Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 2 Johann Wolfgang von Goethe Zweites Buch Erstes Kapitel Jeder, der mit lebhaften Kraeften vor unsern Augen eine Absicht zu erreichen strebt, kann, wir moegen seinen Zweck loben oder tadeln, sich unsre Teilnahme versprechen; sobald aber die Sache entschieden ist, wenden wir unser Auge sogleich von ihm weg; alles, was geendigt, was abgetan daliegt, kann unsre Aufmerksamkeit keineswegs fesseln, besonders wenn wir schon fruehe der Unternehmung einen uebeln Ausgang prophezeit haben. Deswegen sollen unsre Leser nicht umstaendlich mit dem Jammer und der Not unsers verunglueckten Freundes, in die er geriet, als er seine Hoffnungen und Wuensche auf eine so unerwartete Weise zerstoert sah, unterhalten werden. Wir ueberspringen vielmehr einige Jahre und suchen ihn erst da wieder auf, wo wir ihn in einer Art von Taetigkeit und Genuss zu finden hoffen, wenn wir vorher nur kuerzlich so viel, als zum Zusammenhang der Geschichte noetig ist, vorgetragen haben. Die Pest oder ein boeses Fieber rasen in einem gesunden, vollsaftigen Koerper, den sie anfallen, schneller und heftiger, und so ward der arme Wilhelm unvermutet von einem ungluecklichen Schicksale ueberwaeltigt, dass in einem Augenblicke sein ganzes Wesen zerruettet war. Wie wenn von ungefaehr unter der Zuruestung ein Feuerwerk in Brand geraet und die kuenstlich gebohrten und gefuellten Huelsen, die, nach einem gewissen Plane geordnet und abgebrannt, praechtig abwechselnde Feuerbilder in die Luft zeichnen sollten, nunmehr unordentlich und gefaehrlich durcheinander zischen und sausen: so gingen auch jetzt in seinem Busen Glueck und Hoffnung, Wollust und Freuden, Wirkliches und Getraeumtes auf einmal scheiternd durcheinander. In solchen wuesten Augenblicken erstarrt der Freund, der zur Rettung hinzueilt, und dem, den es trifft, ist es eine Wohltat, dass ihn die Sinne verlassen. Tage des lauten, ewig wiederkehrenden und mit Vorsatz erneuerten Schmerzens folgten darauf; doch sind auch diese fuer eine Gnade der Natur zu achten. In solchen Stunden hatte Wilhelm seine Geliebte noch nicht ganz verloren; seine Schmerzen waren unermuedet erneuerte Versuche, das Glueck, das ihm aus der Seele entfloh, noch festzuhalten, die Moeglichkeit desselben in der Vorstellung wieder zu erhaschen, seinen auf immer abgeschiedenen Freuden ein kurzes Nachleben zu verschaffen. Wie man einen Koerper, solange die Verwesung dauert, nicht ganz tot nennen kann, solange die Kraefte, die vergebens nach ihren alten Bestimmungen zu wirken suchen, an der Zerstoerung der Teile, die sie sonst belebten, sich abarbeiten; nur dann, wenn sich alles aneinander aufgerieben hat, wenn wir das Ganze in gleichgueltigen Staub zerlegt sehen, dann entsteht das erbaermliche, leere Gefuehl des Todes in uns, nur durch den Atem des Ewiglebenden zu erquicken. In einem so neuen, ganzen, lieblichen Gemuete war viel zu zerreissen, zu zerstoeren, zu ertoeten, und die schnellheilende Kraft der Jugend gab selbst der Gewalt des Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit. Der Streich hatte sein ganzes Dasein an der Wurzel getroffen. Werner, aus Not sein Vertrauter, griff voll Eifer zu Feuer und Schwert, um einer verhassten Leidenschaft, dem Ungeheuer, ins innerste Leben zu dringen. Die Gelegenheit war so gluecklich, das Zeugnis so bei der Hand, und wieviel Geschichten und Erzaehlungen wusst er nicht zu nutzen. Er trieb's mit solcher Heftigkeit und Grausamkeit Schritt vor Schritt, liess dem Freunde nicht das Labsal des mindesten augenblicklichen Betruges, vertrat ihm jeden Schlupfwinkel, in welchen er sich vor der Verzweiflung haette retten koennen, dass die Natur, die ihren Liebling nicht wollte zugrunde gehen lassen, ihn mit Krankheit anfiel, um ihm von der andern Seite Luft zu machen. Ein lebhaftes Fieber mit seinem Gefolge, den Arzeneien, der ueberspannung und der Mattigkeit; dabei die Bemuehungen der Familie, die Liebe der Mitgebornen, die durch Mangel und Beduerfnisse sich erst recht fuehlbar macht, waren so viele Zerstreuungen eines veraenderten Zustandes und eine kuemmerliche Unterhaltung. Erst als er wieder besser wurde, das heisst, als seine Kraefte erschoepft waren, sah Wilhelm mit Entsetzen in den qualvollen Abgrund eines duerren Elendes hinab, wie man in den ausgebrannten, hohlen Becher eines Vulkans hinunterblickt. Nunmehr machte er sich selbst die bittersten Vorwuerfe, dass er nach so grossem Verlust noch einen schmerzenlosen, ruhigen, gleichgueltigen Augenblick haben koenne. Er verachtete sein eigen Herz und sehnte sich nach dem Labsal des Jammers und der Traenen. Um diese wieder in sich zu erwecken, brachte er vor sein Andenken alle Szenen des vergangenen Gluecks. Mit der groessten Lebhaftigkeit malte er sie sich aus, strebte wieder in sie hinein, und wenn er sich zur moeglichsten Hoehe hinaufgearbeitet hatte, wenn ihm der Sonnenschein voriger Tage wieder die Glieder zu beleben, den Busen zu heben schien, sah er rueckwaerts auf den schrecklichen Abgrund, labte sein Auge an der zerschmetternden Tiefe, warf sich hinunter und erzwang von der Natur die bittersten Schmerzen. Mit so wiederholter Grausamkeit zerriss er sich selbst; denn die Jugend, die so reich an eingehuellten Kraeften ist, weiss nicht, was sie verschleudert, wenn sie dem Schmerz, den ein Verlust erregt, noch so viele erzwungene Leiden zugesellt, als wollte sie dem Verlornen dadurch noch erst einen rechten Wert geben. Auch war er so ueberzeugt, dass dieser Verlust der einzige, der erste und letzte sei, den er in seinem Leben empfinden koenne, dass er jeden Trost verabscheute, der ihm diese Leiden als endlich vorzustellen unternahm. II. Buch, 2. Kapitel Zweites Kapitel Gewoehnt, auf diese Weise sich selbst zu quaelen, griff er nun auch das uebrige, was ihm nach der Liebe und mit der Liebe die groessten Freuden und Hoffnungen gegeben hatte, sein Talent als Dichter und Schauspieler, mit haemischer Kritik von allen Seiten an. Er sah in seinen Arbeiten nichts als eine geistlose Nachahmung einiger hergebrachten Formen, ohne innern Wert; er wollte darin nur steife Schulexerzitien erkennen, denen es an jedem Funken von Naturell, Wahrheit und Begeisterung fehle. In seinen Gedichten fand er nur ein monotones Silbenmass, in welchem, durch einen armseligen Reim zusammengehalten, ganz gemeine Gedanken und Empfindungen sich hinschleppten; und so benahm er sich auch jede Aussicht, jede Lust, die ihn von dieser Seite noch allenfalls haette wieder aufrichten koennen. Seinem Schauspielertalente ging es nicht besser. Er schalt sich, dass er nicht frueher die Eitelkeit entdeckt, die allein dieser Anmassung zum Grunde gelegen. Seine Figur, sein Gang, seine Bewegung und Deklamation mussten herhalten; er sprach sich jede Art von Vorzug, jedes Verdienst, das ihn ueber das Gemeine emporgehoben haette, entscheidend ab und vermehrte seine stumme Verzweiflung dadurch auf den hoechsten Grad. Denn wenn es hart ist, der Liebe eines Weibes zu entsagen, so ist die Empfindung nicht weniger schmerzlich, von dem Umgange der Musen sich loszureissen, sich ihrer Gemeinschaft auf immer unwuerdig zu erklaeren und auf den schoensten und naechsten Beifall, der unsrer Person, unserm Betragen, unsrer Stimme oeffentlich gegeben wird, Verzicht zu tun. So hatte sich denn unser Freund voellig resigniert und sich zugleich mit grossem Eifer den Handelsgeschaeften gewidmet. Zum Erstaunen seines Freundes und zur groessten Zufriedenheit seines Vaters war niemand auf dem Comptoir und der Boerse, im Laden und Gewoelbe taetiger als er; Korrespondenz und Rechnungen, und was ihm aufgetragen wurde, besorgte und verrichtete er mit groesstem Fleiss und Eifer. Freilich nicht mit dem heitern Fleisse, der zugleich dem Geschaeftigen Belohnung ist, wenn wir dasjenige, wozu wir geboren sind, mit Ordnung und Folge verrichten, sondern mit dem stillen Fleisse der Pflicht, der den besten Vorsatz zum Grunde hat, der durch ueberzeugung genaehrt und durch ein innres Selbstgefuehl belohnt wird; der aber doch oft, selbst dann, wenn ihm das schoenste Bewusstsein die Krone reicht, einen vordringenden Seufzer kaum zu ersticken vermag. Auf diese Weise hatte Wilhelm eine Zeitlang sehr emsig fortgelebt und sich ueberzeugt, dass jene harte Pruefung vom Schicksale zu seinem Besten veranstaltet worden. Er war froh, auf dem Wege des Lebens sich beizeiten, obgleich unfreundlich genug, gewarnt zu sehen, anstatt dass andere spaeter und schwerer die Missgriffe buessen, wozu sie ein jugendlicher Duenkel verleitet hat. Denn gewoehnlich wehrt sich der Mensch so lange, als er kann, den Toren, den er im Busen hegt, zu verabschieden, einen Hauptirrtum zu bekennen und eine Wahrheit einzugestehen, die ihn zur Verzweiflung bringt. So entschlossen er war, seinen liebsten Vorstellungen zu entsagen, so war doch einige Zeit noetig, um ihn von seinem Ungluecke voellig zu ueberzeugen. Endlich aber hatte er jede Hoffnung der Liebe, des poetischen Hervorbringens und der persoenlichen Darstellung mit triftigen Gruenden so ganz in sich vernichtet, dass er Mut fasste, alle Spuren seiner Torheit, alles, was ihn irgend noch daran erinnern koennte, voellig auszuloeschen. Er hatte daher an einem kuehlen Abende ein Kaminfeuer angezuendet und holte ein Reliquienkaestchen hervor, in welchem sich hunderterlei Kleinigkeiten fanden, die er in bedeutenden Augenblicken von Marianen erhalten oder derselben geraubt hatte. Jede vertrocknete Blume erinnerte ihn an die Zeit, da sie noch frisch in ihren Haaren bluehte; jedes Zettelchen an die glueckliche Stunde, wozu sie ihn dadurch einlud; jede Schleife an den lieblichen Ruheplatz seines Hauptes, ihren schoenen Busen. Musste nicht auf diese Weise jede Empfindung, die er schon lange getoetet glaubte, sich wieder zu bewegen anfangen? Musste nicht die Leidenschaft, ueber die er, abgeschieden von seiner Geliebten, Herr geworden war, in der Gegenwart dieser Kleinigkeiten wieder maechtig werden? Denn wir merken erst, wie traurig und unangenehm ein trueber Tag ist, wenn ein einziger durchdringender Sonnenblick uns den