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Chronik  Grundlegendes  Gruppengeist  Odyssee  Probenarbeit

Keiner sei gleich dem andern, doch gleich sei jeder dem Höchsten.
Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.

(Friedrich Schiller)


Das Gelbe vom Ei


oder Phönix aus der Asche

Lebendige Schauspielkunst als Weg der kreativen Selbsterschaffung 
oder wie man möglichst gedankenlos ein Schauspiel inszeniert!

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Die seelische Atmosphäre

Viele Wege und wohl noch mehr Irrwege gibt es, ein Schauspiel für die Bühne zu gestalten. Hier wird ein Weg beschrieben, der auf den ersten Blick unkonventionell, ja vielleicht sogar absurd erscheinen mag, der sich aber als geeignet erwiesen hat, den verborgenen tieferen seelisch-geistigen Gehalt eines dramatischen Werkes, sei es nun Komödie oder Tragödie, wirkungsvoll durch die lebendig sich bildende künstlerische Form dem Publikum zu offenbaren und der zugleich die lebendige Quelle für die beständige kreative Weiterentwicklung der Schauspieler ist. Rein äußerlich mag sich eine auf diesem Weg entwickelte Inszenierungen wenig von anderen unterscheiden - dem feiner empfindenden Zuschauer wird aber jene eigentümliche seelische Atmosphäre nicht entgehen, durch die er in glücklichen Momenten geistig intimer und unmittelbarer in das Geschehen einverwoben wird, als das gewöhnlich der Fall ist. Was also unterscheidet unseren Weg von herkömmlichen Ansätzen?

Der Text als Inhalt

Das gründliche Textstudium steht bei der herkömmlichen Regiearbeit am Anfang. Auch bei dem hier skizzierten Weg ist der Text im Mittelpunkt. Daran, wie sich das Textstudium im einzelnen gestalten soll, wird aber sofort der Unterschied deutlich:

Franz Marc, Kämpfende Formen, 1914
Franz Marc, Kämpfende Formen, 1914
Die Mission der Atmosphäre

Wie bekannt, gehört die Kunst eigentlich in die Gefühlssphäre, und der Vergleich trifft sicher zu, wenn wir die Atmosphäre als das Herr jeglichen Kunstwerks, also auch des Schauspiels, bezeichnen. Die Mission der Atmosphäre läßt sich am besten in einem Vergleich charakterisieren.

Der Mensch ist ein dreigliedriges Wesen: Gedanken (Imaginationen), Gefühle und Willensimpulse verbinden sich in ihm harmonisch durch ihre Wechselwirkung. Stellen Sie sich einen Augenblick lang ein Menschenwesen vor, in dem die Gefühlsfunktion ganz fehlt und nur Wille und Gedanken lebendig sind. Welchen Eindruck werden Sie von einem solchen Wesen bekommen? Es wird Ihnen als eine verstandbegabte, höchst raffinierte und komplizierte Maschine erscheinen. Das ist aber schon kein Mensch mehr. Denken und Wollen sinken auf eine untermenschliche Stufe herab, wenn sie unmittelbar, d. h. ohne gefühlsmäßige Durchdringung zusammenwirken. Es entsteht eine Tendenz zur Destruktivität. An Beispielen herrscht kein Mangel, es gibt sie im persönlichen wie auch im gesellschaftlichen und politischen Leben und in der Geschichte. Genauso ist es in der Kunst im allgemeinen und im Theater im besonderen. Ein Schauspiel, das der Atmosphäre entbehrt, hat unweigerlich etwas Mechanisches an sich. Der Zuschauer kann über ein solches Schauspiel zwar diskutieren, es verstehen oder seine technischen Qualitäten beurteilen, es wird ihn aber kalt lassen - das Stück bleibt »herzlos« und kann ihn nicht vollends ergreifen.

