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                | Zeittafel zu Leben
                  und Werkzugleich eine
                  elementare Einführung in das philosophische Denken Sartresund
                  dessen Ursprünge in seiner Lebensgeschichte
 
 Wolfgang Peter 2001
 
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                | 1905 | 21. Juni:  
                Jean-Paul Charles Aymard Sartre wird als Sohn des Marineoffiziers 
                Jean-Baptiste Sartre in Paris geboren. Anne-Marie Schweitzer, 
                seine Mutter, Tochter von Charles und Louise Schweitzer, ist deutsch-elsässischer 
                Abstammung und war eine Cousine 
                 Albert 
                Schweitzers. |  
Jean-Paul Sartre, 8
                  Monate alt  
Charles Schweitzer,der Großvater
  
Jugendbildnid Sartres mit sieben Jahren  
Jean-Paul Sartre, 1923 |  
                | 1907 | Der Vater, den Sartre praktisch
                  nicht gekannt hat,  erkrankt in Übersee am Fieber, wird
                  schwerkrank heimgebracht und stirbt bald darauf. Die
                  Mutter, die kein Geld und nichts gelernt hatte, zieht zu ihren Eltern. Sartre wächst so bei den
                  Großeltern auf. Der Großvater, ein Deutschlehrer und die
                  eigentliche Autoritätsperson des Hauses, hatte ein
                  komödiantisches Talent und liebte es, mit dem Knaben selbst
                  erfundene Szenen der Familie vorzuspielen.  Obwohl Sartre freundlich aufgenommen wird,
                  fühlt er sich in diesem großbürgerlichen Milieu, das ihn
                  zutieftst bedrückt und für sein weiters Leben entscheidend
                  prägen wird, stets als Fremder, der nicht wirklich
                  dazugehört und dem auch nichts gehört. Sartres späterer
                  marxistisch orientierter und voll und ganz gelebter
                  Eigentumsbegriff ist untrennbar mit diesen
                  Kindheitserfahrungen verbunden. Ich habe nie ein Gefühl
                  für das Eigentum gehabt; nichts hat mir jemals wirklich
                  gehört, denn ich habe zuerst bei meinen Großeltern gelebt
                  und, nach der Wiederheirat meiner Mutter, mich bei meinem
                  Stiefvater auch nicht "zu Hause" gefühlt; die
                  Andern gaben mir immer, was ich benötigte. (1) Dieses praktisch völlig
                  fehlende Besitzstreben zeichnete Sartre ein Leben lang aus.
                  Auch als er bereits berühmt geworden war und über reichliche
                  Einkünfte verfügte, lebte er stets in einem bescheidenen
                  Hotelzimmer. Seinen Freunden gegenüber erwies er sich
                  aber  immer als sehr großzügig.
                   Als völliger Fremdling fühlt sich
                  also Sartre in der großbürgerlichen Atmosphäre, in der er
                  nun leben muß, allein auf sich selbst gestellt, in eine fremde Welt
                  geworfen, die beständig ihren prüfenden Blick auf ihn
                  wirft.  Die eigene Existenz erscheint ihm deshalb nicht als etwas
                  passiv fertig Gegebenes, sondern als etwas, was er beständig
                  aktiv vor der Welt zu rechtfertigen habe. Aus Angst,
                  verstoßen zu werden, lernt er die Rolle des "artigen
                  Jungen" zu spielen - wohl eine der wesentlichsten Wurzeln
                  für Sartres spätere philosophische Ansicht, daß der Mensch
                  im Leben immer eine bestimmte "Rolle" spielen muß,
                  um mit seinen Mitmenschen zusammenleben zu können. Das ganze
                  Leben wird so zu einem merkwürdig inszenierten Theaterstück:
                  man ist das, was man ist nur dadurch, daß man sich selbst
                  und den anderen vorspielt, was man ist. Sartre hat das
                  später sehr anschaulich so beschrieben:
                   Betrachten wir diesen
                  Kaffeehauskellner. Er hat rasche und sichere Bewegungen, ein
                  wenig allzu bestimmte und ein wenig allzu schnelle, er kommt
                  ein wenig zu rasch auf die Gäste zu, er verbeugt sich mit ein
                  wenig zuviel Beflissenheit, seine Stimme und seine Blicke
                  drücken eine Interessiertheit aus, die ein wenig zu sehr von
                  Besorgnis um die Bestellung des Kunden in Anspruch genommen
                  ist; dort kommt er zurück und versucht durch seine Art, zu
                  gehen, die unbeugsame Härte irgendeines Automaten
                  nachzumachen, während er gleichzeitig sein Tablett mit einer
                  Art Seiltänzerkühnheit trägt, wobei er es in einem
                  fortwährend labilen und fortwährend gestörten Gleichgewicht
                  hält, das er mit einer leichten Bewegung des Armes oder der
                  Hand fortwährend wiederherstellt. Seine ganze Verhaltensweise
                  sieht wie ein Spiel aus. Er läßt es sich angelegen sein,
                  seine Bewegungen aneinanderzureihen, als wären sie
                  Mechanismen, die sich gegenseitig antreiben, auch sein
                  Gesichtsausdruck und seine Stimme wirken mechanisch; er legt
                  sich die erbarmungslose Behendigkeit und Schnelligkeit einer
                  Sache bei. Er spielt, er unterhält sich dabei. Aber wem
                  spielt er etwas vor? Man braucht ihn nicht lange zu
                  beobachten, um sich darüber klar zu werden: er spielt,
                  Kaffeehauskellner zu sein. Darin liegt nichts Überraschendes:
                  das Spiel ist eine Weise des Sichzurechtfindens und des
                  Nachforschens. Das Kind spielt mit seinem Körper, um ihn zu
                  erforschen, um eine Bestandsaufnahme zu machen; der
                  Kaffeehauskellner spielt mit seiner Stellung, um sie real
                  zu setzen. (2)
                   Im Grunde ist es eine hohle,
                  verlogene Welt, der sich Sartre in seiner frühen Jugend
                  gegenübergestellt sieht, und was ihn sein Leben lang zutiefst
                  abstoßen wird, ist vor allem jene heuchlerische bürgerliche
                  Gesinnung, die vorgibt an ideale geistige Werte zu glauben,
                  die ihr in Wahrheit längst entschwunden sind:
                   So hat es mit mir
                  angefangen. Ich floh, äußere Kräfte modellierten meine
                  Flucht und machten mich. Hinter einer überholten
                  Kulturauffassung erschien die Religion und diente als Modell.