aufmunternden Glanz einer heitern Stunde darstellt. Nicht ohne Bewegung sah er daher diese so lange bewahrten Heiligtuemer nacheinander in Rauch und Flamme vor sich aufgehen. Einigemal hielt er zaudernd inne und hatte noch eine Perlenschnur und ein flornes Halstuch uebrig, als er sich entschloss, mit den dichterischen Versuchen seiner Jugend das abnehmende Feuer wieder aufzufrischen. Bis jetzt hatte er alles sorgfaeltig aufgehoben, was ihm, von der fruehsten Entwicklung seines Geistes an, aus der Feder geflossen war. Noch lagen seine Schriften in Buendel gebunden auf dem Boden des Koffers, wohin er sie gepackt hatte, als er sie auf seiner Flucht mitzunehmen hoffte. Wie ganz anders eroeffnete er sie jetzt, als er sie damals zusammenband! Wenn wir einen Brief, den wir unter gewissen Umstaenden geschrieben und gesiegelt haben, der aber den Freund, an den er gerichtet war, nicht antrifft, sondern wieder zu uns zurueckgebracht wird, nach einiger Zeit eroeffnen, ueberfaellt uns eine sonderbare Empfindung, indem wir unser eignes Siegel erbrechen und uns mit unserm veraenderten Selbst wie mit einer dritten Person unterhalten. Ein aehnliches Gefuehl ergriff mit Heftigkeit unsern Freund, als er das erste Paket eroeffnete und die zerteilten Hefte ins Feuer warf, die eben gewaltsam aufloderten, als Werner hereintrat, sich ueber die lebhafte Flamme verwunderte und fragte, was hier vorgehe. "Ich gebe einen Beweis", sagte Wilhelm, "dass es mir Ernst sei, ein Handwerk aufzugeben, wozu ich nicht geboren ward"; und mit diesen Worten warf er das zweite Paket in das Feuer. Werner wollte ihn abhalten, allein es war geschehen. "Ich sehe nicht ein, wie du zu diesem Extrem kommst", sagte dieser. "Warum sollen denn nun diese Arbeiten, wenn sie nicht vortrefflich sind, gar vernichtet werden?" "Weil ein Gedicht entweder vortrefflich sein oder gar nicht existieren soll; weil jeder, der keine Anlage hat, das Beste zu leisten, sich der Kunst enthalten und sich vor jeder Verfuehrung dazu ernstlich in acht nehmen sollte. Denn freilich regt sich in jedem Menschen ein gewisses unbestimmtes Verlangen, dasjenige, was er sieht, nachzuahmen; aber dieses Verlangen beweist gar nicht, dass auch die Kraft in uns wohne, mit dem, was wir unternehmen, zustande zu kommen. Sieh nur die Knaben an, wie sie jedesmal, sooft Seiltaenzer in der Stadt gewesen, auf allen Planken und Balken hin und wider gehen und balancieren, bis ein anderer Reiz sie wieder zu einem aehnlichen Spiele hinzieht. Hast du es nicht in dem Zirkel unsrer Freunde bemerkt? Sooft sich ein Virtuose hoeren laesst, finden sich immer einige, die sogleich dasselbe Instrument zu lernen anfangen. Wie viele irren auf diesem Wege herum! Gluecklich, wer den Fehlschluss von seinen Wuenschen auf seine Kraefte bald gewahr wird!" Werner widersprach; die Unterredung ward lebhaft, und Wilhelm konnte nicht ohne Bewegung die Argumente, mit denen er sich selbst so oft gequaelt hatte, gegen seinen Freund wiederholen. Werner behauptete, es sei nicht vernuenftig, ein Talent, zu dem man nur einigermassen Neigung und Geschick habe, deswegen, weil man es niemals in der groessten Vollkommenheit ausueben werde, ganz aufzugeben. Es finde sich ja so manche leere Zeit, die man dadurch ausfuellen und nach und nach etwas hervorbringen koenne, wodurch wir uns und andern ein Vergnuegen bereiten. Unser Freund, der hierin ganz anderer Meinung war, fiel ihm sogleich ein und sagte mit grosser Lebhaftigkeit: "Wie sehr irrst du, lieber Freund, wenn du glaubst, dass ein Werk, dessen erste Vorstellung die ganze Seele fuellen muss, in unterbrochenen, zusammengegeizten Stunden koenne hervorgebracht werden. Nein, der Dichter muss ganz sich, ganz in seinen geliebten Gegenstaenden leben. Er, der vom Himmel innerlich auf das koestlichste begabt ist, der einen sich immer selbst vermehrenden Schatz im Busen bewahrt, er muss auch von aussen ungestoert mit seinen Schaetzen in der stillen Glueckseligkeit leben, die ein Reicher vergebens mit aufgehaeuften Guetern um sich hervorzubringen sucht. Sieh die Menschen an, wie sie nach Glueck und Vergnuegen rennen! Ihre Wuensche, ihre Muehe, ihr Geld jagen rastlos, und wonach? Nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat, nach dem Genuss der Welt, nach dem Mitgefuehl seiner selbst in andern, nach einem harmonischen Zusammensein mit vielen oft unvereinbaren Dingen. Was beunruhiget die Menschen, als dass sie ihre Begriffe nicht mit den Sachen verbinden koennen, dass der Genuss sich ihnen unter den Haenden wegstiehlt, dass das Gewuenschte zu spaet kommt und dass alles Erreichte und Erlangte auf ihr Herz nicht die Wirkung tut, welche die Begierde uns in der Ferne ahnen laesst. Gleichsam wie einen Gott hat das Schicksal den Dichter ueber dieses alles hinuebergesetzt. Er sieht das Gewirre der Leidenschaften, Familien und Reiche sich zwecklos bewegen, er sieht die unaufloeslichen Raetsel der Missverstaendnisse, denen oft nur ein einsilbiges Wort zur Entwicklung fehlt, unsaeglich verderbliche Verwirrungen verursachen. Er fuehlt das Traurige und das Freudige jedes Menschenschicksals mit. Wenn der Weltmensch in einer abzehrenden Melancholie ueber grossen Verlust seine Tage hinschleicht oder in ausgelassener Freude seinem Schicksale entgegengeht, so schreitet die empfaengliche, leichtbewegliche Seele des Dichters wie die wandelnde Sonne von Nacht zu Tag fort, und mit leisen uebergaengen stimmt seine Harfe zu Freude und Leid. Eingeboren auf dem Grund seines Herzens waechst die schoene Blume der Weisheit hervor, und wenn die andern wachend traeumen und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen geaengstiget werden, so lebt er den Traum des Lebens als ein Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer Wahrsager, Freund der Goetter und der Menschen. Wie! willst du, dass er zu einem kuemmerlichen Gewerbe heruntersteige? Er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu ueberschweben, auf hohen Gipfeln zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Fruechten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechselnd, zu nehmen, er sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund sich auf eine Faehrte gewoehnen oder vielleicht gar, an die Kette geschlossen, einen Meierhof durch sein Bellen sichern?" Werner hatte, wie man sich denken kann, mit Verwunderung zugehoert. "Wenn nur auch die Menschen", fiel er ihm ein, "wie die Voegel gemacht waeren und, ohne dass sie spinnen und weben, holdselige Tage in bestaendigem Genuss zubringen koennten! Wenn sie nur auch bei Ankunft des Winters sich so leicht in ferne Gegenden begaeben, dem Mangel auszuweichen und sich vor dem Froste zu sichern!" "So haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo das Ehrwuerdige mehr erkannt ward", rief Wilhelm aus, "und so sollten sie immer leben. Genugsam in ihrem Innersten ausgestattet, bedurften sie wenig von aussen; die Gabe, schoene Empfindungen, herrliche Bilder den Menschen in suessen, sich an jeden Gegenstand anschmiegenden Worten und Melodien mitzuteilen, bezauberte von jeher die Welt und war fuer den Begabten ein reichliches Erbteil. An der Koenige Hoefen, an den Tischen der Reichen, vor den Tueren der Verliebten horchte man auf sie, indem sich das Ohr und die Seele fuer alles andere verschloss, wie man sich seligpreist und entzueckt stillesteht, wenn aus den Gebueschen, durch die man wandelt, die Stimme der Nachtigall gewaltig ruehrend hervordringt! Sie fanden eine gastfreie Welt, und ihr niedrig scheinender Stand erhoehte sie nur desto mehr. Der Held lauschte ihren Gesaengen, und der ueberwinder der Welt huldigte einem Dichter, weil er fuehlte, dass ohne diesen sein ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vorueberfahren wuerde; der Liebende wuenschte sein Verlangen und seinen Genuss so tausendfach und so harmonisch zu fuehlen, als ihn die beseelte Lippe zu schildern verstand; und selbst der Reiche konnte seine Besitztuemer, seine Abgoetter, nicht mit eigenen Augen so kostbar sehen, als sie ihm vom Glanz des allen Wert fuehlenden und erhoehenden Geistes beleuchtet erschienen. Ja, wer hat, wenn du willst, Goetter gebildet, uns zu ihnen erhoben, sie zu uns herniedergebracht, als der Dichter?" "Mein Freund", versetzte Werner nach einigem Nachdenken, "ich habe schon oft bedauert, dass du das, was du so lebhaft fuehlst, mit Gewalt aus deiner Seele zu verbannen strebst. Ich muesste mich sehr irren, wenn du nicht besser taetest, dir selbst einigermassen nachzugeben, als dich durch die Widersprueche eines so harten Entsagens aufzureiben und dir mit der einen unschuldigen Freude den Genuss aller uebrigen zu entziehen." "Darf ich dir's gestehen, mein Freund",versetzte der andre, "und wirst du mich nicht laecherlich finden, wenn ich dir bekenne, dass jene Bilder mich noch immer verfolgen, sosehr ich sie fliehe, und dass, wenn ich mein Herz untersuche, alle fruehen Wuensche fest, ja noch fester als sonst darin haften? Doch was bleibt mir Ungluecklichem gegenwaertig uebrig? Ach, wer mir vorausgesagt haette, dass die Arme meines Geistes so bald zerschmettert werden sollten, mit denen ich ins Unendliche griff und mit denen ich doch gewiss ein Grosses zu umfassen hoffte, wer mir das vorausgesagt haette, wuerde mich zur Verzweiflung gebracht haben. Und noch jetzt, da das Gericht ueber mich ergangen ist, jetzt, da ich die verloren habe, die anstatt einer Gottheit mich zu meinen Wuenschen hinueberfuehren sollte, was bleibt mir uebrig, als mich den bittersten Schmerzen zu ueberlassen? O mein Bruder", fuhr er fort, "ich leugne nicht, sie war mir bei meinen heimlichen Anschlaegen der Kloben, an den eine Strickleiter befestigt ist; gefaehrlich hoffend schwebt der Abenteurer in der Luft, das Eisen bricht, und er liegt zerschmettert am Fusse seiner Wuensche. Es ist auch nun fuer mich kein Trost, keine Hoffnung mehr! Ich werde", rief er aus, indem er aufsprang, "von diesen unglueckseligen Papieren keines uebriglassen." Er fasste abermals ein paar Hefte an, riss sie auf und warf sie ins Feuer. Werner wollte ihn abhalten, aber