Oft wird die Klarheit dieses Zusammenhangs dadurch getrübt, daß die hie und da aufflackernden individuellen Gefühle der Schauspieler quasi an die Stelle der Atmosphäre treten. Wohl können zuweilen die Emotionen eines Schauspielers stark und mitreißend genug sein, um selbst Atmosphäre hervorzurufen, doch sind das stets glückliche Zufälle, aus denen sich keinesfalls Prinzipien für die Bühne ableiten lassen. Die einzelnen Schauspieler und ihre Gefühle sind nicht mehr als ein Teil des Ganzen. Sie müssen eine harmonische Einheit bilden, und das Einheitsprinzip ist in diesem Falle die Atmosphäre des Schauspiels.

In einer materialistisch - verstandesbetonten Epoche wie der unseren schämen sich die Menschen ihrer Gefühle, sie fürchten sich vor ihnen und sind nicht bereit, Atmosphäre als eigenständigen Gefühlsbereich anzuerkennen. Während aber der Mensch als einzelner noch die Illusion eines Lebens ohne Gefühle hegen darf, stirbt die Kunst, sobald sich durch sie Gefühle nicht mehr äußern können. Ein Kunstwerk muß Seele haben, und diese Seele ist die Atmosphäre. Darin besteht die großartige Mission des Schauspielers: die Seele des Theaters und damit das Theater der Zukunft vor der Mechanisierung zu retten.[6]

Das wahre schöpferische Fühlen

Das wahre schöpferische Fühlen liegt nicht an der Oberfläche der Seele. Aufgerufen aus den Tiefen des Unterbewußtseins, versetzt es nicht nur den Zuschauer, sondern auch den Schauspieler selbst in Erstaunen.[7]

Gemeinhin werden Regisseur, Dramaturg und Schauspieler die eigentliche Bühnenarbeit dadurch vorbereiten, dass sie den Text intellektuell möglichst klar zu erfassen und durchdringen suchen. Sie werden zuallererst den Text verstehen wollen und ihn nach charakteristischen Wendungen abklopfen, in denen sich, oft in einem beiläufig scheinenden Nebensatz, der Sinngehalt des Werkes bzw. die typische Wesensart der handelnden Personen erhellt. Sie werden darüber hinaus vielleicht das historische Umfeld studieren, in dem das Stück angesiedelt ist, ebenso die Zeit, in der das Drama geschrieben wurde. Und sie werden zumeist auch aktuellen Gegenwartsbezügen nachspüren, die dazu beitragen können, die Inszenierung aktuell und zeitkritisch erscheinen zu lassen. Man wird Leben und Werk des Dichters studieren und vielleicht untersuchen, inwieweit sich die Persönlichkeit des Dichters in seiner Dichtung widerspiegelt. Vieles mehr wird noch zu leisten sein, ehe der erste Satz auf der Bühne gesprochen wird. Insgesamt wird so eine konkrete, mehr oder weniger phantasievolle Vorstellung vom Ganzen des Stückes entstehen, welche die Grundlage für das Regiekonzept und die spätere Rollenarbeit der Darsteller bildet. Kurz gesagt, geht eine gründliche Gedankenarbeit der eigentlichen praktischen Bühnenarbeit voran.