                  Sie war kindlich, daher einem Kind sehr nahe. Man brachte mir
                  die Biblische Geschichte bei, das Evangelium und den
                  Katechismus, ohne mir die Mittel zu geben, daran zu glauben;
                  das Resultat war eine Unordnung, die sich als meine mir
                  eigentümliche Ordnung entpuppte. Das ging nicht ohne Falten
                  und beträchtliche Abänderungen; das Sakrale wurde aus dem
                  Katholizismus weggenommen und in die Belletristik versetzt,
                  und es erschien der Mann der Feder als Ersatz jenes Christen,
                  der ich nicht sein konnte. Sein einziges Bestreben war das
                  Heil, sein Erdenleben diente nur dazu, daß er sich die
                  postume Glückseligkeit durch würdig ertragene Prüfungen
                  verdiente. Der Tod wurde zu einem Übergangsritus reduziert,
                  und die irdische Unsterblichkeit präsentierte sich als Ersatz
                  des ewigen Lebens. (3) |  
                | 1915 | Besuch des Lycee Henri IV in
                  Paris |  
                | 1916 | Die Mutter verheiratet sich
                  wieder und Sartre zieht mit ihr nach La Rochelle. |  
                | 1917-1919 | Besuch des Gymnasiums in La
                  Rochelle |  
                | 1919-1922 | Besuch des Lycee Louis-le-Grand
                  in Paris |  
                | 1922 | Abitur |  
                | 1926 | Scharfe
                  Selbstkritik zu üben und sich darüber auch sehr offen zu ihm
                  nahestehenden Menschen zu äußern, war Sartre schon in jungen
                  Jahren eigen. In einem Brief an seine langjährige Freundin Simone
                  Jolivet charakterisiert sich Sartre selbst als ehrgeizigen
                  sentimentalen Feigling mit hochentwickelten intellektuellen
                  Fähigkeiten: Mein Charakter ist im Kern
                  sehr heteroklit. Einerseits bin ich äußerst
                  ehrgeizig. Aber in welcher Hinsicht? Ich stelle mir den Ruhm
                  wie einen Ballsaal voller befrackter Herren und dekolletierter
                  Damen vor, die mir zu Ehren ihre Gläser erheben. Das ist
                  sicherlich eine Bilderbuchvorstellung, aber ich habe dieses
                  Bild seit meiner Kindheit in mir. Es lockt mich nicht, doch
                  lockt mich der Ruhm, denn ich möchte weit über den anderen
                  stehen, die ich verachte. Aber vor allem habe ich den Ehrgeiz,
                  schöpferisch zu sein: ich muß gestalten, egal was, nur
                  gestalten; ich habe alles probiert, von philosophischen
                  Systemen (blödsinnigen natürlich, ich war sechzehn) bis zu
                  Symphonien. Mit acht Jahren habe ich meinen ersten Roman
                  geschrieben. Ich kann kein leeres Blatt sehen, ohne daß ich
                  Lust bekomme, etwas draufzuschreiben. Dieses übrigens
                  lächerliche Gefühl der Begeisterung empfinde ich nur bei
                  bestimmten Werken, weil ich mir vorstelle, ich könnte sie
                  nachschaffen, sie selbst schreiben, und so schreibe ich Ihnen
                  heute, weil ich gerade eins gelesen habe und sofort das
                  Bedürfnis hatte, etwas zu gestalten: diesen Brief. Doch mir
                  gefällt nicht, was ich schreibe, ich schreibe nicht in meiner
                  Art, wenn Sie so wollen, ich ändere ständig den Stil und
                  finde mich trotzdem nicht gut. Übrigens mögen mich auch
                  andere deshalb nicht besonders. All das ist sehr banal. Leider
                  kommt hinzu, daß ich im Grunde von Natur aus den Charakter
                  einer kleinen alten Jungfer habe: ich bin — wovon Sie
                  vielleicht keine Ahnung hatten - mit dem Charakter geboren,
                  der zu meinem Aussehen paßt: schrecklich sentimental,
                  blödsinnig sentimental, feige und zimperlich. Meine
                  Sentimentalität ging so weit, daß ich über alles mögliche
                  flennte. Bei Theaterstücken, Filmen, Romanen habe ich geheult
                  wie ein Schloßhund. Ich habe ungerechtfertigte und
                  unglaubliche Anwandlungen von Mitleid gehabt, auch Anfälle
                  von Feigheit, von Charakterschwäche, so daß meine Eltern und
                  Freunde mich eine Zeitlang für den letzten Versager hielten. Das also sind meine beiden
                  Grundtendenzen. Die wesentliche ist der Ehrgeiz. Ich habe mir
                  sehr bald nicht gefallen, und das erste, was ich wirklich
                  gestaltet habe, war mein Charakter. Ich habe an zwei Dingen
                  gearbeitet: an meinem Willen und an der Unterdrückung der
                  zweiten Tendenz, deren ich mich zutiefst schämte. Was den
                  Willen angeht, habe ich mich der Methode der Willkürakte
                  bedient: ohne irgendeinen Grund etwas zu tun, was mir gegen
                  den Strich geht. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: mein erster
                  Willkürakt war, daß ich einen Hut unter die Räder der
                  Straßenbahn von La Rochelle warf, den ich mir vierzehn Tage
                  lang gewünscht und den meine Mutter mir endlich gekauft
                  hatte. Das war idiotisch, aber ich war vierzehn. Ich habe
                  sogar bei dieser Gelegenheit die letzte Ohrfeige von meiner
                  Mutter bekommen. Um meinen Charakter zu bezwingen, habe ich
                  mich bemüht, ihn zu verstecken. Früher war ich sehr
                  mitteilsam, aber das Leben, das man mir in La Rochelle
                  bereitet hat, von dem ich Ihnen erzählt habe, und
                  andererseits mein fester Wille, mich zu ändern, haben mich
                  verschlossen gemacht. Ich sage Ihnen ehrlich: dies ist das
                  erste Mal seit sieben Jahren, daß ich so viel darüber sage,
                  und das kommt daher, daß ich mir meiner selbst jetzt sicher
                  bin. Aber glauben Sie nicht, ich hätte alle diese grotesken
                  Tendenzen in mir erstickt: sie existieren immer noch. Ich bin
