auf die Seite der Opfer hinüberwechseln, wenn der dominante Bucklige sie für zu wenig willfährig befinden sollte. Auch Marlowe sprach sadomasochistische Lüste an, freilich in keiner Weise subtil: Sein Edward II. wird ermordet, indem man ihm eine glühende Eisenstange in den Anus rammt. Shakespeare, der uns solche Orgien maßloser Grausamkeit erspart, schockiert uns gleichwohl noch tiefer, indem er uns die Erfahrung machen lässt, dass wir unfähig sind, uns Richards schrecklichem Zauber zu entziehen.

Dessen Verführungskraft verdankt sich nicht überragendem rhetorischem Talent, kognitiver Intelligenz oder analytischem Scharfsinn: Richard III. verfügt bei weitem nicht über das komplexe Genie Jagos oder den kalten Verstand Edmunds. Und unser vertraulicher Umgang mit Richard ist lediglich eine Vorstufe dessen, was wir mit Hamlet erleben werden: dieser besitzt die Fähigkeit, sein gesamtes Publikum kurzerhand in lauter Horatios zu verwandeln. Buckingham lässt sich unmöglich als eine Figur vom Schlag Horatios interpretieren; er ist eigentlich nur ein adliges Faktotum des Bösen, eine der Krallen, deren sich der König der Katzen bedient. Aber worin besteht dann Richards sonderbar befremdlicher Charme, der allein Shakespeares allzeit beliebtes Melodram aus dem Feuer reißt? Der sadomasochistischen Komponente kommt gewiss zentrale Bedeutung zu: Wenn wir Mutmaßungen darüber anstellen wollten, was Richard in seinem Schlafzimmer mit der armen Anne treibt, müssten wir den unsaubersten Fantasien, deren wir fähig sind, freien Lauf lassen. Wir erfahren nicht, wie sie stirbt, ohne Zweifel jedoch liegt in Richards Stimme etwas Genießerisches, wenn er mitteilt: »Und Anna sagte gute Nacht der Welt.« Aber perverse Veranlagung allein reicht nicht aus, Richards überwältigende Attraktivität zu erklären. Sein Geheimnis scheint eher in seinem unstillbaren Appetit zu liegen, einer Lust-Energie, die entzückt und zugleich entsetzt. Er ist ein Panurg, der sich vom Tunichtgut zum Bösewicht gewandelt hat, dessen ganze geballte Vitalität dem Todestrieb zufließt. Wir alle, die wir sein Publikum sind, brauchen immer wieder Zeiten der Ruhe, um neue Kräfte zu sammeln, Richard dagegen hält nie inne, von einem Opfer zum nächsten treibt ihn der Hunger nach Macht - nach der destruktiven Macht weh zu tun - vorwärts."

Harold Bloom, Shakespeare - Die Erfindung des Menschlichen, Erstes Buch, Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2002, S 120 ff.

John Gilbert, Richard und Lady Anne, Illustration für Howard Staunton's The Works of Shakespeare (1867)
John Gilbert, Richard und Lady Anne, 
Illustration für Howard Staunton's 
The Works of Shakespeare (1867)

"Richard III. ist die erste der großen Gestalten, die Shakespeare mit der Ganzheit der historischen Erfahrung ausstattet, um seine tragische Abrechnung mit der Wirklichkeit durchzuführen. Diese Abrechnung beginnt mit der Begegnung zwischen Richard und Lady Anna. Es ist eine der größten Szenen, die Shakespeare geschrieben hat, und eine der größten, die überhaupt jemals geschrieben worden sind...

Shakespeare ist ein psychologischer Seher. In dieser großen Szene stößt er heftig, satzweise, in gewaltigen Ellipsen bis an den Rand des Dunkels vor. Er reduziert die Welt auf die elementarsten Kräfte, auf Haß und Begehren. Noch haßt Lady Anna Richard, aber sie befindet sich bereits mit ihrem Haß allein in der Welt, in der es nur noch das Begehren gibt. Man muß diese Szene durch unsere eigenen Erfahrungen sehen, man muß darin die Nacht der Besatzungszeit, die Nacht der KZs, die Nacht der Massenmorde wiederfinden. Man muß darin die grausame Zeit erblicken, in der alle Normen der Moral zersplittern, in der nacheinander das Opfer zum Henker und der Henker zum Opfer werden. Noch kann Lady Anna Richard ins Gesicht spucken, aber das ist bereits ihre letztmögliche Geste, die letzte Wehr, bevor sie sich ergibt.


 David Garrick als König Richard III, letzter Akt.
Stich von Th. Cook, 1798, nach einem Gemälde
von Hogarth um 1746

Seit Richard Burbage haben sich bis auf den heutigen Tag die größten Schauspieler an der Rolle Richards versucht. David Garricks (1716-79) Auffassung und Darstellung eröffnete geradezu eine neue Periode der Schauspielkunst.

Lady Anna fügt sich Richard nicht aus Angst. Sie geht mit ihm, um den Abgrund zu erfahren. Um sich selbst zu beweisen, daß alle Gesetze der Welt ihre Gültigkeit verloren haben. Denn wenn alles verlorengegangen ist, bleibt nur noch das Gedächtnis übrig, das man ebenfalls in sich töten muß. Man muß sich selbst töten oder die letzte Scham in sich vernichten. Lady Anna geht mit Richard ins Bett, um — wie Conrad sagen würde — »im vernichtenden Element unterzutauchen«. Ist die ganze Geschichte nur ein großes Abschlachten, dann bleibt einem nichts außer dem Sprung ins Dunkel, außer der Wahl zwischen Tod und Lust. Die Genialität Shakespeares hat Lady Anna eben vor diese Wahl gestellt, vor die letzte und einzige, die ihr blieb. Richard reicht ihr den Dolch."

Jan Kott, Shakespeare heute, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/Main Wien München, S 61 ff.

"König Richard der Dritte gehörte mit Romeo und Julia, Julius Cäsar und Hamlet zweifellos zu den populärsten Stücken Shakespeares, ja es trug mit zum Mythos bei, der sich um den Autor bildete. Im Tagebuch des John Manningham aus dem Jahre 1602 heißt es: »Zur Zeit, als Burbage Richard III. spielte, verliebte sich eine Bürgerin so sehr in ihn, daß sie nach dem Ende der Aufführung mit ihm verabredete, er solle in der kommenden Nacht unter dem Namen »Richard III.« zu ihr kommen. Shakespeare erlauschte diese Vereinbarung, kam zuvor und hatte seinen Spaß, bevor Burbage eintraf. Auf die Nachricht, Richard III. sei an der Tür, ließ Shakespeare antworten, »Wilhelm der Eroberer sei Richard III. zuvorgekommen.«

Dietrich Klose (Hrsg.), William Shakespeare, König Richard der Dritte, Philipp Reclam jun. GmbH, Stuttgart 1971, S 120

 

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