All das mag wichtig sein - aber es offenbart den seelisch-geistigen Gehalt des Werkes nicht, sondern ist, etwas überspitzt formuliert, die verkalkte, aus aufeinandergetürmten toten Verstandesbegriffen geschaffene Eischale, welche die eigentliche lebendige künstlerische Substanz, das Gelbe vom Ei, verhüllt. Von der toten Schale darf man nicht ausgehen, sondern sie ist erst das Ergebnis eines lebendigen künstlerischen Wachstumsprozesses, wo sie schließlich zur schützenden und tragenden Hülle für das lebendige Ganze wird. Die gedankliche Durchdringung des Werkes steht daher nicht am Anfang, sondern am Ende unseres Weges und wird erst in einem sehr viel späteren Stadium der Bühnenarbeit bedeutsam. Natürlich, man kann und soll so viel Material rund um das Stück sammeln als möglich, so wie die Biene sich am Blütenduft labt und den Blütenstaub sammelt, aus dem einmal der mit Sonnenkraft gesättigte Honig werden soll - aber man muss all das lebendig in sich reifen lassen und nicht durch den starren Intellekt ersticken. Dementsprechend gibt es für uns auch kein vorgefertigtes Regiekonzept, sondern dieses ist erst das Ergebnis der lebendigen Probenarbeit auf der Bühne und die Aufgabe des Regisseurs besteht nicht darin, der Inszenierung seine Ideen überzustülpen, sondern er soll nur die ihm von den Darstellern und durch den Text dargebotenen schöpferischen Impulse zu einem harmonischen Ganzen vereinen. So verrückt es klingen mag, wir versuchen uns dem Werk zunächst möglichst gedankenlos zu nähern. Unser Weg beginnt nicht mit dem Denken, sondern mit dem Tun - ohne zuvor zu wissen was und wie wir es tun sollen. Das ist gar nicht so leicht, denn wir leben in einem durch und durch intellektuell geprägten Zeitalter, indem es sehr schwer fällt, die sich unermüdlich aufdrängende Gedankenflut, die tagtäglich unser Wachbewusstsein überflutet, beiseite zu schieben. Man beobachte sich nur selbst, wie viele Gedanken in jedem Augenblick unseres wachen Daseins unsere Seele durchwogen und wie schwer es ist, ganz wach zu sein ohne zu denken.

Die Schatzkammer des Unterbewusstseins

Die Gescheitheit unseres wachen Intellekts hilft uns für die Rollengestaltung nichts, sie legt sich vielmehr als ausgedörrte, schwer durchdringbare Dornenhecke vor den blühenden Garten der in unserem Unterbewusstsein waltenden lebendig formenden Gestaltungskräfte. Alles, was wir verstandesmäßig über das Werk in Erfahrung bringen können, bleibt wertlos, solange es uns nicht aus diesem Garten verjüngt und bereichert wieder entgegenblüht. Hier, in der unendlich reichen Schatzkammer des Unterbewusstseins, entspringt der lebendige Quell der Weisheit, aus der die wahren Künstler aller Zeiten geschöpft haben. Was uns von den Künstlern alter Tage unterscheidet, ist, dass sie diese Schöpferkräfte weitgehend unbewusst unmittelbar in ihr Werk umgesetzt haben, ohne sich wirklich bewusste Rechenschaft über ihr Tun geben zu können, während unser heutiges Bewusstsein grundsätzlich stark genug geworden ist, diesen verborgene Weisheitsschatz bis an die Oberfläche zu heben und bewusst - und daher viel freier - für die künstlerische Gestaltung zu verwenden. Je wacher wir bleiben, ohne den Intellekt zu gebrauchen, desto besser wird uns das gelingen. Künstlerische Arbeit in unserem Sinne bedarf also des "Opfers des Intellekts" - wohlgemerkt muss man den Intellekt zuvor, und zwar recht kräftig, entwickelt haben, um ihn überhaupt "hinopfern" zu können. Was man nicht hat, kann man nicht opfern. Nur am Intellekt können wir jene Wachheit des Geistes entwickeln, mit der wir später die Tiefen des sonst Unbewussten zu erhellen vermögen!

Der Text als künstlerische Form

Der gedanklich fassbare äußere Inhalt steht demgemäss bei unserem Textstudium nicht im Vordergrund. Nicht der Inhalt, sondern die künstlerische Form des Textes interessiert uns primär. In ihr lebt verborgen der eigentliche seelisch-geistige Gehalt des Werkes am unmittelbarsten. Im Rhythmus der Sprache, in der musikalischen Qualität der Laute, die sich zu einer geheimnisvollen hintergründigen Melodie zusammenschließen, in den Gefühlsempfindungen, welche die Vokale in ihrem harmonischen oder disharmonischen Zusammenklang in uns erregen, in der ausgeprägten Formkraft der Konsonanten, die unseren Willen ergreifen, rücken wir an die schöpferische Quelle, aus der die Dichtung geschaffen wurde, so nahe als möglich heran. Der intellektuelle Inhalt ist demgegenüber nicht viel mehr als der Stoff, das gleichgültige Rohmaterial, das als äußerer materieller Träger der geistigen Form dient, vergleichbar dem Holz, aus dem eine Plastik geschnitzt oder dem Marmor aus dem eine Statue gemeißelt wird. Wie in der bildenden Kunst, so gibt es auch in der Dichtung edlere und weniger edle Materialien, die die künstlerische Form besser oder schlechter zur Geltung bringen können, aber letztlich wird ein genialer Künstler auch einen geringen Stoff zu einem achtenswerten Meisterwerk umgestalten, während der wenig Begabte auch den besten Stoff verderben kann.