                  noch ebenso feige und zimperlich, wie ich war: wenn ein Hund
                  neben mir bellt, zucke ich vor Angst zusammen. Und doch glaube
                  ich, wenn ich den festen Entschluß habe, etwas zu tun,
                  könnte mich keine Angst davon abhalten. Aber daraus folgt: 1. Diese Tendenzen können
                  jeden Augenblick wieder auftauchen, und bei dem Versuch, sie
                  zurückzudrängen, nehme ich die gekünstelte Haltung an, die
                  Sie mir vorwerfen. Ich bin nie ich selbst, weil ich immer
                  versuche, zu modifizieren, neu zu schaffen: ich werde nie das
                  Glück (?) haben, spontan handeln zu können. 2. Wenn ich eine echte
                  Empfindung habe, ein Gefühl, das ich für artikulierbar
                  halte, bin ich absolut unfähig, es auszudrücken: entweder
                  ich stammle, oder ich sage genau das Gegenteil von dem, was
                  ich sagen wollte - oder ich drücke dieses Gefühl mit
                  geschwollenen Sätzen aus, die nichts besagen -, oder aber,
                  und das ist das häufigste, ich äußere gar nichts, ich
                  fliehe vor jeder Äußerung: das ist das klügste. Im übrigen
                  bin ich jetzt natürlich viel sturer, und ich bin nicht mehr
                  so leicht zu erschüttern. Ich habe Ihnen fast alles
                  gesagt; ich füge hinzu, daß ich ein gewisses Charakterideal
                  erreichen muß: moralische Gesundheit, das heißt vollkommenes
                  Gleichgewicht. Ich bin noch sehr weit davon entfernt. Es
                  gelingt mir allerdings, nur noch das, was ich will, nach
                  außen durchscheinen zu lassen. Ich übertreibe. Um absolut
                  ehrlich zu sein: meistens. Beim Schreiben dieser kurzen
                  Analyse fand ich, daß die Bilanz nicht besonders gut
                  ausfällt, und ich hätte hier und da gern ein bißchen
                  beschönigt. Doch ich habe es mir nicht zugestanden, denn wenn
                  ich schon einmal angefangen habe, von mir zu sprechen, ist es
                  besser, es in aller Aufrichtigkeit zu tun. (4)
                 |  
                | 1924-1928 | Studium an der französischen
                  Elite-Hochschule École Normale Supérieure. - Beginn der Freundschaft mit   Simone de Beauvoir,
                  Auch sie entstammt dem gehobenen Bürgertum und teilt Sartres
                  entschiedene Kritik dieser Lebensform. Die Freundschaft
                  mündet  in eine in jeder Hinsicht offene Beziehung. Offen
                  einerseits, in dem sie von unabdingbarer Aufrichtigkeit
                  gegeneinander geprägt war, die auch die tiefsten Tiefen der
                  eigenen Seele dem anderen offenbarte; offen aber anderseits
                  auch für andere Beziehungen, die nebenherliefen: Sartre war nicht zur
                  Monogamie berufen; er war gern in Gesellschaft von Frauen, die
                  er weniger komisch fand als Männer. Er war nicht bereit, mit
                  23 Jahren für immer auf die Freuden der Abwechslung zu
                  verzichten. "Bei uns beiden", erklärte er mir unter
                  Anwendung seines Lieblingsvokabulars, "handelt es sich um
                  eine notwendige Liebe: es ist unerläßlich, daß wir auch die
                  Zufallsliebe kennenlernen." Wir waren von gleicher Art,
                  und unser Bund würde so lange dauern wie wir selbst; er bot
                  jedoch keinen Ersatz für den flüchtigen Reichtum der
                  Begegnungen mit anderen Wesen. Warum sollten wir freiwillig
                  auf die Skala der Überraschungen, der Enttäuschungen, der
                  Sehnsüchte, der Freuden verzichten, die sich uns anboten? (5) Sartre arbeitet zu dieser Zeit
                  an einer Dissertation über »Die Einbildungskraft in der
                  Psychologie« | 
Simone de Beauvoir      
Jean-Paul Sartre, 1946 
                 |  
                | 1929 | Agrégation (Abschlußexamen
                  für die Lehrerlaubnis an Hochschulen) in Philosophie
                  als erster seines Jahrgangs; seine Freundin Simone de Beauvoir
                  schließt als zweite ab und Sartres Freund   Jean Hyppolite als
                  dritter. Von 1926-1930 studierte hier auch  Merleau-Ponty. |  
                | 1929-1931 | Militärdienst als Meteorologe
                  in Tours  |  
                | 1931-1933 | Gymnasiallehrer für Philosophie
                  in Le Havre. Seinem Ideal der Besitzlosigkeit treu, bezieht
                  Sartre ein schlichtes Hotelzimmer im Hafenviertel, wo auch die
                  Arbeiter wohnen. Simone de Beauvoir erhält zur selben Zeit ihre
                  erste volle Lehrverpflichtung als Philosophielehrerin in
                  Marseille. Da es für Ehepaare im öffentlichen Dienst die Möglichkeit
                  gibt, in räumlicher Nähe voneinander beschäftigt zu werden,
                  bietet Sartre ihr die Heirat an, die Simone aber aus Abneigung
                  gegen die Ehe als "beschränkende Verbürgerlichung
                  und institutionalisierte Einmischung des Staates in
                  Privatangelegenheiten" ablehnt. Sartre und Simone de
                  Beauvoir beschließen eine dauernde Verbindung, in der jeder
                  seine Unabhängigkeit behalten und dem anderen ein völlig
                  gleichberechtigter Partner sein soll: Wir
                  schlossen einen weiteren Pakt: weder würden wir einander je
                  belügen noch etwas voreinander verbergen. Die <petits
                  camarades> empfanden den größten Abscheu vor dem
                  sogenannten <Innenleben>. In jenen Gärten, wo die edlen
                  Seelen zarte Geheimnisse hegen, sahen sie nur stinkenden
                  Morast; dort war die heimliche Brutstätte für Lug und Trug,
                  dort labte man sich an den fauligen Wonnen des Narzißmus. Um
                  diese Schatten und Miasmen zu verscheuchen, stellten sie ihr
                  Leben, ihre Gedanken, ihre Gefühle öffentlich zur Schau.