vergebens. "Lass mich!" rief Wilhelm, "was sollen diese elenden Blaetter? Fuer mich sind sie weder Stufe noch Aufmunterung mehr. Sollen sie uebrigbleiben, um mich bis ans Ende meines Lebens zu peinigen? Sollen sie vielleicht einmal der Welt zum Gespoette dienen, anstatt Mitleiden und Schauer zu erregen? Weh ueber mich und ueber mein Schicksal! Nun verstehe ich erst die Klagen der Dichter, der aus Not weise gewordnen Traurigen. Wie lange hielt ich mich fuer unzerstoerbar, fuer unverwundlich, und ach! nun seh ich, dass ein tiefer frueher Schade nicht wieder auswachsen, sich nicht wieder herstellen kann; ich fuehle, dass ich ihn mit ins Grab nehmen muss. Nein! keinen Tag des Lebens soll der Schmerz von mir weichen, der mich noch zuletzt umbringt, und auch ihr Andenken soll bei mir bleiben, mit mir leben und sterben, das Andenken der Unwuerdigen--ach, mein Freund! wenn ich von Herzen reden soll--der gewiss nicht ganz Unwuerdigen! Ihr Stand, ihre Schicksale haben sie tausendmal bei mir entschuldigt. Ich bin zu grausam gewesen, du hast mich in deine Kaelte, in deine Haerte unbarmherzig eingeweiht, meine zerruetteten Sinne gefangengehalten und mich verhindert, das fuer sie und fuer mich zu tun, was ich uns beiden schuldig war. Wer weiss, in welchen Zustand ich sie versetzt habe, und erst nach und nach faellt mir's aufs Gewissen, in welcher Verzweiflung, in welcher Huelflosigkeit ich sie verliess! War's nicht moeglich, dass sie sich entschuldigen konnte? War's nicht moeglich? Wieviel Missverstaendnisse koennen die Welt verwirren, wieviel Umstaende koennen dem groessten Fehler Vergebung erflehen!--Wie oft denke ich mir sie, in der Stille fuer sich sitzend, auf ihren Ellenbogen gestuetzt.--"Das ist", sagt sie, "die Treue, die Liebe, die er mir zuschwur! Mit diesem unsanften Schlag das schoene Leben zu endigen, das uns verband!""--Er brach in einen Strom von Traenen aus, indem er sich mit dem Gesichte auf den Tisch warf und die uebergebliebenen Papiere benetzte. Werner stand in der groessten Verlegenheit dabei. Er hatte sich dieses rasche Auflodern der Leidenschaft nicht vermutet. Etlichemal wollte er seinem Freunde in die Rede fallen, etlichemal das Gespraech woandershin lenken, vergebens! er widerstand dem Strome nicht. Auch hier uebernahm die ausdauernde Freundschaft wieder ihr Amt. Er liess den heftigsten Anfall des Schmerzens vorueber, indem er durch seine stille Gegenwart eine aufrichtige, reine Teilnehmung am besten sehen liess, und so blieben sie diesen Abend; Wilhelm ins stille Nachgefuehl des Schmerzens versenkt und der andere erschreckt durch den neuen Ausbruch einer Leidenschaft, die er lange bemeistert und durch guten Rat und eifriges Zureden ueberwaeltigt zu haben glaubte. II. Buch, 3. Kapitel Drittes Kapitel Nach solchen Rueckfaellen pflegte Wilhelm meist nur desto eifriger sich den Geschaeften und der Taetigkeit zu widmen, und es war der beste Weg, dem Labyrinthe, das ihn wieder anzulocken suchte, zu entfliehen. Seine gute Art, sich gegen Fremde zu betragen, seine Leichtigkeit, fast in allen lebenden Sprachen Korrespondenz zu fuehren, gaben seinem Vater und dessen Handelsfreunde immer mehr Hoffnung und troesteten sie ueber die Krankheit, deren Ursache ihnen nicht bekannt geworden war, und ueber die Pause, die ihren Plan unterbrochen hatte. Man beschloss Wilhelms Abreise zum zweitenmal, und wir finden ihn auf seinem Pferde, den Mantelsack hinter sich, erheitert durch freie Luft und Bewegung, dem Gebirge sich naehern, wo er einige Auftraege ausrichten sollte. Er durchstrich langsam Taeler und Berge mit der Empfindung des groessten Vergnuegens. ueberhangende Felsen, rauschende Wasserbaeche, bewachsene Waende, tiefe Gruende sah er hier zum erstenmal, und doch hatten seine fruehsten Jugendtraeume schon in solchen Gegenden geschwebt. Er fuehlte sich bei diesem Anblicke wieder verjuengt; alle erduldeten Schmerzen waren aus seiner Seele weggewaschen, und mit voelliger Heiterkeit sagte er sich Stellen aus verschiedenen Gedichten, besonders aus dem "Pastor fido" vor, die an diesen einsamen Plaetzen scharenweis seinem Gedaechtnisse zuflossen. Auch erinnerte er sich mancher Stellen aus seinen eigenen Liedern, die er mit einer besondern Zufriedenheit rezitierte. Er belebte die Welt, die vor ihm lag, mit allen Gestalten der Vergangenheit, und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahnung wichtiger Handlungen und merkwuerdiger Begebenheiten. Mehrere Menschen, die aufeinanderfolgend hinter ihm herkamen, an ihm mit einem Grusse vorbeigingen und den Weg ins Gebirge, durch steile Fusspfade, eilig fortsetzten, unterbrachen einigemal seine stille Unterhaltung, ohne dass er jedoch aufmerksam auf sie geworden waere. Endlich gesellte sich ein gespraechiger Gefaehrte zu ihm und erzaehlte die Ursache der starken Pilgerschaft. "Zu Hochdorf", sagte er, "wird heute abend eine Komoedie gegeben, wozu sich die ganze Nachbarschaft versammelt." "Wie!" rief Wilhelm, "in diesen einsamen Gebirgen, zwischen diesen undurchdringlichen Waeldern hat die Schauspielkunst einen Weg gefunden und sich einen Tempel aufgebaut? und ich muss zu ihrem Feste wallfahrten?" "Sie werden sich noch mehr wundern", sagte der andere, "wenn Sie hoeren, durch wen das Stueck aufgefuehrt wird. Es ist eine grosse Fabrik in dem Orte, die viel Leute ernaehrt. Der Unternehmer, der sozusagen von aller menschlichen Gesellschaft entfernt lebt, weiss seine Arbeiter im Winter nicht besser zu beschaeftigen, als dass er sie veranlasst hat, Komoedie zu spielen. Er leidet keine Karten unter ihnen und wuenscht sie auch sonst von rohen Sitten abzuhalten. So bringen sie die langen Abende zu, und heute, da des Alten Geburtstag ist, geben sie ihm zu Ehren eine besondere Festlichkeit." Wilhelm kam zu Hochdorf an, wo er uebernachten sollte, und stieg bei der Fabrik ab, deren Unternehmer auch als Schuldner auf seiner Liste stand. Als er seinen Namen nannte, rief der Alte verwundert aus: "Ei, mein Herr, sind Sie der Sohn des braven Mannes, dem ich so viel Dank und bis jetzt noch Geld schuldig bin? Ihr Herr Vater hat so viel Geduld mit mir gehabt, dass ich ein Boesewicht sein muesste, wenn ich nicht eilig und froehlich bezahlte. Sie kommen eben zur rechten Zeit, um zu sehen, dass es mir Ernst ist." Er rief seine Frau herbei, welche ebenso erfreut war, den jungen Mann zu sehen; sie versicherte, dass er seinem Vater gleiche, und bedauerte, dass sie ihn wegen der vielen Fremden die Nacht nicht beherbergen koenne. Das Geschaeft war klar und bald berichtigt; Wilhelm steckte ein Roellchen Gold in die Tasche und wuenschte, dass seine uebrigen Geschaefte auch so leicht gehen moechten. Die Stunde des Schauspiels kam heran, man erwartete nur noch den Oberforstmeister, der endlich auch anlangte, mit einigen Jaegern eintrat und mit der groessten Verehrung empfangen wurde. Die Gesellschaft wurde nunmehr ins Schauspielhaus gefuehrt, wozu man eine Scheune eingerichtet hatte, die gleich am Garten lag. Haus und Theater waren, ohne sonderlichen Geschmack, munter und artig genug angelegt. Einer von den Malern, die auf der Fabrik arbeiteten, hatte bei dem Theater in der Residenz gehandlangt und hatte nun Wald, Strasse und Zimmer, freilich etwas roh, hingestellt. Das Stueck hatten sie von einer herumziehenden Truppe geborgt und nach ihrer eigenen Weise zurechtgeschnitten. So wie es war, unterhielt es. Die Intrige, dass zwei Liebhaber ein Maedchen ihrem Vormunde und wechselsweise sich selbst entreissen wollen, brachte allerlei interessante Situationen hervor. Es war das erste Stueck, das unser Freund nach einer so langen Zeit wieder sah; er machte mancherlei Betrachtungen. Es war voller Handlung, aber ohne Schilderung wahrer Charaktere. Es gefiel und ergoetzte. So sind die Anfaenge aller Schauspielkunst. Der rohe Mensch ist zufrieden, wenn er nur etwas vorgehen sieht; der gebildete will empfinden, und Nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten angenehm. Den Schauspielern haette er hie und da gerne nachgeholfen; denn es fehlte nur wenig, so haetten sie um vieles besser sein koennen. In seinen stillen Betrachtungen stoerte ihn der Tabaksdampf, der immer staerker und staerker wurde. Der Oberforstmeister hatte bald nach Anfang des Stuecks seine Pfeife angezuendet, und nach und nach nahmen sich mehrere diese Freiheit heraus. Auch machten die grossen Hunde dieses Herrn schlimme Auftritte. Man hatte sie zwar ausgesperrt; allein sie fanden bald den Weg zur Hintertuere herein, liefen auf das Theater, rannten wider die Akteurs und gesellten sich endlich durch einen Sprung ueber das Orchester zu ihrem Herrn, der den ersten Platz im Parterre eingenommen hatte. Zum Nachspiel ward ein Opfer dargebracht. Ein Portraet, das den Alten in seinem Braeutigamskleide vorstellte, stand auf einem Altar, mit Kraenzen behangen. Alle Schauspieler huldigten ihm in demutvollen Stellungen. Das juengste Kind trat, weiss gekleidet, hervor und hielt eine Rede in Versen, wodurch die ganze Familie und sogar der Oberforstmeister, der sich dabei an seine Kinder erinnerte, zu Traenen bewegt wurde. So endigte sich das Stueck, und Wilhelm konnte nicht umhin, das Theater zu besteigen, die Aktricen in der Naehe zu besehen, sie wegen ihres Spiels zu loben und ihnen auf die Zukunft einigen Rat zu geben. Die uebrigen Geschaefte unsers Freundes, die er nach und nach in groessern und kleinern Gebirgsorten verrichtete, liefen nicht alle so gluecklich noch so vergnuegt ab. Manche Schuldner baten um Aufschub, manche waren unhoeflich, manche leugneten. Nach seinem Auftrage sollte er einige verklagen; er musste einen Advokaten aufsuchen, diesen instruieren, sich vor Gericht stellen und was dergleichen verdriessliche Geschaefte noch mehr waren. Ebensoschlimm erging es ihm, wenn man ihm eine Ehre erzeigen wollte. Nur wenig Leute fand er, die ihn einigermassen unterrichten konnten; wenige, mit denen er in ein nuetzliches Handelsverhaeltnis zu kommen hoffte. Da nun auch ungluecklicherweise Regentage einfielen und eine Reise zu Pferd in diesen Gegenden mit unertraeglichen Beschwerden