Das Wort ist ein innerer Klang

Je mehr es gelingt, sich vom äußeren Inhalt zu lösen, von ihm zu abstrahieren, umso deutlicher wird sich die innere Seelenstimmung und der geistige Gehalt des Werkes offenbaren. Der Maler Wassily Kandinsky hat das sehr klar ausgesprochen:

Wassily Kandinsky, Weißer Strich, 1920
Wassily Kandinsky, Weißer Strich, 1920

"Das Wort ist ein innerer Klang. Dieser innere Klang entspringt teilweise (vielleicht hauptsächlich) dem Gegenstand, welchem das Wort zum Namen dient. Wenn aber der Gegenstand nicht selbst gesehen wird, sondern nur sein Name gehört wird, so entsteht im Kopfe des Hörers die abstrakte Vorstellung, der dematerialisierte Gegenstand, welcher im «Herzen» eine Vibration sofort hervorruft. So ist der grüne, gelbe, rote Baum auf der Wiese nur ein materieller Fall, eine zufällige materialisierte Form des Baumes, welchen wir in uns fühlen, wenn wir das Wort Baum hören. Geschickte Anwendung (nach dichterischem Gefühl) eines Wortes, eine innerlich nötige Wiederholung desselben zweimal, dreimal, mehrere Male nacheinander kann nicht nur zum Wachsen des inneren Klanges führen, sondern noch andere nicht geahnte geistige Eigenschaften des Wortes zutage bringen. Schließlich bei öfterer Wiederholung des Wortes (beliebtes Spiel der Jugend, welches später vergessen wird) verliert es den äußeren Sinn der Benennung. Ebenso wird sogar der abstrakt gewordene Sinn des bezeichneten Gegenstandes vergessen und nur der reine Klang des Wortes entblößt. Diesen «reinen» Klang hören wir vielleicht unbewußt auch im Zusammenklange mit dem realen oder später abstrakt gewordenen Gegenstande. Im letzten Falle aber tritt dieser reine Klang in den Vordergrund und übt einen direkten Druck auf die Seele aus. Die Seele kommt zu einer gegenstandslosen Vibration, die noch komplizierter, ich möchte sagen «übersinnlicher» ist als eine Seelenerschütterung von einer Glocke, einer klingenden Saite, einem gefallenen Brette usw. Hier öffnen sich große Möglichkeiten für die Zukunftsliteratur. In embryonaler Form wird diese Kraft des Wortes z. B. schon in den «Serres chaudes» angewendet. In Maeterlincks Anwendung klingt deswegen düster ein Wort, welches auf den ersten Eindruck neutral erscheint. Ein einfaches, gewohntes Wort (wie z.B. Haare) kann in richtig gefühlter Anwendung die Atmosphäre von Trostlosigkeit, Verzweiflung verbreiten. Und dies ist das Mittel Maeterlincks. Er zeigt den Weg, auf welchem man bald sieht, daß Donner, Blitz und Mond hinter jagenden Wolken äußerliche materielle Mittel sind, welche auf der Bühne noch mehr wie in der Natur «dem schwarzen Mann» der Kinder gleichen. Wirkliche innere Mittel verlieren nicht so leicht ihre Kraft und Wirkung. Und das Wort, welches also zwei Bedeutungen hat - die erste direkte und zweite innere -, ist das reine Material der Dichtung und der Literatur, das Material, welches nur diese Kunst anwenden kann und durch welches sie zur Seele spricht.