                  Begrenzt wurde dieser Drang nach Zurschaustellung nur durch
                  ihren Mangel an Neugier: wer zu viel von sich sprach,
                  langweilte die anderen. Aber zwischen Sartre und mir galt
                  diese Einschränkung nicht: es wurde also abgemacht, daß wir
                  einander alles sagen würden. Ich war an Schweigen gewöhnt,
                  und die Befolgung dieser Regel fiel mir zunächst schwer. Aber
                  ich begriff schnell ihre Vorteile; ich brauchte mich nicht
                  mehr mit mir selbst auseinanderzusetzen: ein Blick,
                  wohlwollend zwar, aber unparteiischer als mein eigener,
                  lieferte mir von jeder meiner Bewegungen ein Abbild, das ich
                  für objektiv hielt; diese Kontrolle schützte mich vor
                  Ängsten, falschen Hoffnungen, müßigen Zweifeln,
                  Hirngespinsten, den Erregungszuständen, gängigen
                  Begleiterscheinungen der Einsamkeit. Ich trauerte der
                  Einsamkeit nicht nach, im Gegenteil, ich war glücklich, ihr
                  entronnen zu sein. In Sartre konnte ich hineinsehen wie in
                  mich selbst: welche Beruhigung! (6) |  
                | 1933-1934 | Stipendiat am Institut
                  Français
                  in Berlin. Studium der zeitgenössischen deutschen
                  Philosophie, namentlich   Husserls  Phänomenologie und  Heideggers
                  Existenzphilosophie, aber auch der Philosophie  Friedrich
                  Nietzsches und der dialektischen Methode  Hegels, der er sich
                  später meisterhaft zu bedienen wußte. Sartres Denken
                  unterscheidet sich aber insofern von seinen deutschen
                  Vorbildern, als er seine phänomenologische Ontologie innerhalb
                  der streng rationalistischen cartesischen Tradition ansiedelt
                  und dadurch seinem Existenzialismus das typisch französische
                  Gepräge gibt. Sartre wird sich
                  später strikt auf das rein phänomenologisch  Erfahrbare
                  und rational Beschreibbare stützen und daher etwa den Physiker vorwerfen,
                  daß sie in ihrer Hypothesenbildung unberechtigterweise über
                  das phänomenologisch Gegebene hinausgehen. Aus dem gleichen
                  Grund lehnt Sartre später auch  Sigmund Freuds 
                  irrationalen Begriff des
                  Unbewußten und seine darauf gestützte Trieblehre als pure
                  unverifizierbare Hypothesen ab und setzt statt dessen seinen
                  Begriff der Nicht-Aufrichtigkeit (mauvaise
                  foi) zu sich selbst, der Selbsttäuschung: Da ist zum Beispiel eine Frau,
                  die zu einem ersten Rendezvous geht. Sie kennt sehr genau die
                  Absichten, die der Mann, der mit ihr spricht, in bezug auf sie
                  hat. Sie weiß auch, daß sie sich früher oder später
                  irgendwie entscheiden muß. Aber sie will von dem Drängen
                  nichts merken: sie hält sich allein an das, was die Haltung
                  ihres Partners an Respektvollem und Zurückhaltendem sehen
                  läßt. Sie faßt dieses Verhalten nicht als einen Versuch
                  auf, das ins Werk zu setzen, was man «die ersten
                  Annäherungen» nennt, das heißt, sie will die Möglichkeiten
                  zeitlicher Fortentwicklung nicht sehen, die diese Haltung in
                  sich trägt: sie schränkt dieses Benehmen auf das ein, was es
                  in der Gegenwart ist, sie will aus den Worten, die man an sie
                  richtet, nichts anderes heraushören als ihren offenbaren
                  Sinn; wenn man zu ihr sagt: «Ich bewundere Sie so sehr», so
                  nimmt sie diesem Satz seinen sexuellen Hintergrund, sie legt
                  dem Gespräch und dem Benehmen ihres Partners unmittelbare
                  Bedeutung bei, die sie wie objektive Eigenschaften betrachtet.
                  Der Mann, der mit ihr redet, erscheint ihr aufrichtig und
                  respektvoll, so wie der Tisch rund oder viereckig, so wie die
                  Wand blau oder grau gemalt ist. Und die Eigenschaften, die in
                  dieser Weise der Person, der sie zuhört, beigelegt worden
                  sind, erstarren zu einer dinglichen Fortdauer, die nichts
                  anderes ist als die Projektion ihrer strikten Gegenwart auf
                  den zeitlichen Ablauf. Sie weiß also nicht über das
                  Bescheid, was sie wünscht: sie ist zutiefst empfänglich für
                  die Begierde, die sie erregt, aber diese rohe und unverhüllte
                  Begierde würde sie erniedrigen und würde bei ihr Abscheu
                  hervorrufen. Indessen würde sie nichts Reizvolles an einem
                  Respekt finden, der einzig und allein Respekt wäre. Um sie
                  zufriedenzustellen, bedarf es eines Gefühls, das sich
                  ungeteilt an ihre Person wendet, das heißt an ihre
                  vollkommene Freiheit, und das eine Anerkenntnis ihrer Freiheit
                  ist. Aber gleichzeitig muß dieses Gefühl ganz und gar
                  Begierde sein, das heißt, es muß sich an ihren Körper als
                  Gegenstand der Begierde wenden. In unserem Falle weigert sie
                  sich also, die Begierde als das aufzufassen, was sie ist, sie
                  gibt ihr nicht einmal einen Namen, sie erkennt sie nur in dem
                  Maße, in dem die Begierde sich in Richtung auf die
                  Bewunderung, die Hochschätzung, den Respekt transzendiert, so
                  daß sie nur noch als eine Art von Wärme und Verdichtung der
                  Situation erscheint. Aber jetzt ergreift man ihre Hand. Diese
                  Handlung ihres Gesprächspartners enthält die Gefahr, die
                  Situation zu verändern, indem sie zu einer unmittelbaren
                  Entscheidung aufruft: dem Manne diese Hand überlassen heißt:
                  dem Flirt von sich aus zuzustimmen, sich darin zu engagieren.
                  Sie zurückziehen heißt, die unklare und schwankende Harmonie
                  zu zerstören, die den Reiz der Stunde ausmacht. Es kommt
                  darauf an, den Augenblick der Entscheidung so weit wie
                  möglich hinauszuschieben. Man weiß, was nun geschieht: die
                  junge Frau überläßt ihm ihre Hand, aber sie merkt nicht,
                  daß sie sie ihm überläßt. Sie merkt es nicht, weil es sich
                  zufällig so fügt, daß sie in diesem Augenblick ganz Geist
                  ist. Sie reißt ihren Partner mit fort bis in die höchsten
                  Höhen empfindsamer Spekulation, sie redet vom Leben im
                  allgemeinen, von ihrem Leben im besonderen; sie zeigt sich von
                  ihrer wesenhaften Seite: eine klare bewußte Persönlichkeit.
                  Und inzwischen vollendet sich die Trennung von Leib und Seele;
                  die Hand ruht regungslos zwischen den warmen Händen ihres
                  Partners: weder zustimmend noch widerstrebend - eine Sache. (7) |  
                | 1934-1936 | Gymnasiallehrer für Philosophie
                  in Le Havre | 
Sartre als Soldat, 1939            "To be or not to be"          
Sartre mit Simone de Beauvoir, 1947          
Sartre mit Simone de Beauvoir in Schweden, 1954      
Szene aus "Huis
                  Clos"    
"Die Fliegen"Skizze von Herta Böhm für die deutsche Erstaufführung 1947 am Schauspielhaus Düsseldorf unter der Regie von Gustav Gründgens
      
Albert Camus, 1959/1960      
Sartre und Simone de Beauvoir in Rio de Janeiro, 1960
 |  
                | 1936 | L 'Imagination
                  (Über die Einbildungskraft)La Transcendance de l'ego. Esquisse d'une description
                  phénomenologique (Die Transzendenz des Ego. Versuch einer
                  pänomenologischen Beschreibung)
 |  
                | 1936-1937 | Gymnasiallehrer für Philosophie
                  in Laon |  
                | 1937-1939 | Lehrer für Philosophie am Lycee
                  Pasteur in Paris. - Mitarbeit an verschiedenen Zeitschriften
 |  
                | 1938 | La Nausee (Der Ekel)
                  - ein Roman, der die Freiheit, aber auch die Einsamkeit des
                  Menschen schildert. |  
                | 1939 | Esquisse d'une theorie des
                  emotions (Entwurf einer Theorie der Emotionen) Le Mur (Die Mauer).