verknuepft war, so dankte er dem Himmel, als er sich dem flachen Lande wieder naeherte und am Fusse des Gebirges in einer schoenen und fruchtbaren Ebene, an einem sanften Flusse, im Sonnenscheine ein heiteres Landstaedtchen liegen sah, in welchem er zwar keine Geschaefte hatte, aber eben deswegen sich entschloss, ein paar Tage daselbst zu verweilen, um sich und seinem Pferde, das von dem schlimmen Wege sehr gelitten hatte, einige Erholung zu verschaffen. II. Buch, 4. Kapitel--1 Viertes Kapitel Als er in einem Wirtshause auf dem Markte abtrat, ging es darin sehr lustig, wenigstens sehr lebhaft zu. Eine grosse Gesellschaft Seiltaenzer, Springer und Gaukler, die einen starken Mann bei sich hatten, waren mit Weib und Kindern eingezogen und machten, indem sie sich auf eine oeffentliche Erscheinung bereiteten, einen Unfug ueber den andern. Bald stritten sie mit dem Wirte, bald unter sich selbst; und wenn ihr Zank unleidlich war, so waren die aeusserungen ihres Vergnuegens ganz und gar unertraeglich. Unschluessig, ob er gehen oder bleiben sollte, stand er unter dem Tore und sah den Arbeitern zu, die auf dem Platze ein Geruest aufzuschlagen anfingen. Ein Maedchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren Korb dar, und er kaufte sich einen schoenen Strauss, den er mit Liebhaberei anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenster eines an der Seite des Platzes stehenden andern Gasthauses sich auftat und ein wohlgebildetes Frauenzimmer sich an demselben zeigte. Er konnte ungeachtet der Entfernung bemerken, dass eine angenehme Heiterkeit ihr Gesicht belebte. Ihre blonden Haare fielen nachlaessig aufgeloest um ihren Nacken; sie schien sich nach dem Fremden umzusehen. Einige Zeit darauf trat ein Knabe, der eine Frisierschuerze umgeguertet und ein weisses Jaeckchen anhatte, aus der Tuere jenes Hauses, ging auf Wilhelmen zu, begruesste ihn und sagte: "Das Frauenzimmer am Fenster laesst Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der schoenen Blumen abtreten wollen?"--"Sie stehn ihr alle zu Diensten", versetzte Wilhelm, indem er dem leichten Boten das Bouquet ueberreichte und zugleich der Schoenen ein Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengruss erwiderte und sich vom Fenster zurueckzog. Nachdenkend ueber dieses artige Abenteuer ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Geschoepf ihm entgegensprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidnes Westchen mit geschlitzten spanischen aermeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und Zoepfen um den Kopf gekraeuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung an und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie fuer einen Knaben oder fuer ein Maedchen erklaeren sollte. Doch entschied er sich bald fuer das letzte und hielt sie auf, da sie bei ihm vorbeikam, bot ihr einen guten Tag und fragte sie, wem sie angehoere, ob er schon leicht sehen konnte, dass sie ein Glied der springenden und tanzenden Gesellschaft sein muesse. Mit einem scharfen schwarzen Seitenblick sah sie ihn an, indem sie sich von ihm losmachte und in die Kueche lief, ohne zu antworten. Als er die Treppe hinaufkam, fand er auf dem weiten Vorsaale zwei Mannspersonen, die sich im Fechten uebten oder vielmehr ihre Geschicklichkeit aneinander zu versuchen schienen. Der eine war offenbar von der Gesellschaft, die sich im Hause befand, der andere hatte ein weniger wildes Ansehn. Wilhelm sah ihnen zu und hatte Ursache, sie beide zu bewundern, und als nicht lange darauf der schwarzbaertige, nervige Streiter den Kampfplatz verliess, bot der andere mit vieler Artigkeit Wilhelmen das Rapier an. "Wenn Sie einen Schueler", versetzte dieser, "in die Lehre nehmen wollen, so bin ich wohl zufrieden, mit Ihnen einige Gaenge zu wagen." Sie fochten zusammen, und obgleich der Fremde dem Ankoemmling weit ueberlegen war, so war er doch hoeflich genug zu versichern, dass alles nur auf uebung ankomme; und wirklich hatte Wilhelm auch gezeigt, dass er frueher von einem guten und gruendlichen deutschen Fechtmeister unterrichtet worden war. Ihre Unterhaltung ward durch das Getoese unterbrochen, mit welchem die bunte Gesellschaft aus dem Wirtshause auszog, um die Stadt von ihrem Schauspiel zu benachrichtigen und auf ihre Kuenste begierig zu machen. Einem Tambour folgte der Entrepreneur zu Pferde, hinter ihm eine Taenzerin auf einem aehnlichen Gerippe, die ein Kind vor sich hielt, das mit Baendern und Flintern wohl herausgeputzt war. Darauf kam die uebrige Truppe zu Fuss, wovon einige auf ihren Schultern Kinder, in abenteuerlichen Stellungen, leicht und bequem dahertrugen, unter denen die junge, schwarzkoepfige, duestere Gestalt Wilhelms Aufmerksamkeit aufs neue erregte. Pagliasso lief unter der andringenden Menge drollig hin und her und teilte mit sehr begreiflichen Spaessen, indem er bald ein Maedchen kuesste, bald einen Knaben pritschte, seine Zettel aus und erweckte unter dem Volke eine unueberwindliche Begierde, ihn naeher kennenzulernen. In den gedruckten Anzeigen waren die mannigfaltigen Kuenste der Gesellschaft, besonders eines Monsieur Narziss und der Demoiselle Landrinette herausgestrichen, welche beide als Hauptpersonen die Klugheit gehabt hatten, sich von dem Zuge zu enthalten, sich dadurch ein vornehmeres Ansehn zu geben und groessere Neugier zu erwecken. Waehrend des Zuges hatte sich auch die schoene Nachbarin wieder am Fenster sehen lassen, und Wilhelm hatte nicht verfehlt, sich bei seinem Gesellschafter nach ihr zu erkundigen. Dieser, den wir einstweilen Laertes nennen wollen, erbot sich, Wilhelmen zu ihr hinueber zu begleiten. "Ich und das Frauenzimmer", sagte er laechelnd, "sind ein paar Truemmer einer Schauspielergesellschaft, die vor kurzem hier scheiterte. Die Anmut des Orts hat uns bewogen, einige Zeit hier zu bleiben und unsre wenige gesammelte Barschaft in Ruhe zu verzehren, indes ein Freund ausgezogen ist, ein Unterkommen fuer sich und uns zu suchen." Laertes begleitete sogleich seinen neuen Bekannten zu Philinens Tuere, wo er ihn einen Augenblick stehenliess, um in einem benachbarten Laden Zuckerwerk zu holen. "Sie werden mir es gewiss danken", sagte er, indem er zurueckkam, "dass ich Ihnen diese artige Bekanntschaft verschaffe." Das Frauenzimmer kam ihnen auf ein Paar leichten Pantoeffelchen mit hohen Absaetzen aus der Stube entgegengetreten. Sie hatte eine schwarze Mantille ueber ein weisses Neglige geworfen, das, eben weil es nicht ganz reinlich war, ihr ein haeusliches und bequemes Ansehn gab; ihr kurzes Roeckchen liess die niedlichsten Fuesse von der Welt sehen. "Sein Sie mir willkommen!" rief sie Wilhelmen zu, "und nehmen Sie meinen Dank fuer die schoenen Blumen." Sie fuehrte ihn mit der einen Hand ins Zimmer, indem sie mit der andern den Strauss an die Brust drueckte. Als sie sich niedergesetzt hatten und in gleichgueltigen Gespraechen begriffen waren, denen sie eine reizende Wendung zu geben wusste, schuettete ihr Laertes gebrannte Mandeln in den Schoss, von denen sie sogleich zu naschen anfing. "Sehn Sie, welch ein Kind dieser junge Mensch ist!" rief sie aus, "er wird Sie ueberreden wollen, dass ich eine grosse Freundin von solchen Naeschereien sei, und er ist's, der nicht leben kann, ohne irgend etwas Leckeres zu geniessen." "Lassen Sie uns nur gestehn", versetzte Laertes, "dass wir hierin, wie in mehrerem, einander gern Gesellschaft leisten. Zum Beispiel", sagte er, "es ist heute ein sehr schoener Tag; ich daechte, wir fuehren spazieren und naehmen unser Mittagsmahl auf der Muehle."--"Recht gern", sagte Philine, "wir muessen unserm neuen Bekannten eine kleine Veraenderung machen." Laertes sprang fort, denn er ging niemals, und Wilhelm wollte einen Augenblick nach Hause, um seine Haare, die von der Reise noch verworren aussahen, in Ordnung bringen zu lassen. "Das koennen Sie hier!" sagte sie, rief ihren kleinen Diener, noetigte Wilhelmen auf die artigste Weise, seinen Rock auszuziehen, ihren Pudermantel anzulegen und sich in ihrer Gegenwart frisieren zu lassen. "Man muss ja keine Zeit versaeumen", sagte sie; "man weiss nicht, wie lange man beisammen bleibt." Der Knabe, mehr trotzig und unwillig als ungeschickt, benahm sich nicht zum besten, raufte Wilhelmen und schien so bald nicht fertig werden zu wollen. Philine verwies ihm einigemal seine Unart, stiess ihn endlich ungeduldig hinweg und jagte ihn zur Tuere hinaus. Nun uebernahm sie selbst die Bemuehung und kraeuselte die Haare unsers Freundes mit grosser Leichtigkeit und Zierlichkeit, ob sie gleich auch nicht zu eilen schien und bald dieses, bald jenes an ihrer Arbeit auszusetzen hatte, indem sie nicht vermeiden konnte, mit ihren Knien die seinigen zu beruehren und Strauss und Busen so nahe an seine Lippen zu bringen, dass er mehr als einmal in Versuchung gesetzt ward, einen Kuss darauf zu druecken. Als Wilhelm mit einem kleinen Pudermesser seine Stirne gereinigt hatte, sagte sie zu ihm: "Stecken Sie es ein, und gedenken Sie meiner dabei." Es war ein artiges Messer; der Griff von eingelegtem Stahl zeigte die freundlichen Worte: "Gedenkt mein". Wilhelm steckte es zu sich, dankte ihr und bat um die Erlaubnis, ihr ein kleines Gegengeschenk machen zu duerfen. Nun war man fertig geworden. Laertes hatte die Kutsche gebracht, und nun begann eine sehr lustige Fahrt. Philine warf jedem Armen, der sie anbettelte, etwas zum Schlage hinaus, indem sie ihm zugleich ein munteres und freundliches Wort zurief. Sie waren kaum auf der Muehle angekommen und hatten ein Essen bestellt, als eine Musik vor dem Hause sich hoeren liess. Es waren Bergleute, die zu Zither und Triangel mit lebhaften und grellen Stimmen verschiedene artige Lieder vortrugen. Es dauerte nicht lange, so hatte eine herbeistroemende Menge einen Kreis um sie geschlossen, und die Gesellschaft nickte ihnen ihren Beifall aus den Fenstern zu. Als sie diese Aufmerksamkeit gesehen, erweiterten sie ihren Kreis und schienen sich zu ihrem wichtigsten Stueckchen vorzubereiten. Nach einer Pause trat ein Bergmann mit einer Hacke hervor und stellte, indes die andern eine