Das verlorengegangene Wort

Stellen Sie sich nur einmal vor, der Mensch hätte die ursprünglichen Anlagen, die ihm zugedacht waren. Da würde er hingeschaut haben auf dasjenige, was von außen auf ihn Eindrücke machen kann. Aber es würden nicht bloß Farben, Töne herankommen an ihn, nicht bloß dasjenige, was von außen die Eindrücke sind, sondern es würde überall Geist herausfließen aus den Dingen: mit der roten Farbe zugleich der Geist des Rot, mit der grünen Farbe der Geist des Grün und so weiter. Überall würde der Geist an ihn herankommen, wovon Goethe nur eine Ahnung hatte, indem er sagte: Ja, wenn diese Pflanze nur eine Idee sein soll, so sehe ich meine Ideen, dann sind sie draußen wie Farben. - Das ist eine ahnungsvolle Idee. Dies bitte ich Sie, sich in konkreter, vollsubstantieller Wirklichkeit vorzustellen: daß wirklich der Geist lebendig herankommt. Wenn aber die äußeren Eindrücke so lebendig herangekommen wären, dann würde — es begegnet sich immer mit dem, was durch unser Haupt, durch unsere Sinne hereinkommt, dasjenige, was in unserer Atmung lebt -, es würde sich mit jedem äußeren Eindruck der Atmungsprozeß begegnen. Ein Rot: der Eindruck kommt von außen herein; von innen kommt ihm die Atmung entgegen, die aber dann Ton wäre. Mit jedem einzelnen Eindruck würde der Ton aus dem Menschen entspringen. Eine Sprache, die bleibt, gäbe es nicht, sondern es würde immer jedes Ding, jeder Eindruck unmittelbar mit einer tönenden Geste von innen beantwortet. Man stünde mit dem Worte ganz in der äußeren Wesenheit darinnen. Von dieser lebendig-flüssigen Sprache ist dasjenige, was sich als Sprache dann ausgebildet hat, nur die irdische Projektion, das Heruntergefallene, das Abgefallene. Und an diese ursprüngliche Sprache, die man spricht mit der ganzen Welt, erinnert der Ausdruck, der heute so wenig verstanden wird, der Ausdruck von dem «verlorengegangenen Wort». Aber an diesen ursprünglichen Geist, wo der Mensch nicht nur Augen hatte zu sehen, sondern Augen hatte, den Geist wahrzunehmen, und wo er im Innern seines Atmungsprozesses auf die Wahrnehmung des Auges antwortete mit der tönenden Geste - an dieses lebendige Mit-dem-Geiste-Zusammensein erinnert das Wort: «Im Urbeginne war das Wort, und das Wort war bei Gott, und ein Gott war das Wort.» Von diesem Leben in dem Göttlichen spricht der Beginn des Johannes-Evangeliums.[5]

Etwas Ähnliches tat in der Musik R. Wagner. Sein berühmtes Leitmotiv ist ebenso eine Bestrebung, den Helden nicht nur durch theatralische Ausrüstungen, Schminken und Lichteffekte zu charakterisieren, sondern durch ein gewisses, präzises Motiv, also durch ein rein musikalisches Mittel. Dieses Motiv ist eine Art musikalisch ausgedrückter geistiger Atmosphäre, die dem Helden vorausgeht, die er also auf Entfernung geistig ausströmt."[1]

Das Textstudium wird also damit beginnen, sich in den inneren Klang des Wortes, in seine geheimnisvolle Musik und seine plastische Formkraft intim einzuleben, ohne sich dabei allzu viele Gedanken über die äußere Bedeutung des Textes zu machen. Der Text muss gründlich verinnerlicht und zum innersten Bestandteil des eigenen Seelenlebens werden. Die gründliche, tiefgreifende Gedächtnisbildung ist die Grundlage für den weiteren kreativen Umgang mit dem Text. Wie sich das praktisch verwirklichen lässt, wurde an anderer Stelle ausführlich beschrieben[2]. Der Text soll jedenfalls primär nicht verstanden, sondern gesprochen und in seiner eigentümlichen Klangqualität und ihrer Wirkung auf die Seele erlebt werden.