 Sartre wird als Krankenträger
                  zum Kriegsdienst einberufen.
 |  
                | 1940 | Juni: Sartre kommt in deutsche
                  Kriegsgefangenschaft. - L'lmaginaire. Psychologie phénoménologique de
                  l'imagination (Das Imaginäre. Phänomenologische
                  Psychologie der Einbildungskraft)
 |  
                | 1941 | April: Flucht aus der
                  Gefangenschaft. Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit am Lycee
                  Pasteur |  
                | 1942-1944 | Professor am Lycee Condorcet in
                  Paris. Aktive Mitarbeit in der Widerstandsbewegung |  
                | 1943 | Mit seinem ersten
                  philosophischen Hauptwerk L'Être
                  et le Néant (Das Sein und das Nichts - Versuch einer
                  phänomenologischen Ontologie) begründet
                  Sartre seinen atheistisch geprägten Existenzialismus, der die
                  absolute Freiheit des Menschen, zugleich aber auch seine
                  absolute eigene Verantwortung für die Welt betont - ohne
                  Gott, ohne Gnade - und auch ohne Reue: der Mensch ist das, was
                  er selbst aus sich macht.  Anders
                  als den Dingen draußen im Raum kommt dem Menschen nicht von
                  vorneherein ein vorgegebenes naturhaftes Wesen, kein An-sich
                  zu. Oder anders gesagt: das menschliche Da-sein, seine
                  Existenz, geht seinem Wesen, seinem So-sein, seiner
                  Essenz, die er sich selbst erst im Laufe des Lebens schafft,
                  voraus. Ja, der Mensch vernichtet in sich das
                  naturhafte Sein, bringt so das Nicht-Sein, das Nichts
                  in die Welt, und gewinnt gerade dadurch den Freiraum, er
                  selbst zu werden und sich dabei zugleich seiner selbst bewußt
                  zu werden: Das Bewußtsein ist nicht, was es ist, und es
                  ist, was es nicht ist - so oder ähnlich hat das
                  Sartre auf scheinbar ganz paradoxe Weise wiederholt
                  formuliert. Dieses Nichts, das sind die noch unverwirklichten
                  Möglichkeiten, die dem Menschen offenstehen, und durch die er
                  sein momentanes Sein, das er als Ergebnis seiner Vergangenheit
                  bereits geworden ist, jederzeit transzendieren, überschreiten
                  kann, indem er sie durch sein Tun faktisch verwirklicht und
                  sich selbst damit zu einem neuen Sein umschafft. Das ist ein
                  lebenslang unaufhaltbarer dynamischer Prozeß der Selbst-gestaltung,
                  der Selbst-verwirklichung, der erst mit dem Tod endet,
                  durch den das Leben in dem faktischen Dasein der abgelebten
                  Lebensgeschichte nun für immer unabänderlich erstarrt. Dabei erlebt sich der Mensch
                  zunächst als Subjekt in einer ihn umgebenden Welt von
                  Objekten - das ist ganz cartesianisch gedacht. Aber der Mensch ist als Subjekt nicht für sich
                  alleine in der Welt, sondern erlebt sich zusammen mit anderen
                  Menschen. Das wesentliche Erlebnis dabei ist, von den anderen
                  gesehen, erblickt, betrachtet zu werden. Sartre äußert sich
                  darüber  in dem zentralen Abschnitt über den  Blick (le
                  regard) so: Kurz,
                  das, worauf sich meine Auffassung des anderen in der Welt als wahrscheinlich
                  ein Mensch seiend bezieht, ist meine ständige
                  Möglichkeit, von-ihm-gesehen-zu-werden, das heißt, die
                  ständige Möglichkeit für ein Subjekt, das mich sieht, sich
                  an die Stelle des von mir gesehenen Objektes zu setzen. Das «Vom-anderen-gesehen-werden»
                  ist die Wahrheit des «den-anderen-Sehens». Demnach kann
                  der Begriff des anderen unter keinen Umständen ein allein
                  seiendes und außerweltliches Bewußtsein meinen, das ich
                  nicht einmal denken kann: der Mensch wird in bezug auf die
                  Welt und in bezug auf mich selbst definiert... (8) Und
                  weiter: Niemals
                  kann man Augen, die einen ansehen, schön oder häßlich
                  finden, kann man ihre Farbe feststellen. Der Blick des anderen
                  verbirgt seine Augen, er scheint vor ihnen zu stehen... Ich
                  kann also meine Aufmerksamkeit nicht auf den Blick lenken,
                  ohne daß meine Wahrnehmung sich im gleichen Augenblick
                  auflöst und in den Hintergrund tritt. Es geschieht hier etwas
                  demjenigen Analoges, was ich an anderer Stelle zum Thema des
                  Eingebildeten (L'Imaginaire) zu zeigen versucht habe;
                  wir können, sagte ich dort, nicht gleichzeitig wahrnehmen und
                  einbilden, es kann nur das eine oder das andere sein. Hier
                  würde ich gerne sagen: wir können nicht die Welt wahrnehmen
                  und gleichzeitig einen auf uns gehefteten Blick erfassen; es
                  kann nur das eine oder das andere geschehen. Wahrnehmen ist
                  nämlich erblicken, und einen Blick erfassen ist nicht
                  ein Blick-Objekt in der Welt auffassen (es sei denn, dieser
                  Blick wäre nicht auf uns gerichtet), es ist vielmehr
                  Bewußtsein davon erlangen, erblickt zu werden. Der Blick, den
                  die Augen offenbaren, von welcher Art sie auch sein mögen,
                  ist reine Verweisung auf mich selbst. (9) Erblickt-zu-werden
                  ist dabei kein bloß neutraler Vorgang, er ist wertend und
                  immer auch ein Ertappt- oder Beurteilt-werden, ein Verurteilt-
                  oder Anerkannt-werden. Das Auge des anderen wird so zu einem
                  Spiegel in dem ich mich selbst so erblicke, wie mich der andere
                  sieht. Ich blicke vielleicht gerade heimlich durch ein
                  Schlüsselloch; während ich so hindurchstarre, bin ich ganz
                  dem hingegeben, was ich dabei verbotenerweise sehe, bin gar
                  nicht bei mir selbst, sondern ganz in der Welt draußen.