ernsthafte Melodie spielten, die Handlung des Schuerfens vor. Es waehrte nicht lange, so trat ein Bauer aus der Menge und gab jenem pantomimisch drohend zu verstehen, dass er sich von hier hinwegbegeben solle. Die Gesellschaft war darueber verwundert und erkannte erst den in einen Bauer verkleideten Bergmann, als er den Mund auftat und in einer Art von Rezitativ den andern schalt, dass er wage, auf seinem Acker zu hantieren. Jener kam nicht aus der Fassung, sondern fing an, den Landmann zu belehren, dass er recht habe, hier einzuschlagen, und gab ihm dabei die ersten Begriffe vom Bergbau. Der Bauer, der die fremde Terminologie nicht verstand, tat allerlei alberne Fragen, worueber die Zuschauer, die sich klueger fuehlten, ein herzliches Gelaechter aufschlugen. Der Bergmann suchte ihn zu berichten und bewies ihm den Vorteil, der zuletzt auch auf ihn fliesse, wenn die unterirdischen Schaetze des Landes herausgewuehlt wuerden. Der Bauer, der jenem zuerst mit Schlaegen gedroht hatte, liess sich nach und nach besaenftigen, und sie schieden als gute Freunde voneinander; besonders aber zog sich der Bergmann auf die honorabelste Art aus diesem Streite. "Wir haben", sagte Wilhelm bei Tische, "an diesem kleinen Dialog das lebhafteste Beispiel, wie nuetzlich allen Staenden das Theater sein koennte, wie vielen Vorteil der Staat selbst daraus ziehen muesste, wenn man die Handlungen, Gewerbe und Unternehmungen der Menschen von ihrer guten, lobenswuerdigen Seite und in dem Gesichtspunkte auf das Theater braechte, aus welchem sie der Staat selbst ehren und schuetzen muss. Jetzt stellen wir nur die laecherliche Seite der Menschen dar; der Lustspieldichter ist gleichsam nur ein haemischer Kontrolleur, der auf die Fehler seiner Mitbuerger ueberall ein wachsames Auge hat und froh zu sein scheint, wenn er ihnen eins anhaengen kann. Sollte es nicht eine angenehme und wuerdige Arbeit fuer einen Staatsmann sein, den natuerlichen, wechselseitigen Einfluss aller Staende zu ueberschauen und einen Dichter, der Humor genug haette, bei seinen Arbeiten zu leiten? Ich bin ueberzeugt, es koennten auf diesem Wege manche sehr unterhaltende, zugleich nuetzliche und lustige Stuecke ersonnen werden." "Soviel ich", sagte Laertes, "ueberall, wo ich herumgeschwaermt bin, habe bemerken koennen, weiss man nur zu verbieten, zu hindern und abzulehnen; selten aber zu gebieten, zu befoerdern und zu belohnen. Man laesst alles in der Welt gehn, bis es schaedlich wird; dann zuernt man und schlaegt drein." "Lasst mit den Staat und die Staatsleute weg", sagte Philine, "ich kann mir sie nicht anders als in Peruecken vorstellen, und eine Peruecke, es mag sie aufhaben, wer da will, erregt in meinen Fingern eine krampfhafte Bewegung; ich moechte sie gleich dem ehrwuerdigen Herrn herunternehmen, in der Stube herumspringen und den Kahlkopf auslachen." Mit einigen lebhaften Gesaengen, welche sie sehr schoen vortrug, schnitt Philine das Gespraech ab und trieb zu einer schnellen Rueckfahrt, damit man die Kuenste der Seiltaenzer am Abende zu sehen nicht versaeumen moechte. Drollig bis zur Ausgelassenheit, setzte sie ihre Freigebigkeit gegen die Armen auf dem Heimwege fort, indem sie zuletzt, da ihr und ihren Reisegefaehrten das Geld ausging, einem Maedchen ihren Strohhut und einem alten Weibe ihr Halstuch zum Schlage hinauswarf. Philine lud beide Begleiter zu sich in ihre Wohnung, weil man, wie sie sagte, aus ihren Fenstern das oeffentliche Schauspiel besser als im andern Wirtshause sehen koenne. Als sie ankamen, fanden sie das Geruest aufgeschlagen und den Hintergrund mit aufgehaengten Teppichen geziert. Die Schwungbretter waren schon gelegt, das Schlappseil an die Pfosten befestigt und das straffe Seil ueber die Boecke gezogen. Der Platz war ziemlich mit Volk gefuellt und die Fenster mit Zuschauern einiger Art besetzt. Pagliass bereitete erst die Versammlung mit einigen Albernheiten, worueber die Zuschauer immer zu lachen pflegen, zur Aufmerksamkeit und guten Laune vor. Einige Kinder, deren Koerper die seltsamsten Verrenkungen darstellten, erregten bald Verwunderung, bald Grausen, und Wilhelm konnte sich des tiefen Mitleidens nicht enthalten, als er das Kind, an dem er beim ersten Anblicke teilgenommen, mit einiger Muehe die sonderbaren Stellungen hervorbringen sah. Doch bald erregten die lustigen Springer ein lebhaftes Vergnuegen, wenn sie erst einzeln, dann hintereinander und zuletzt alle zusammen sich vorwaerts und rueckwaerts in der Luft ueberschlugen. Ein lautes Haendeklatschen und Jauchzen erscholl aus der ganzen Versammlung. Nun aber ward die Aufmerksamkeit auf einen ganz andern Gegenstand gewendet. Die Kinder, eins nach dem andern, mussten das Seil betreten, und zwar die Lehrlinge zuerst, damit sie durch ihre uebungen das Schauspiel verlaengerten und die Schwierigkeit der Kunst ins Licht setzten. Es zeigten sich auch einige Maenner und erwachsene Frauenspersonen mit ziemlicher Geschicklichkeit; allein es war noch nicht Monsieur Narziss, noch nicht Demoiselle Landrinette. Endlich traten auch diese aus einer Art von Zelt hinter aufgespannten roten Vorhaengen hervor und erfuellten durch ihre angenehme Gestalt und zierlichen Putz die bisher gluecklich genaehrte Hoffnung der Zuschauer. Er ein munteres Buerschchen von mittlerer Groesse, schwarzen Augen und einem starken Haarzopf; sie nicht minder wohl und kraeftig gebildet; beide zeigten sich nacheinander auf dem Seile mit leichten Bewegungen, Spruengen und seltsamen Posituren. Ihre Leichtigkeit, seine Verwegenheit, die Genauigkeit, womit beide ihre Kunststuecke ausfuehrten, erhoehten mit jedem Schritt und Sprung das allgemeine Vergnuegen. Der Anstand, womit sie sich betrugen, die anscheinenden Bemuehungen der andern um sie gaben ihnen das Ansehn, als wenn sie Herr und Meister der ganzen Truppe waeren, und jedermann hielt sie des Ranges wert. Die Begeisterung des Volks teilte sich den Zuschauern an den Fenstern mit, die Damen sahen unverwandt nach Narzissen, die Herren nach Landrinetten. Das Volk jauchzte, und das feinere Publikum enthielt sich nicht des Klatschens; kaum dass man noch ueber Pagliassen lachte. Wenige nur schlichen sich weg, als einige von der Truppe, um Geld zu sammeln, sich mit zinnernen Tellern durch die Menge draengten. "Sie haben ihre Sache, duenkt mich, gut gemacht", sagte Wilhelm zu Philinen, die bei ihm am Fenster lag, "ich bewundere ihren Verstand, womit sie auch geringe Kunststueckchen, nach und nach und zur rechten Zeit angebracht, gelten zu machen wussten, und wie sie aus der Ungeschicklichkeit ihrer Kinder und aus der Virtuositaet ihrer Besten ein Ganzes zusammenarbeiteten, das erst unsre Aufmerksamkeit erregte und dann uns auf das angenehmste unterhielt." Das Volk hatte sich nach und nach verlaufen, und der Platz war leer geworden, indes Philine und Laertes ueber die Gestalt und die Geschicklichkeit Narzissens und Landrinettens in Streit gerieten und sich wechselsweise neckten. Wilhelm sah das wunderbare Kind auf der Strasse bei andern spielenden Kindern stehen, machte Philinen darauf aufmerksam, die sogleich nach ihrer lebhaften Art dem Kinde rief und winkte und, da es nicht kommen wollte, singend die Treppe hinunterklapperte und es herauffuehrte. II. Buch, 4. Kapitel--2 "Hier ist das Raetsel", rief sie, als sie das Kind zur Tuere hereinzog. Es blieb am Eingange stehen, eben als wenn es gleich wieder hinausschluepfen wollte, legte die rechte Hand vor die Brust, die linke vor die Stirn und bueckte sich tief. "Fuerchte dich nicht, liebe Kleine", sagte Wilhelm, indem er auf sie losging. Sie sah ihn mit unsicheren Blick an und trat einige Schritte naeher. "Wie nennest du dich?" fragte er. "Sie heissen mich Mignon. "--"Wieviel Jahre hast du?"--"Es hat sie niemand gezaehlt."--"Wer war dein Vater?"--"Der grosse Teufel ist tot." "Nun, das ist wunderlich genug!" rief Philine aus. Man fragte sie noch einiges; sie brachte ihre Antworten in einem gebrochenen Deutsch und mit einer sonderbar feierlichen Art vor; dabei legte sie jedesmal die Haende an Brust und Haupt und neigte sich tief. Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen. Seine Augen und sein Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustande dieses Wesens angezogen. Er schaetzte sie zwoelf bis dreizehn Jahre; ihr Koerper war gut gebaut, nur dass ihre Glieder einen staerkern Wuchs versprachen oder einen zurueckgehaltenen ankuendigten. Ihre Bildung war nicht regelmaessig, aber auffallend; ihre Stirne geheimnisvoll, ihre Nase ausserordentlich schoen, und der Mund, ob er schon fuer ihr Alter zu sehr geschlossen schien und sie manchmal mit den Lippen nach einer Seite zuckte, noch immer treuherzig und reizend genug. Ihre braeunliche Gesichtsfarbe konnte man durch die Schminke kaum erkennen. Diese Gestalt praegte sich Wilhelmen sehr tief ein; er sah sie noch immer an, schwieg und vergass der Gegenwaertigen ueber seinen Betrachtungen. Philine weckte ihn aus seinem Halbtraume, indem sie dem Kinde etwas uebriggebliebenes Zuckerwerk reichte und ihm ein Zeichen gab, sich zu entfernen. Es machte seinen Bueckling wie oben und fuhr blitzschnell zur Tuere hinaus. Als die Zeit nunmehr herbeikam, dass unsre neuen Bekannten sich fuer diesen Abend trennen sollten, redeten sie vorher noch eine Spazierfahrt auf den morgenden Tag ab. Sie wollten abermals an einem andern Orte, auf einem benachbarten Jaegerhause, ihr Mittagsmahl einnehmen. Wilhelm sprach diesen Abend noch manches zu Philinens Lobe, worauf Laertes nur kurz und leichtsinnig antwortete. Den andern Morgen, als sie sich abermals eine Stunde im Fechten geuebt hatten, gingen sie nach Philinens Gasthofe, vor welchem sie die bestellte Kutsche schon hatten anfahren sehen. Aber wie verwundert war Wilhelm, als die Kutsche verschwunden, und wie noch mehr, als Philine nicht zu Hause anzutreffen war. Sie hatte sich, so erzaehlte man, mit ein paar Fremden, die diesen Morgen angekommen waren, in den Wagen gesetzt und war mit ihnen davongefahren. Unser Freund, der sich in ihrer Gesellschaft eine angenehme Unterhaltung versprochen hatte, konnte