Ein neues inneres Sinneswerkzeug

Im freien Spiel mit der Sprache entfaltet sich die verborgene schöpferische Weisheit des Willens in dem Maße, in dem es gelingt, den äußeren Intellekt beiseite zu schieben und sich ganz unbefangen dem spielerischen Erleben hinzugeben. Am Tun entzündet sich nun mehr und mehr das Gefühl und beseelt das ganze Spiel. Und erst am Ende eines langen Weges kristallisieren alle diese Erlebnisse zu einem klaren Gedankenbild des ganzen Stücks. Ein Gedankenbild, das allerdings unendlich viel reicher und lebendiger ist als jenes, das auf dem herkömmlichen Wege zu erreichen ist, weil es auf viel umfangreicheren emotionalen Erfahrungen beruht, die normalerweise so stark verborgen bleiben, dass sie für das bewusste Erleben schlichtweg nicht existieren. Es gilt, ein neues Wahrnehmungsvermögen zu entwickeln, das uns die Weisheit des Willens und Gefühls, die normalerweise vollkommen verschlafen wird, bewusst miterleben lässt, wie es ähnlich schon Johann Gottlieb Fichte in seiner Philosophie gefordert hat:

"Diese Lehre setzt voraus ein ganz neues inneres Sinneswerkzeug, durch welches eine neue Welt gegeben wird, die für den gewöhnlichen Menschen gar nicht vorhanden ist." Und weiter: "Denke man eine Welt von Blindgeborenen, denen darum allein die Dinge und ihre Verhältnisse bekannt sind, die durch den Sinn der Betastung existieren. Tretet unter diese und redet ihnen von Farben und den anderen Verhältnissen, die nur durch das Licht und für das Sehen vorhanden sind. Entweder ihr redet ihnen von Nichts, und dies ist das Glücklichere, wenn sie es sagen, denn auf diese Weise werdet ihr bald den Fehler merken und, falls ihr ihnen nicht die Augen zu öffnen vermögt, das vergebliche Reden einstellen."[3]

Unser Weg geht also vom Willen über das Gefühl hin zum Denken. Er steht damit in konträrem Gegensatz zum intellektualistischen Weg, der vom Verstandesdenken ausgeht, um von hier aus das Tun zu leiten. Wir sind heute geradezu besessen davon, zu glauben, dass wir zuvor wissen müssten was und wie wir etwas tun sollen, ehe wir an das eigentliche Tun herantreten. So kommen wir aber niemals an die schöpferische Quelle heran. Der Verstand kann nur das bereits Vorhandene erfassen. Der schöpferische Prozess hat es aber gerade mit dem noch nicht vorhandenen, sondern erst zu schaffenden Gehalt zu tun. Selbstverständlich, auch der innere Klang des Wortes, von dem wir eben sprachen, ist bereits etwas Vorhandenes - nur steht dieser dem schöpferischen Ursprung unendlich viel näher als der intellektuell fassbare Inhalt. Er wird uns daher zum sichersten Wegweiser zum schöpferischen Ursprung, aus dem das Werk entsprungen ist. Was uns der Dichter mit seinem Text hinterlassen hat, ist in Wahrheit noch gar nicht das eigentliche Werk, sondern nur etwas, das uns den Weg zur Quelle weist. Und aus dieser Quelle gilt es das Werk nachschöpferisch und zugleich kreativ weitergestaltend neu zu erschaffen. Aus der innersten lebendigen Substanz des Textes wird das Werk als ein neues lebendiges Wesen wiedergeboren und aus der zerstäubenden Asche des intellektuell Greifbaren steigt es als glänzender Phönix verjüngt und erneuert empor.