                  Plötzlich werde ich ertappt, werde von einem anderen
                  erblickt, und durch dieses Erblickt-werden beginne ich mich zu
                  schämen. Diese Scham verweist mich auf mich selbst, ich
                  erkenne mich als das, was ich bin - ein heimlicher Spanner. So
                  wird mir durch den Blick des anderen mein eigenes Sein
                  offenbar. Indem sich mein Selbstbewußtsein am Blick des anderen entzündet, ja durch ihn geschenkt wird, werde ich mir
                  aber zugleich der tragischen Abhängigkeit von diesem anderen
                  bewußt - die Kernaussage von "Huis Clos" ist so
                  nicht mehr fern: "die Hölle, das sind die
                  andern." (12) In "Huis Clos"
                  geht Sartre über seinen ersten theoretischen Ansatz hinaus,
                  indem sehr deutlich wird, daß es keineswegs gleichgültig ist
                  wer uns anblickt: der, dem wir das kompetenteste Urteil
                  über uns selbst zugestehen, nimmt uns zugleich auch am
                  meisten gefangen, von ihm machen wir uns am stärksten
                  abhängig. In "Der Teufel und der liebe Gott" stellt
                  sich das so dar: GÖTZ:
                  Hilda, ich brauche das Urteil eines anderen. Jeden Tag, jede
                  Stunde verurteile ich mich, aber es gelingt mir nicht, mich zu
                  überzeugen, weil ich mich zu gut kenne, um mir zu trauen. Ich
                  sehe meine Seele nicht mehr, weil ich sie vor der Nase habe: Jemand
                  muß mir seine Augen leihen.HILDA: Nimm meine.
 GÖTZ: Du siehst mich auch nicht: Du liebst mich.
                  Heinrich haßt mich, darum kann er mich überzeugen: Wenn
                  meine Gedanken aus seinem Mund kommen, glaube ich daran. (18)
 Vielleicht wird in dieser ganzen Situation des Erblickt-werdens aber auch eine leise Tartufferie 
                  sichtbar, in die wir verfallen könnten: Und
                  schließlich sündigt man im tiefsten Sinn nur dann, wenn es
                  die böse Welt erfährt: geheime Sünde ist nicht tadelnswert.
                  (14) Erblickt-zu-werden
                  stellt für Sartre gewissermaßen den eigentlichen Sündenfall
                  dar. Entrinnen
                  kann ich dieser ganzen Situation nur, indem ich mir meiner eigenen
                  Freiheit bewußt werde, der Möglichkeit, das Sein, das mir
                  durch den anderen zugebilligt wird und in dem er mich
                  erstarren lassen will, zu transzendieren, zu überschreiten. In diesem
                  eigenverantwortlichen Entwerfen meiner  Möglichkeiten
                  erfahre ich mich in einem höheren Sinn als Selbstheit und
                  befreie mich von der Versklavung durch den anderen - aber der
                  Sieg bleibt doch stets ein fragwürdiger, da die Bedrohung
                  durch den anderen niemals endet. 
                   Les Mouches (Die Fliegen) thematisiert das Thema
                  der Freiheit und war zugleich ein versteckter Protest gegen
                  die deutsche Besatzung - allerdings offenbar so versteckt,
                  daß das Stück die deutsche Zensur passieren konnte: Wenn erst
                  einmal die Freiheit in einer Menschenseele aufgebrochen ist,
                  vermögen die Götter nichts mehr gegen diesen Menschen. (10) Juptier zu Ägist in
                "Die Fliegen", Zweites Bild, 5. SzeneSartre wird Mitglied des "Comité National des
                  Ecrivains" (C.N.E.), das der Résistance nahesteht. |  
                | 1944 | Sartre arbeitet bei der von  Albert
                  Camus gegründeten Zeitschrift "Combat" mit. |  
                | 1945 | Sartre gibt den Lehrerberuf
                  endgültig auf und
                  lebt seitdem als freier Schriftsteller im Quartier
                  Saim-Germain-des-Pres in Paris und arbeitet als Amerika-Korrespondent für die Zeitungen »Combat« und »Figaro«. -  Sehr scharf
                  unterscheidet Sartre zwischen Dichtung und Literatur und tritt
                  entschieden für eine "Littératur engagée"
                  ein: Dichter sind
                  Leute, die sich weigern, die Sprache zu benutzen...
 Tatsächlich hat der Dichter sich entschlossen von der
                  Sprache als Instrument zurückgezogen; er hat ein für allemal
                  die dichterische Haltung gewählt, die die Wörter als Dinge
                  und nicht als Zeichen betrachtet. Denn die Doppeldeutigkeit
                  des Zeichens schließt ein, daß man es nach Belieben wie eine
                  Glasscheibe durchdringen und daß man durch das Zeichen
                  hindurch das bezeichnete Ding verfolgen kann, oder daß man
                  den Blick auf seine Realität richten und es als Objekt
                  betrachten kann. Der sprechende Mensch steht jenseits der
                  Wörter, bei dem Objekt; der Dichter steht diesseits der
                  Wörter. Für ersteren sind die Wörter Diener, für letzteren
                  bleiben sie in einem Zustand der Wildheit. Für jenen handelt
                  es sich um zweckdienliche konventionelle Formen, um Werkzeuge,
                  die sich allmählich abnutzen und die man wegwirft, wenn sie
                  einem nicht mehr dienen können; beim zweiten handelt es sich
                  um naturgegebene Dinge, die ganz natürlich auf der Erde
                  wachsen wie das Gras und die Bäume. (11)
 
 Gründung und Leitung der
                  politisch-literarischen Zeitschrift «Les Temps Modernes». - Der Versuch der Gründung einer nichtkommunistischen
                  Linkspartei, des «Rassemblement Democratique Revolutionnaire»,
                  schlägt fehl. -
 Reise in die USA. -
 
 
                  
                  L'Âge
                  de raison. Les Chemins de la liberté. T.1. (Zeit der
                  Reife. Die Wege der Freiheit. Bd.1.) Le Sursis. Les Chemins de la liberté. T.2. (Der Aufschub. Die Wege der
                  Freiheit. Bd.2.)
 Huis clos (Geschlossene Gesellschaft):
 Also
                  das ist die Hölle. Ich hätte es nie geglaubt ... Wißt ihr
                  noch: Schwefel, Scheiterhaufen, Rost... Was für Albernheiten.
                  Ein Rost ist gar nicht nötig, die Hölle, das sind die
                  andern. (12) Garcin
                  in "Geschlossene Gesellschaft""Die Hölle, das sind die andern" — insofern , als man sich von Geburt an in einer Situation, in die man geworfen wurde, befindet, eine Situation, die einen zwingt, sich unterzuordnen. Sie können als Sohn eines Reichen oder eines Algeriers oder eines Arztes oder eines Amerikaners zur Welt kommen. Von Anfang an ist Ihre Zukunft vorgezeichnet, eine Zukunft, die andere für Sie geschaffen haben; die anderen haben Sie zwar nicht direkt geschaffen, aber Sie sind Teil einer Gesellschaftsordnung, die aus Ihnen macht, was Sie sind. Wenn Sie Sohn eines Bauern sind, dann zwingt die Gesellschaftsordnung Sie, in die Stadt zu gehen, wo Maschinen auf Sie warten, zu deren Bedienung Leute gebraucht werden wie Sie. Also ist es Ihr Schicksal, ein bestimmter Typ Arbeiter zu werden, ein Kind vom Land, das durch eine bestimmte Art kapitalistischen Drucks aus seinem Heimatort vertrieben wurde. Die Fabrik ist eine Funktion Ihres Seins, aber was ist es denn genau, Ihr "Sein"? Es ist die Arbeit, die Sie tun, eine Arbeit, die Sie völlig beherrscht, weil sie Sie verschleißt — während gleichzeitig Ihr Lohn es ermöglicht, Sie genau nach Ihrem Lebensstandard zu klassifizieren. Dies alles ist Ihnen von den anderen aufgezwungen worden. Die "Hölle" ist der angemessene Ausdruck, um diese Art Dasein zu beschreiben. Nehmen Sie doch nur ein Kind, das zwischen 1930 und 1935 in Algerien geboren wurde. Tod und Folter waren in sein Schicksal eingeschrieben. Auch das ist Hölle.