seinen Verdruss nicht verbergen. Dagegen lachte Laertes und rief: "So gefaellt sie mir! Das sieht ihr ganz aehnlich! Lassen Sie uns nur gerade nach dem Jagdhause gehen; sie mag sein, wo sie will, wir wollen ihretwegen unsere Promenade nicht versaeumen." Als Wilhelm unterwegs diese Inkonsequenz des Betragens zu tadeln fortfuhr, sagte Laertes: "Ich kann nicht inkonsequent finden, wenn jemand seinem Charakter treu bleibt. Wenn sie sich etwas vornimmt oder jemanden etwas verspricht, so geschieht es nur unter der stillschweigenden Bedingung, dass es ihr auch bequem sein werde, den Vorsatz auszufuehren oder ihr Versprechen zu halten. Sie verschenkt gern, aber man muss immer bereit sein, ihr das Geschenkte wiederzugeben." "Dies ist ein seltsamer Charakter", versetzte Wilhelm. "Nichts weniger als seltsam, nur dass sie keine Heuchlerin ist. Ich liebe sie deswegen, ja ich bin ihr Freund, weil sie mir das Geschlecht so rein darstellt, das ich zu hassen so viel Ursache habe. Sie ist mir die wahre Eva, die Stammutter des weiblichen Geschlechts; so sind alle, nur wollen sie es nicht Wort haben." Unter mancherlei Gespraechen, in welchen Laertes seinen Hass gegen das weibliche Geschlecht sehr lebhaft ausdrueckte, ohne jedoch die Ursache davon anzugeben, waren sie in den Wald gekommen, in welchen Wilhelm sehr verstimmt eintrat, weil die aeusserungen des Laertes ihm die Erinnerung an sein Verhaeltnis zu Marianen wieder lebendig gemacht hatten. Sie fanden nicht weit von einer beschatteten Quelle unter herrlichen alten Baeumen Philinen allein an einem steinernen Tische sitzen. Sie sang ihnen ein lustiges Liedchen entgegen, und als Laertes nach ihrer Gesellschaft fragte, rief sie aus: "Ich habe sie schoen angefuehrt; ich habe sie zum besten gehabt, wie sie es verdienten. Schon unterwegs setzte ich ihre Freigebigkeit auf die Probe, und da ich bemerkte, dass sie von den kargen Naeschern waren, nahm ich mir gleich vor, sie zu bestrafen. Nach unsrer Ankunft fragten sie den Kellner, was zu haben sei, der mit der gewoehnlichen Gelaeufigkeit seiner Zunge alles, was da war, und mehr als da war, hererzaehlte. Ich sah ihre Verlegenheit, sie blickten einander an, stotterten und fragten nach dem Preise; "Was bedenken Sie sich lange", rief ich aus, "die Tafel ist das Geschaeft eines Frauenzimmers, lassen Sie mich dafuer sorgen." Ich fing darauf an, ein unsinniges Mittagmahl zu bestellen, wozu noch manches durch Boten aus der Nachbarschaft geholt werden sollte. Der Kellner, den ich durch ein paar schiefe Maeuler zum Vertrauten gemacht hatte, half mir endlich, und so haben wir sie durch die Vorstellung eines herrlichen Gastmahls dergestalt geaengstigt, dass sie sich kurz und gut zu einem Spaziergange in den Wald entschlossen, von dem sie wohl schwerlich zurueckkommen werden. Ich habe eine Viertelstunde auf meine eigene Hand gelacht und werde lachen, sooft ich an die Gesichter denke." Bei Tische erinnerte sich Laertes an aehnliche Faelle; sie kamen in den Gang, lustige Geschichten, Missverstaendnisse und Prellereien zu erzaehlen. Ein junger Mann von ihrer Bekanntschaft aus der Stadt kam mit einem Buche durch den Wald geschlichen, setzte sich zu ihnen und ruehmte den schoenen Platz. Er machte sie auf das Rieseln der Quelle, auf die Bewegung der Zweige, auf die einfallenden Lichter und auf den Gesang der Voegel aufmerksam. Philine sang ein Liedchen vom Kuckuck, welches dem Ankoemmling nicht zu behagen schien; er empfahl sich bald. "Wenn ich nur nichts mehr von Natur und Naturszenen hoeren sollte", rief Philine aus, als er weg war; "es ist nichts unertraeglicher, als sich das Vergnuegen vorrechnen zu lassen, das man geniesst. Wenn schoen Wetter ist, geht man spazieren, wie man tanzt wenn aufgespielt wird. Wer mag aber nur einen Augenblick an die Musik, wer ans schoene Wetter denken? Der Taenzer interessiert uns, nicht die Violine, und in ein Paar schoene schwarze Augen zu sehen, tut einem Paar blauen Augen gar zu wohl. Was sollen dagegen Quellen und Brunnen und alte, morsche Linden!" Sie sah, indem sie so sprach, Wilhelmen, der ihr gegenueber sass, mit einem Blick in die Augen, dem er nicht wehren konnte, wenigstens bis an die Tuere seines Herzens vorzudringen. "Sie haben recht", versetzte er mit einiger Verlegenheit, "der Mensch ist dem Menschen das Interessanteste und sollte ihn vielleicht ganz allein interessieren. Alles andere, was uns umgibt, ist entweder nur Element, in dem wir leben, oder Werkzeug, dessen wir uns bedienen. Je mehr wir uns dabei aufhalten, je mehr wir darauf merken und teil daran nehmen, desto schwaecher wird das Gefuehl unsers eignen Wertes und das Gefuehl der Gesellschaft. Die Menschen, die einen grossen Wert auf Gaerten, Gebaeude, Kleider, Schmuck oder irgend ein Besitztum legen, sind weniger gesellig und gefaellig; sie verlieren die Menschen aus den Augen, welche zu erfreuen und zu versammeln nur sehr wenigen glueckt. Sehn wir es nicht auch auf dem Theater? Ein guter Schauspieler macht uns bald eine elende, unschickliche Dekoration vergessen, dahingegen das schoenste Theater den Mangel an guten Schauspielern erst recht fuehlbar macht." Nach Tische setzte Philine sich in das beschattete hohe Gras. Ihre beiden Freunde mussten ihr Blumen in Menge herbeischaffen. Sie wand sich einen vollen Kranz und setzte ihn auf; sie sah unglaublich reizend aus. Die Blumen reichten noch zu einem andern hin; auch den flocht sie, indem sich beide Maenner neben sie setzten. Als er unter allerlei Scherz und Anspielungen fertig geworden war, drueckte sie ihn Wilhelmen mit der groessten Anmut aufs Haupt und rueckte ihn mehr als einmal anders, bis er recht zu sitzen schien. "Und ich werde, wie es scheint, leer ausgehen", sagte Laertes. "Mitnichten", versetzte Philine. "Ihr sollt Euch keinesweges beklagen." Sie nahm ihren Kranz vom Haupte und setzte ihn Laertes auf. "Waeren wir Nebenbuhler", sagte dieser, "so wuerden wir sehr heftig streiten koennen, welchen von beiden du am meisten beguenstigst." "Da waert ihr rechte Toren", versetzte sie, indem sie sich zu ihm hinueberbog und ihm den Mund zum Kuss reichte, sich aber sogleich umwendete, ihren Arm um Wilhelmen schlang und einen lebhaften Kuss auf seine Lippen drueckte. "Welcher schmeckt am besten?" fragte sie neckisch. "Wunderlich!" rief Laertes. "Es scheint, als wenn so etwas niemals nach Wermut schmecken koenne." "Sowenig", sagte Philine, "als irgend eine Gabe, die jemand ohne Neid und Eigensinn geniesst. Nun haette ich", rief sie aus, "noch Lust, eine Stunde zu tanzen, und dann muessen wir wohl wieder nach unsern Springern sehen." Man ging nach dem Hause und fand Musik daselbst. Philine, die eine gute Taenzerin war, belebte ihre beiden Gesellschafter. Wilhelm war nicht ungeschickt, allein es fehlte ihm an einer kuenstlichen uebung. Seine beiden Freunde nahmen sich vor, ihn zu unterrichten. Man verspaetete sich. Die Seiltaenzer hatten ihre Kuenste schon zu produzieren angefangen. Auf dem Platze hatten sich viele Zuschauer eingefunden, doch war unsern Freunden, als sie ausstiegen, ein Getuemmel merkwuerdig, das eine grosse Anzahl Menschen nach dem Tore des Gasthofes, in welchem Wilhelm eingekehrt war, hingezogen hatte. Wilhelm sprang hinueber, um zu sehen, was es sei, und mit Entsetzen erblickte er, als er sich durchs Volk draengte, den Herrn der Seiltaenzergesellschaft, der das interessante Kind bei den Haaren aus dem Hause zu schleppen bemueht war und mit einem Peitschenstiel unbarmherzig auf den kleinen Koerper losschlug. Wilhelm fuhr wie ein Blitz auf den Mann zu und fasste ihn bei der Brust. "Lass das Kind los!" schrie er wie ein Rasender, "Oder einer von uns bleibt hier auf der Stelle." Er fasste zugleich den Kerl mit einer Gewalt, die nur der Zorn geben kann, bei der Kehle, dass dieser zu ersticken glaubte, das Kind losliess und sich gegen den Angreifenden zu verteidigen suchte. Einige Leute, die mit dem Kinde Mitleiden fuehlten, aber Streit anzufangen nicht gewagt hatten, fielen dem Seiltaenzer sogleich in die Arme, entwaffneten ihn und drohten ihm mit vielen Schimpfreden. Dieser, der sich jetzt nur auf die Waffen seines Mundes reduziert sah, fing graesslich zu drohen und zu fluchen an: die faule, unnuetze Kreatur wolle ihre Schuldigkeit nicht tun; sie verweigere, den Eiertanz zu tanzen, den er dem Publiko versprochen habe; er wolle sie totschlagen, und es solle ihn niemand daran hindern. Er suchte sich loszumachen, um das Kind, das sich unter der Menge verkrochen hatte, aufzusuchen. Wilhelm hielt ihn zurueck und rief: "Du sollst nicht eher dieses Geschoepf weder sehen noch beruehren, bis du vor Gericht Rechenschaft gibst, wo du es gestohlen hast; ich werde dich aufs aeusserste treiben; du sollst mir nicht entgehen." Diese Rede, welche Wilhelm in der Hitze, ohne Gedanken und Absicht, aus einem dunklen Gefuehl oder, wenn man will, aus Inspiration ausgesprochen hatte, brachte den wuetenden Menschen auf einmal zur Ruhe. Er rief: "Was hab ich mit der unnuetzen Kreatur zu schaffen! Zahlen Sie mir, was mich ihre Kleider kosten, und Sie moegen sie behalten; wir wollen diesen Abend noch einig werden." Er eilte darauf, die unterbrochene Vorstellung fortzusetzen und die Unruhe des Publikums durch einige bedeutende Kunststuecke zu befriedigen. Wilhelm suchte nunmehr, da es stille geworden war, nach dem Kinde, das sich aber nirgends fand. Einige wollten es auf dem Boden, andere auf den Daechern der benachbarten Haeuser gesehen haben. Nachdem man es allerorten gesucht hatte, musste man sich beruhigen und abwarten, ob es nicht von selbst wieder herbeikommen wolle. Indes war Narziss nach Hause gekommen, welchen Wilhelm ueber die Schicksale und die Herkunft des Kindes befragte. Dieser wusste nichts davon, denn er war nicht lange bei der Gesellschaft, erzaehlte dagegen mit grosser Leichtigkeit und vielem Leichtsinne seine eigenen Schicksale. Als ihm Wilhelm zu dem grossen Beifall Glueck wuenschte, dessen er sich zu erfreuen hatte, aeusserte er sich sehr gleichgueltig darueber. "Wir sind gewohnt" sagte er, "dass man ueber uns lacht und unsre Kuenste