Das innere Kind

Darum ist unser Weg nicht der Weg des Wissenden, sondern der des naiven unbedarften Kindes, das sich nach und nach spielerisch in die Welt einlebt. Das spielende Kind steht den schöpferischen Quellen viel näher als der mit seinem voreingenommenen Intellekt belastete Erwachsene, der alles erst noch zu Schaffende an dem ihm schon Bekannten misst und daraus ableiten will.

Das Erlebnis der schöpferischen Individualität

Im alltäglichen Leben sprechen wir von uns als »Ich«: »Ich will, ich fühle, ich denke.« Dieses eigene »Ich« identifizieren wir mit unserem Leib, mit unseren Gewohnheiten, unserem Lebensstil, unserer familiären und gesellschaftlichen Position usw. Ist das dasselbe wie das »ICH« eines schöpferisch inspirierten Künstlers? Denken Sie daran, wie Sie die glücklichen Minuten in Ihren Auftritten erlebt haben. Was geschieht mit Ihrem gewöhnlichen »Ich«? Es verblaßt, weicht in den Hintergrund, und an seine Stelle tritt ein anderes, höheres »ICH«. Sie spüren es vor allem als seelische Kraft, eine Kraft ganz anderer Ordnung als jene, die Ihnen aus dem Alltag bekannt ist. Sie durchdringt Ihr ganzes Wesen, strahlt von Ihrem Innern aus in Ihre Umgebung und erfüllt die Bühne und den Zuschauerraum. Sie stellt die Verbindung mit dem Publikum her und vermittelt ihm Ihre künstlerischen Ideen und Erlebnisse. Sie spüren, daß diese Kraft mit Ihrem Leib zu tun hat, anders allerdings als die Kraft des gewöhnlichen »Ich«. Durch ihre freie Ausstrahlung nach außen spannt sie die Muskeln und Nerven Ihrer physischen Struktur kaum an und macht dabei Ihren Körper geschmeidig, anmutig und empfänglich für jede seelische Regung. Der Leib wird zum gehorsamen Übermittler und Verkünder Ihrer künstlerischen Impulse.[4]

Überraschung, PG nach Michail A. Cechov
Überraschung
Psychologische Gebärde 
nach Michail  A. Cechov

Wenn das Kind das Licht der Welt erblickt, ist es als eigenständige menschliche Persönlichkeit noch nicht fassbar, ja es existiert als solche noch gar nicht. Erst im Laufe etwa der ersten drei Lebensjahre bildet sich diese unverwechselbare einzigartige Persönlichkeit nach und nach heraus durch einen unvergleichlichen Schöpfungsprozess, im Zuge dessen sich das Kind in seiner Persönlichkeitsstruktur gleichsam selbst erschafft. Von allen Kunstwerken, die der Mensch erschaffen kann, ist er selbst das größte. Freilich hat auch das bereits Vorhandene, namentlich die Vererbungsverhältnisse und die Nachahmung dessen, was es an seiner Umwelt erlebt, einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes - was seine Persönlichkeit einzigartig macht, erklärt sich aber daraus gerade nicht. Bei Menschen, die ein größeres Potential an Schöpferkraft in das irdische Dasein mitbringen, wird diese Einzigartigkeit der Persönlichkeit deutlicher aufleuchten, andere werden mehr ein Abbild der Vererbungskräfte oder ein klischeehafter Abklatsch ihrer Umwelt sein. Individuum sind sie aber nur in dem Maße, in dem sie sich selbst erschaffen und alles andere, Vererbung und Umwelteinflüsse, als Rohstoff ihrer eigenen Selbsterschaffung nutzen. Dabei hat das Kind zuvor nicht die geringste bewusste Ahnung davon, wie die Persönlichkeit, zu der es sich heranbildet, beschaffen sein soll. Es verfügt anfangs weder über ein klares bewusstes Denken, noch hat es schon ein deutliches Bewusstsein seiner selbst. Es bildet sich vielmehr unmittelbar im Tun und begreift sich erst zuallerletzt an dem, was es so geschaffen hat - und genau in diesem Moment beginnt das Ichbewusstsein keimhaft aufzuleuchten.