                  (13) Da Sartre sich in
                  vielen Diskussionen sehr energisch für den Kommunismus
                  engagierte, kam es zum Bruch mit Raymond Aron, André Gide, André Malraux und anderen. |  
                | 1946 | L'Existentialisme est un
                  humanisme  (Ist der Existentialismus ein Humanismus?) Reflexions sur la queslion juive  (Betrachtungen zur Judenfrage.
                  Psychoanalyse des Antisemitismus)
 Morts sans sépulture  (Tote ohne Begräbnis)
 La Putain respectueuse (Die ehrbare Dirne)
 | 
Jean-Paul Sartre, 1949 |  
                | 1947 | Situations I. Baudelaire.
 Les
                  Jeux sont faits (Das Spiel ist aus)
 2.
                  Juni: Philosophisches Streitgespräch, u.a. mit   Jean
                  Hyppolite,
                  in der Société Française de
                  Philosophie über das Thema «Conscience de soi et
                  connaissance de soi» (Bewußtsein und Selbsterkenntnis).
                  Darin wird besonders Sartres ablehnende Haltung gegen den
                  psychoanalytischen Begriff des Unbewußten deutlich: Es
                  gibt da eine Illusion der Psychoanalytiker. In allen Fällen,
                  in denen man sich auf das Unbewußte beruft, könnte man sich
                  auf andere Begriffe berufen; und selbst, wenn bestimmte dieser
                  Begriffe nicht so umfassend wären, müßte man den Begriff
                  des Unbewußten korrigieren und alle Schwierigkeiten sehen,
                  die er nach sich zieht... Ich frage zunächst, ob man
                  nicht auf andere Weise als durch das Unbewußte über
                  Tatsachen Rechenschaft geben kann, die man dem Unbewußten
                  zuschreibt; und ich stelle fest, daß in vielen Fällen
                  Begriffe, die Begriffe des reinen Bewußtseins sind, wie die Unaufrichtigkeit
                  [mauvaise foi], viel besser über bestimmte innere Dialektiken
                  Rechenschaft geben können als ein Unbewußtes, das ja nur als
                  exklusiver Typ von Tatsachen, die sich nebeneinander
                  präsentieren, aufgefaßt werden kann, und nicht als
                  Dialektik... Entweder akzeptieren wir
                  eine Theorie des Bewußtseins, das durch und durch Bewußtsein
                  ist, und müssen das Unbewußte ablehnen; oder wir gehen von
                  der entgegengesetzten Idee aus, und das Bewußtsein
                  verschwindet, wird unerklärlich, wie in allen psychologischen
                  Abhandlungen, die ich gelesen habe oder kenne. Es wird ein
                  Zettel, den man von Zeit zu Zeit an ein Phänomen hängt, das
                  bald bewußt, bald unbewußt ist; das ist völlig
                  unbegreiflich, da jede psychische Tatsache als Seinsdimension
                  nur das anfängliche Sein haben kann... (15) |  
                | 1948 | Der Vatikan setzt Sartres Werke auf den
                  «Index librorum prohibitorum».
                  - Sartre diskutiert in Berlin öffentlich über seine
                  Philosophie und sein Schaffen. -
 Situations II.
 Les Mains sales (Die scmutzigen Hände) - thematisiert die
                  problematische Beziehung von Politik und Moral.
 L'Engrenage (Im Räderwerk)
 |  
                | 1949 | Situations III. La Mort dans l'âme.
                  Les Chemins
                  de la liberté. T.3. (Der Pfahl im Fleische. Die Wege der
                  Freiheit. Bd.3.)
 | 
"Le Diable et le bon
                  Dieu"Vorbereitung zur Pariser Aufführung mit  Pierre Brasseur als Götz
 |  
                | 1950 | Sartre spricht in Frankfurt a.
                  M. - Reisen nach Afrika und Italien
 |  
                | 1951 |  Le
                  Diable et le bon Dieu (Der Teufel und der liebe Gott) - der
                  Mensch in der Auseinandersetzung mit seinen Mitmenschen, auf
                  der Suche nach sich selbst und nach dem Absoluten, von dem
                  sich schließlich herausstellt, das es das nicht gibt: Ich
                  flehte, ich bettelte um ein Zeichen, ich sandte dem Himmel
                  Botschaften: Keine Antwort. Der Himmel kennt nicht einmal
                  meinen Namen. Ich habe mich jede Minute gefragt, was ich in
                  Gottes Augen sein könnte. Jetzt weiß ich die Antwort:
                  Nichts. Gott sieht mich nicht. Gott hört mich nicht, Gott
                  kennt mich nicht. Siehst du diese Leere über unseren Köpfen?
                  Das ist Gott. Siehst du diesen Spalt in der Tür? Das ist
                  Gott. Siehst du das Loch in der Erde? Auch das ist Gott. Das
                  Schweigen ist Gott. Die
                  Abwesenheit ist Gott. Gott ist die Einsamkeit des Menschen.
                  Nur ich war da: Ich habe allein über das Böse entschieden;
                  allein habe ich das Gute gefunden. Ich habe gemogelt, ich habe
                  Wunder getan, ich klage mich heute an, ich allein kann mich
                  freisprechen; ich, der Mensch. Wenn
                  Gott existiert, ist der Mensch nichts; wenn  der
                  Mensch existiert ... (16) Götz,
                  der "Held" des Dramas, ist gleichsam Sartres "Faust".
                  Das Reich
                  des Menschen ist angebrochen - aber es ist kein
                  Reich, das große Hoffnungen verspricht, wenn Götz sagt: Die
                  Menschen von heute werden als Verbrecher geboren. Ich muß
                  meinen Anteil an ihren Verbrechen einfordern, wenn ich meinen
                  Anteil an ihrer Liebe und ihren Tugenden haben will. Ich wollte
                  die reine Liebe: Wie albern! Sich lieben heißt denselben
                  Feind hassen: Ich werde mir also euren Hass zu eigen machen. Ich
                  wollte das Gute: Wie töricht! Auf dieser Erde und in dieser Zeit
                  sind Gut und Böse untrennbar: Ich bin bereit, böse zu
                  sein, um gut zu werden. (17) |  
                | 1952 | Sartre wird
                  Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs, akzeptiert öffentlich
                  die "führende Rolle der Sowjetunion" in der
                  Weltpolitik und nimmt am kommunistischen «Völkerkongreß
                  für den Frieden» in Wien teil. - Öffentliche Auseinandersetzung
                  mit seinem ehemaligen Freund und späteren philosophischen und
                  politischen Gegner
  Albert
                  Camus. - Saint
                  Genet, comédien et martyr (Saint Genet, Komödiant und
                  Märtyrer)
 | 
 Sartre am kommunistischen «Völkerkongreß
                  für den Frieden» in Wien.    