bewundert; aber wir werden durch den ausserordentlichen Beifall um nichts gebessert. Der Entrepreneur zahlt uns und mag sehen, wie er zurechtekoemmt." Er beurlaubte sich darauf und wollte sich eilig entfernen. Auf die Frage, wo er so schnell hinwolle, laechelte der junge Mensch und gestand, dass seine Figur und Talente ihm einen solidern Beifall zugezogen, als der des grossen Publikums sei. Er habe von einigen Frauenzimmern Botschaft erhalten, die sehr eifrig verlangten, ihn naeher kennenzulernen, und er fuerchte, mit den Besuchen, die er abzulegen habe, vor Mitternacht kaum fertig zu werden. Er fuhr fort, mit der groessten Aufrichtigkeit seine Abenteuer zu erzaehlen, und haette die Namen, Strassen und Haeuser angezeigt, wenn nicht Wilhelm eine solche Indiskretion abgelehnt und ihn hoeflich entlassen haette. Laertes hatte indessen Landrinetten unterhalten und versicherte, sie sei vollkommen wuerdig, ein Weib zu sein und zu bleiben. Nun ging die Unterhandlung mit dem Entrepreneur wegen des Kindes an, das unserm Freunde fuer dreissig Taler ueberlassen wurde, gegen welche der schwarzbaertige, heftige Italiener seine Ansprueche voellig abtrat, von der Herkunft des Kindes aber weiter nichts bekennen wollte, als dass er solches nach dem Tode seines Bruders, den man wegen seiner ausserordentlichen Geschicklichkeit den grossen Teufel genannt, zu sich genommen habe. Der andere Morgen ging meist mit Aufsuchen des Kindes hin. Vergebens durchkroch man alle Winkel des Hauses und der Nachbarschaft; es war verschwunden, und man fuerchtete, es moechte in ein Wasser gesprungen sein oder sich sonst ein Leids angetan haben. Philinens Reize konnten die Unruhe unsers Freundes nicht ableiten. Er brachte einen traurigen, nachdenklichen Tag zu. Auch des Abends, da Springer und Taenzer alle ihre Kraefte aufboten, um sich dem Publiko aufs beste zu empfehlen, konnte sein Gemuet nicht erheitert und zerstreut werden. Durch den Zulauf aus benachbarten Ortschaften hatte die Anzahl der Menschen ausserordentlich zugenommen, und so waelzte sich auch der Schneeball des Beifalls zu einer ungeheuren Groesse. Der Sprung ueber die Degen und durch das Fass mit papiernen Boeden machte eine grosse Sensation. Der starke Mann liess zum allgemeinen Grausen, Entsetzen und Erstaunen, indem er sich mit dem Kopf und den Fuessen auf ein Paar auseinandergeschobene Stuehle legte, auf seinen hohlschwebenden Leib einen Amboss heben und auf demselben von einigen wackern Schmiedegesellen ein Hufeisen fertig schmieden. Auch war die sogenannte Herkulesstaerke, da eine Reihe Maenner, auf den Schultern einer ersten Reihe stehend, abermals Frauen und Juenglinge traegt, so dass zuletzt eine lebendige Pyramide entsteht, deren Spitze ein Kind, auf den Kopf gestellt, als Knopf und Wetterfahne ziert, in diesen Gegenden noch nie gesehen worden und endigte wuerdig das ganze Schauspiel. Narziss und Landrinette liessen sich in Tragsesseln auf den Schultern der uebrigen durch die vornehmsten Strassen der Stadt unter lautem Freudengeschrei des Volks tragen. Man warf ihnen Baender, Blumenstraeusse und seidene Tuecher zu und draengte sich, sie ins Gesicht zu fassen. Jedermann schien gluecklich zu sein, sie anzusehn und von ihnen eines Blicks gewuerdigt zu werden. "Welcher Schauspieler, welcher Schriftsteller, ja welcher Mensch ueberhaupt wuerde sich nicht auf dem Gipfel seiner Wuensche sehen, wenn er durch irgendein edles Wort oder eine gute Tat einen so allgemeinen Eindruck hervorbraechte? Welche koestliche Empfindung muesste es sein, wenn man gute, edle, der Menschheit wuerdige Gefuehle ebenso schnell durch einen elektrischen Schlag ausbreiten, ein solches Entzuecken unter dem Volke erregen koennte, als diese Leute durch ihre koerperliche Geschicklichkeit getan haben; wenn man der Menge das Mitgefuehl alles Menschlichen geben, wenn man sie mit der Vorstellung des Gluecks und Ungluecks, der Weisheit und Torheit, ja des Unsinns und der Albernheit entzuenden, erschuettern und ihr stockendes Innere in freie, lebhafte und reine Bewegung setzen koenntet" So sprach unser Freund, und da weder Philine noch Laertes gestimmt schienen, einen solchen Diskurs fortzusetzen, unterhielt er sich allein mit diesen Lieblingsbetrachtungen, als er bis spaet in die Nacht um die Stadt spazierte und seinen alten Wunsch, das Gute, Edle, Grosse durch das Schauspiel zu versinnlichen, wieder einmal mit aller Lebhaftigkeit und aller Freiheit einer losgebundenen Einbildungskraft verfolgte. II. Buch, 5. Kapitel Fuenftes Kapitel Des andern Tages, als die Seiltaenzer mit grossem Geraeusch abgezogen waren, fand sich Mignon sogleich wieder ein und trat hinzu, als Wilhelm und Laertes ihre Fechtuebungen auf dem Saale fortsetzten. "Wo hast du gesteckt?" fragte Wilhelm freundlich, "du hast uns viel Sorge gemacht." Das Kind antwortete nichts und sah ihn an. "Du bist nun unser", rief Laertes, "wir haben dich gekauft"--"Was hast du bezahlt?" fragte das Kind ganz trocken. "Hundert Dukaten", versetzte Laertes; "wenn du sie wiedergibst, kannst du frei sein."--"Das ist wohl viel?" fragte das Kind. "O ja, du magst dich nur gut auffuehren."--"Ich will dienen", versetzte sie. Von dem Augenblicke an merkte sie genau, was der Kellner den beiden Freunden fuer Dienste zu leisten hatte, und litt schon des andern Tages nicht mehr, dass er ins Zimmer kam. Sie wollte alles selbst tun und machte auch ihre Geschaefte, zwar langsam und mitunter unbehuelflich, doch genau und mit grosser Sorgfalt. Sie stellte sich oft an ein Gefaess mit Wasser und wusch ihr Gesicht mit so grosser Emsigkeit und Heftigkeit, dass sie sich fast die Backen aufrieb, bis Laertes durch Fragen und Necken erfuhr, dass sie die Schminke von ihren Wangen auf alle Weise loszuwerden suche und ueber dem Eifer, womit sie es tat, die Roete, die sie durchs Reiben hervorgebracht hatte, fuer die hartnaeckigste Schminke halte. Man bedeutete sie, und sie liess ab, und nachdem sie wieder zur Ruhe gekommen war, zeigte sich eine schoene braune, obgleich nur von wenigem Rot erhoehte Gesichtsfarbe. Durch die frevelhaften Reize Philinens, durch die geheimnisvolle Gegenwart des Kindes mehr, als er sich selbst gestehen durfte, unterhalten, brachte Wilhelm verschiedene Tage in dieser sonderbaren Gesellschaft zu und rechtfertigte sich bei sich selbst durch eine fleissige uebung in der Fecht- und Tanzkunst, wozu er so leicht nicht wieder Gelegenheit zu finden glaubte. Nicht wenig verwundert und gewissermassen erfreut war er, als er eines Tages Herrn und Frau Melina ankommen sah, welche gleich nach dem ersten frohen Grusse sich nach der Direktrice und den uebrigen Schauspielern erkundigten und mit grossem Schrecken vernahmen, dass jene sich schon lange entfernt habe und diese bis auf wenige zerstreut seien. Das junge Paar hatte sich nach ihrer Verbindung, zu der, wie wir wissen, Wilhelm behilflich gewesen, an einigen Orten nach Engagement umgesehen, keines gefunden und war endlich in dieses Staedtchen gewiesen worden, wo einige Personen, die ihnen unterwegs begegneten, ein gutes Theater gesehen haben wollten. Philinen wollte Madame Melina, und Herr Melina dem lebhaften Laertes, als sie Bekanntschaft machten, keinesweges gefallen. Sie wuenschten die neuen Ankoemmlinge gleich wieder los zu sein, und Wilhelm konnte ihnen keine guenstigen Gesinnungen beibringen, ob er ihnen gleich wiederholt versicherte, dass es recht gute Leute seien. Eigentlich war auch das bisherige lustige Leben unsrer drei Abenteurer durch die Erweiterung der Gesellschaft auf mehr als eine Weise gestoert; denn Melina fing im Wirtshause (er hatte in ebendemselben, in welchem Philine wohnte, Platz gefunden) gleich zu markten und zu quengeln an. Er wollte fuer weniges Geld besseres Quartier, reichlichere Mahlzeit und promptere Bedienung haben. In kurzer Zeit machten Wirt und Kellner verdriessliche Gesichter, und wenn die andern, um froh zu leben, sich alles gefallen liessen und nur geschwind bezahlten, um nicht laenger an das zu denken, was schon verzehrt war, so musste die Mahlzeit, die Melina regelmaessig sogleich berichtigte, jederzeit von vorn wieder durchgenommen werden, so dass Philine ihn ohne Umstaende ein wiederkaeuendes Tier nannte. Noch verhasster war Madame Melina dem lustigen Maedchen. Diese junge Frau war nicht ohne Bildung, doch fehlte es ihr gaenzlich an Geist und Seele. Sie deklamierte nicht uebel und wollte immer deklamieren; allein man merkte bald, dass es nur eine Wortdeklamation war, die auf einzelnen Stellen lastete und die Empfindung des Ganzen nicht ausdrueckte. Bei diesem allen war sie nicht leicht jemanden, besonders Maennern, unangenehm. Vielmehr schrieben ihr diejenigen, die mit ihr umgingen, gewoehnlich einen schoenen Verstand zu: denn sie war, was ich mit einem Worte eine Anempfinderin nennen moechte; sie wusste einem Freunde, um dessen Achtung ihr zu tun war, mit einer besondern Aufmerksamkeit zu schmeicheln, in seine Ideen so lange als moeglich einzugehen, sobald sie aber ganz ueber ihren Horizont waren, mit Ekstase eine solche neue Erscheinung aufzunehmen. Sie verstand zu sprechen und zu schweigen und, ob sie gleich kein tueckisches Gemuet hatte, mit grosser Vorsicht aufzupassen, wo des andern schwache Seite sein moechte. II. Buch, 6. Kapitel Sechstes Kapitel Melina hatte sich indessen nach den Truemmern der vorigen Direktion genau erkundigt. Sowohl Dekorationen als Garderobe waren an einige Handelsleute versetzt, und ein Notarius hatte den Auftrag von der Direktrice erhalten, unter gewissen Bedingungen, wenn sich Liebhaber faenden, in den Verkauf aus freier Hand zu willigen. Melina wollte die Sachen besehen und zog Wilhelmen mit sich. Dieser empfand, als man ihnen die Zimmer eroeffnete, eine gewisse Neigung dazu, die er sich jedoch selbst nicht gestand. In so einem schlechten Zustande auch die geklecksten Dekorationen waren, so wenig scheinbar auch tuerkische und heidnische Kleider, alte Karikaturroecke fuer Maenner und Frauen, Kutten fuer Zauberer, Juden und Pfaffen sein mochten, so konnt er sich doch der Empfindung nicht erwehren, dass