Indem der Schauspieler eine völlig neue Persönlichkeit für die Bühne erschaffen soll, ist er zumindest andeutungsweise in eine ähnliche Situation versetzt, wie sie das Kind in den ersten drei Lebensjahren durchlebt. Nur kann er im Unterschied zum Kind den Entstehungsprozess dieser Bühnenpersönlichkeit mit dem bei ihm längst erwachten Selbstbewusstsein begleiten. Das ist ein Hindernis und eine Chance zugleich. Ein Hindernis ist es, wenn sich die eigene Persönlichkeit mit all ihrem in langer Lebenserfahrung erworbenen Vorwissen in die kreative Erschaffung der Bühnenpersönlichkeit einmischt. Diese wird sich um so besser selbst erschaffen, je weniger wir uns in diesen schöpferischen Prozess einmischen. Nicht wir selbst müssen die Bühnenfigur gestalten, sondern sie bildet sich aus ihrer eigenen schöpferischen Quelle selbst. Die Chance liegt darin, dass wir diesen einzigartigen Vorgang völlig bewusst miterleben können und dadurch, zumindest in bildhaft abgeschwächter Form, in die tieferen Geheimnisse der Menschwerdung hineinzublicken vermögen. Wir lernen dadurch aber auch uns selber besser, intimer und umfassender in unserem eigentlichen Wesen erkennen als das zuvor möglich war. Denn was wir durch unseren Alltagsverstand von uns selbst wissen, ist nur der aller geringste Teil unserer selbst, ist auch nur bloße Schale und noch nicht das Gelbe vom Ei, nämlich unser wahrer innerster Wesenskern. Es gehört allerdings Mut dazu, derart dem eigenen Wesen ungeschminkt ins Auge zu blicken. Man entdeckt seine lichten Seiten, aber auch finstere Abgründe in sich selbst kennen. Viele weichen davor geradezu panikartig zurück, wohl dunkel ahnend, dass dadurch das bisherige Leben in seinen innersten Grundfesten erschüttert wird - und das ist beseligend auf der einen Seite, oft aber auch sehr, sehr schmerzvoll auf der anderen Seite. Bringt man aber diesen Mut auf, dann ist diese erweiterte Selbsterkenntnis zugleich ein ungeheuren Anstoß zur bewussten kreativen Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit. So kann lebendige Schauspielkunst im hier beschriebenen Sinn zugleich zu einem Weg der kreativen Selbsterneuerung werden.

Man darf sich keiner Illusionen hingeben: Was hier in Umrissen angedeutet wurde, lässt sich heute erst ganz keimhaft verwirklichen. Es ist ein Ausblick auf das, was Schauspielkunst einstmals werden kann, nicht auf etwas, was heute schon voll und ganz erreicht werden könnte. Wenn es aber auch nur ansatzweise gelingt, wird dadurch das Tor zu den geistigen Quellen der Kunst, ja des Menschseins überhaupt, ein klein wenig aufgestoßen und das wird jene eingangs erwähnte, kaum fassbare seelische Atmosphäre schaffen, durch die das vor den Sinnen sich entrollende Schauspiel zugleich zu einer heilsamen, das menschliche Dasein erhöhenden Seelennahrung für das Publikum wird.

Wolfgang PETER    

 


[1] Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, © Nina Kandinsky, Neuilly-sur-Seine 1952, S 45 ff.

[3] Johann Gottlieb Fichte, Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre, die transcendentale Logik und die Tatsachen des Bewußtseins. Vorgetragen an der Universität zu Berlin in den Jahren 1812 u. 13. Aus dem Nachlaß herausgegeben von I.H. Fichte, Bonn 1843, S 4
[4]
Michail A. Cechov, Die Kunst des Schauspielers. Moskauer Ausgabe, Verlag Urachhaus, Stuttgart 1990, S 121
[5] Rudolf Steiner, Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha, GA 175, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1982, S 243 f. (Elfter Vortrag, Berlin, 12. April 1917)
[6] Cechov, S 33 f.
[7] Cechov, S 39

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