Jean-Paul Sartre in Wien, 1952    
Gustave Flaubert
                  (1821-1880)      
Jean-Paul Sartre in den siebziger Jahren |  
                | 1953 | Sartre spricht in Freiburg i. B.L'Affaire Henri Martin (Wider das Unrecht)
 |  
                | 1954 | Kean.
                  Adaptation de la comédie d'Alexandre Dumas (Kean oder
                  Unordnung und Genie. Ein Stück nach Alexandre Dumas) |  
                | 1954-1955 | Reise nach Rußland und China |  
                | 1956 | Sartre
                  distanziert sich von  der Kommunistischen Partei und protestiert öffentlich
                  gegen das   sowjetische Vorgehen in Ungarn (Le Fantôme
                  de Staline). - Nekrassov (Nekrassow)
 |  
                | 1960 | Reise nach Kuba. -    
                  
 
                  Critique
                  de la raison dialectique,   T.1. (Kritik
                  der dialektischen Vernunft, Bd.1.) - Sartres zweites
                  philosophisches Hauptwerk.  
                  
                  Les
                  Sequestrés d'Altona (Die Eingeschlossenen von Altona) |  
                | 1961 |    Merleau-Ponty
                  vivant |  
                | 1962 | Marxisme et
                  existentialisme. Controverse sur la dialectique
                  (Existentialismus und Marxismus. Eine Kontroverse zwischen
                  Sartre, Garaudy, Hyppolite, Vigier und Orcel) |  
                | 1964 |    The Nobel Prize in Literature 1964 "for his work which, rich in ideas and filled with the spirit of freedom and the quest for truth, has exerted a far-reaching influence on our age"
 Sartre erhält den Nobelpreis
                  und lehnt ihn aus "persönlichen und objektiven
                  Gründen" ab - das Nobelpreiskomitee erklärt
                  aber die Entscheidung für Sartre als unwiderruflich.  
                  
                  SituationsIV  bis  VI. Les Mots (Die Wörter) - Sartres autobiographischer
                  Bericht über seine Jugendzeit.
 Qu'est-ce que la littérature? (Was ist Literatur? -
                  Separatdruck aus Situations II)
 |  
                | 1965 | Siluations VII. Euripide: Les
                  Troyennes (Die Troerinnen des Euripides)
 |  
                | 1968 | Während der Pariser
                  Studentenunruhen leiht Sartre dem Protest seine Stimme, zieht
                  sich aber nach und nach resigniert aus dem politischen Leben
                  zurück. |  
                | 1970 | Bariona, ou le Fils du
                  tonnerre (Bariona oder der Donnersohn) |  
                | 1971 | L 'Idiot de la famille,
                  T.
                  I und II (Der Idiot der Familie, Bde. 1 und 2) Diese großangelegte Psychographie und Interpretation
  Flauberts
                  sollte das letzte literarische Vermächtnis Sartres werden. |  
                | 1972 | Situations VIII und IX. L'Idiot de la famille, Bd. III  (Der
                  Idiot der Familie, Bd.3)
 |  
                | 1973-1974 | Sartre leitet die links
                  orientierte Tageszeitung "Libération". |  
                | 1974 | Besuch bei  Andreas
                  Baader im Gefängnis Stuttgart-Stammheim; Sartre
                  meint, daß er "aufrichtig versucht habe, Prinzipien
                  in die Tat umzusetzen". |  
                | 1975 | Anläßlich Sartres 70.
                  Geburtstages würdigt die Weltpresse in zahlreichen Artikeln
                  das Lebenswerk des "eigenwilligen Revolutionärs". |  
                | 1976 | Situations
                  XSartre wird die Ehrendoktorwürde der Hebräischen
                  Universität Jerusalem zuerkannt.
 |  
                | 1980 |  15. April: Jean-Paul
                  Sartre stirbt in Paris |  
                | 1981 | Simone de Beauvoir
                  veröffentlicht das Buch La Cérémonie des adieux,
                  suivi de Entretiens avec Jean-Paul Sartre  (Die
                  Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre),
                  in dem sie völlig offen und mit schonungsloser Authentizität
                  über die letzten Lebensjahre und das Siechtum Sartres
                  berichtet. La Dernière Chance. Les
                  Chemins de la liberté. T.4. (Die letzte Chance. Die Wege
                  der Freiheit. Bd.4.)
                   |  
                | 1983 | Cahiers
                  pour une morale
                   Herausgabe von Sartres Briefen
                  unter dem Titel Lettres au Castor et à quelques
                  autres  (Briefe an Simone de Beauvoir und andere) durch Simone de Beauvoir. |  
                | 1984 | Le Scénario Freud
                  (Freud. Das Drehbuch)
                   |  
                | 1985 | Critique de la raison
                  dialectique, T.2. (Kritik
                  der dialektischen Vernunft, Bd.2.)  |  
                |  |  |  
                | 
 Literatur
                    zit. nach Walter Biemel, Sartre,
                      Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, 28. Aufl., Reinbeck bei
                      Hamburg 1998, S 9Jean-Paul Sartre,  Das Sein und das
                      Nichts, Rowohlt Verlag, Hamburg 1989, S 106Jean-Paul Sartre,  Die Wörter,
                      Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck bei
                      Hamburg 1997, S141Jean-Paul Sartre,  Briefe an Simone de
                      Beauvoir 1, 1926-1939,
                      Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck bei
                      Hamburg 1984, S 9ffSimone de Beauvoir, In den besten
                      Jahren, Reinbeck 1961, S 23 Ebd., S 24Sartre 1989, a.a.O., S 101fEbd., S 343Ebd., S 344fJean-Paul Sartre, Die Fliegen,
                      1943, Zweites Bild, 5. SzeneJean-Paul Sartre, Was ist
                      Literatur?, Hamburg 1958, S 11Jean-Paul Sartre,  Geschlossene
                      Gesellschaft, 1945, letzte SzeneSartre im Interview mit dem Magazin Playboy, 1965Jean
                      Baptiste Moliere, Tartuffe, 4. Aufzug, 5. SzeneJean-Paul Sartre,  Bewußtsein und
                      Selbsterkenntnis,
                      Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck bei
                      Hamburg 1986, 74ffJean-Paul Sartre,  Der Teufel und der
                      liebe Gott, 4. Aufl., Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck bei
                      Hamburg 2001, S 158Ebd. S 163Ebd. S 152 |  |