er die gluecklichsten Augenblicke seines Lebens in der Naehe eines aehnlichen Troedelkrams gefunden hatte. Haette Melina in sein Herz sehen koennen, so wuerde er ihm eifriger zugesetzt haben, eine Summe Geldes auf die Befreiung, Aufstellung und neue Belebung dieser zerstreuten Glieder zu einem schoenen Ganzen herzugeben. "Welch ein gluecklicher Mensch", rief Melina aus, "koennte ich sein, wenn ich nur zweihundert Taler besaesse, um zum Anfange den Besitz dieser ersten theatralischen Beduerfnisse zu erlangen. Wie bald wollt ich ein kleines Schauspiel beisammen haben, das uns in dieser Stadt, in dieser Gegend gewiss sogleich ernaehren sollte." Wilhelm schwieg, und beide verliessen nachdenklich die wieder eingesperrten Schaetze. Melina hatte von dieser Zeit an keinen andern Diskurs als Projekte und Vorschlaege, wie man ein Theater einrichten und dabei seinen Vorteil finden koennte. Er suchte Philinen und Laertes zu interessieren, und man tat Wilhelmen Vorschlaege, Geld herzuschiessen und Sicherheit dagegen anzunehmen. Diesem fiel aber erst bei dieser Gelegenheit recht auf, dass er hier so lange nicht haette verweilen sollen; er entschuldigte sich und wollte Anstalten machen, seine Reise fortzusetzen. Indessen war ihm Mignons Gestalt und Wesen immer reizender geworden. In alle seinem Tun und Lassen hatte das Kind etwas Sonderbares. Es ging die Treppe weder auf noch ab, sondern sprang; es stieg auf den Gelaendern der Gaenge weg, und eh man sich's versah, sass es oben auf dem Schranke und blieb eine Weile ruhig. Auch hatte Wilhelm bemerkt, dass es fuer jeden eine besondere Art von Gruss hatte. Ihn gruesste sie seit einiger Zeit mit ueber die Brust geschlagenen Armen. Manche Tage war sie ganz stumm, zuzeiten antwortete sie mehr auf verschiedene Fragen, immer sonderbar, doch so, dass man nicht unterscheiden konnte, ob es Witz oder Unkenntnis der Sprache war, indem sie ein gebrochnes, mit Franzoesisch und Italienisch durchflochtenes Deutsch sprach. In seinem Dienste war das Kind unermuedet und frueh mit der Sonne auf; es verlor sich dagegen abends zeitig, schlief in einer Kammer auf der nackten Erde und war durch nichts zu bewegen, ein Bette oder einen Strohsack anzunehmen. Er fand sie oft, dass sie sich wusch. Auch ihre Kleider waren reinlich, obgleich alles fast doppelt und dreifach an ihr geflickt war. Man sagte Wilhelmen auch, dass sie alle Morgen ganz frueh in die Messe gehe, wohin er ihr einmal folgte und sie in der Ecke der Kirche mit dem Rosenkranze knien und andaechtig beten sah. Sie bemerkte ihn nicht, er ging nach Hause, machte sich vielerlei Gedanken ueber diese Gestalt und konnte sich bei ihr nichts Bestimmtes denken. Neues Andringen Melinas um eine Summe Geldes zur Ausloesung der mehr erwaehnten Theatergeraetschaften bestimmte Wilhelmen noch mehr, an seine Abreise zu denken. Er wollte den Seinigen, die lange nichts von ihm gehoert hatten, noch mit dem heutigen Posttage schreiben; er fing auch wirklich einen Brief an Wernern an und war mit Erzaehlung seiner Abenteuer, wobei er, ohne es selbst zu bemerken, sich mehrmal von der Wahrheit entfernt hatte, schon ziemlich weit gekommen, als er zu seinem Verdruss auf der hintern Seite des Briefblatts schon einige Verse geschrieben fand, die er fuer Madame Melina aus seiner Schreibtafel zu kopieren angefangen hatte. Unwillig zerriss er das Blatt und verschob die Wiederholung seines Bekenntnisses auf den naechsten Posttag. II. Buch, 7. Kapitel Siebentes Kapitel Unsre Gesellschaft befand sich abermals beisammen, und Philine, die auf jedes Pferd, das vorbeikam, auf jeden Wagen, der anfuhr, aeusserst aufmerksam war, rief mit grosser Lebhaftigkeit: "Unser Pedant! Da kommt unser allerliebster Pedant! Wen mag er bei sich haben?" Sie rief und winkte zum Fenster hinaus, und der Wagen hielt stille. Ein kuemmerlich armer Teufel, den man an seinem verschabten, graulich-braunen Rocke und an seinen uebelkonditionierten Unterkleidern fuer einen Magister, wie sie auf Akademien zu vermodern pflegen, haette halten sollen, stieg aus dem Wagen und entbloesste, indem er, Philinen zu gruessen, den Hut abtat, eine uebelgepuderte, aber uebrigens sehr steife Peruecke, und Philine warf ihm hundert Kusshaende zu. So wie sie ihre Glueckseligkeit fand, einen Teil der Maenner zu lieben und ihre Liebe zu geniessen, so war das Vergnuegen nicht viel geringer, das sie sich sooft als moeglich gab, die uebrigen, die sie eben in diesem Augenblicke nicht liebte, auf eine sehr leichtfertige Weise zum besten zu haben. ueber den Laerm, womit sie diesen alten Freund empfing, vergass man, auf die uebrigen zu achten, die ihm nachfolgten. Doch glaubte Wilhelm die zwei Frauenzimmer und einen aeltlichen Mann, der mit ihnen hereintrat, zu kennen. Auch entdeckte sich's bald, dass er sie alle drei vor einigen Jahren bei der Gesellschaft, die in seiner Vaterstadt spielte, mehrmals gesehen hatte. Die Toechter waren seit der Zeit herangewachsen; der Alte aber hatte sich wenig veraendert. Dieser spielte gewoehnlich die gutmuetigen, polternden Alten, wovon das deutsche Theater nicht leer wird und die man auch im gemeinen Leben nicht selten antrifft. Denn da es der Charakter unsrer Landsleute ist, das Gute ohne viel Prunk zu tun und zu leisten, so denken sie selten daran, dass es auch eine Art gebe, das Rechte mit Zierlichkeit und Anmut zu tun, und verfallen vielmehr, von einem Geiste des Widerspruchs getrieben, leicht in den Fehler, durch ein muerrisches Wesen ihre liebste Tugend im Kontraste darzustellen. Solche Rollen spielte unser Schauspieler sehr gut, und er spielte sie so oft und ausschliesslich, dass er darueber eine aehnliche Art sich zu betragen im gemeinen Leben angenommen hatte. Wilhelm geriet in grosse Bewegung, sobald er ihn erkannte; denn er erinnerte sich, wie oft er diesen Mann neben seiner geliebten Mariane auf dem Theater gesehen hatte; er hoerte ihn noch schelten, er hoerte ihre schmeichelnde Stimme, mit der sie seinem rauhen Wesen in manchen Rollen zu begegnen hatte. Die erste lebhafte Frage an die neuen Ankoemmlinge, ob ein Unterkommen auswaerts zu finden und zu hoffen sei, ward leider mit Nein beantwortet, und man musste vernehmen, dass die Gesellschaften, bei denen man sich erkundigt, besetzt und einige davon sogar in Sorgen seien, wegen des bevorstehenden Krieges auseinandergehen zu muessen. Der polternde Alte hatte mit seinen Toechtern aus Verdruss und Liebe zur Abwechselung ein vorteilhaftes Engagement aufgegeben, hatte mit dem Pedanten, den er unterwegs antraf, einen Wagen gemietet, um hieherzukommen, wo denn auch, wie sie fanden, guter Rat teuer war. Die Zeit, in welcher sich die uebrigen ueber ihre Angelegenheiten sehr lebhaft unterhielten, brachte Wilhelm nachdenklich zu. Er wuenschte den Alten allein zu sprechen, wuenschte und fuerchtete, von Marianen zu hoeren, und befand sich in der groessten Unruhe. Die Artigkeiten der neuangekommenen Frauenzimmer konnten ihn nicht aus seinem Traume reissen; aber ein Wortwechsel, der sich erhub, machte ihn aufmerksam. Es war Friedrich, der blonde Knabe, der Philinen aufzuwerten pflegte, sich aber diesmal lebhaft widersetzte, als er den Tisch decken und Essen herbeischaffen sollte. "Ich habe mich verpflichtet", rief er aus, "Ihnen zu dienen, aber nicht, allen Menschen aufzuwarten." Sie gerieten darueber in einen heftigen Streit. Philine bestand darauf, er habe seine Schuldigkeit zu tun, und als er sich hartnaeckig widersetzte, sagte sie ihm ohne Umstaende, er koennte gehn, wohin er wolle. "Glauben Sie etwa, dass ich mich nicht von Ihnen entfernen koenne?" rief er aus, ging trotzig weg, machte seinen Buendel zusammen und eilte sogleich zum Hause hinaus. "Geh, Mignon", sagte Philine, "und schaff uns, was wir brauchen; sag es dem Kellner, und hilf aufwarten!" Mignon trat vor Wilhelm hin und fragte in ihrer lakonischen Art: "Soll ich? darf ich?" Und Wilhelm versetzte: "Tu, mein Kind, was Mademoiselle dir sagt." Das Kind besorgte alles und wartete den ganzen Abend mit grosser Sorgfalt den Gaesten auf. Nach Tische suchte Wilhelm mit dem Alten einen Spaziergang allein zu machen: es gelang ihm, und nach mancherlei Fragen, wie es ihm bisher gegangen, wendete sich das Gespraech auf die ehemalige Gesellschaft, und Wilhelm wagte zuletzt, nach Marianen zu fragen. "Sagen Sie mir nichts von dem abscheulichen Geschoepf!" rief der Alte, "ich habe verschworen, nicht mehr an sie zu denken." Wilhelm erschrak ueber diese aeusserung, war aber noch in groesserer Verlegenheit, als der Alte fortfuhr, auf ihre Leichtfertigkeit und Liederlichkeit zu schmaelen. Wie gern haette unser Freund das Gespraech abgebrochen; allein er musste nun einmal die polternden Ergiessungen des wunderlichen Mannes aushalten. "Ich schaeme mich", fuhr dieser fort, "dass ich ihr so geneigt war. Doch haetten Sie das Maedchen naeher gekannt, Sie wuerden mich gewiss entschuldigen. Sie war so artig, natuerlich und gut, so gefaellig und in jedem Sinne leidlich. Nie haett ich mir vorgestellt, dass Frechheit und Undank die Hauptzuege ihres Charakters sein sollten." Schon hatte sich Wilhelm gefasst gemacht, das Schlimmste von ihr zu hoeren, als er auf einmal mit Verwunderung bemerkte, dass der Ton des Alten milder wurde, seine Rede endlich stockte und er ein Schnupftuch aus der Tasche nahm, um die Traenen zu trocknen, die zuletzt seine Rede unterbrachen. "Was ist Ihnen?" rief Wilhelm aus. "Was gibt Ihren Empfindungen auf einmal eine so entgegengesetzte Richtung? Verbergen Sie mir es nicht; ich nehme an dem Schicksale dieses Maedchens mehr Anteil, als Sie glauben; nur lassen Sie mich alles wissen." "Ich habe wenig zu sagen", versetzte der Alte, indem er wieder in seinen ernstlichen, verdriesslichen Ton ueberging, "ich werde es ihr nie vergeben, was ich um sie geduldet habe. Sie hatte", fuhr er fort, "immer ein gewisses Zutrauen zu mir; ich liebte sie wie meine Tochter und hatte, da meine Frau noch lebte, den Entschluss gefasst, sie zu mir zu nehmen und sie aus den Haenden der Alten zu retten, von deren Anleitung ich mir nicht viel Gutes versprach. Meine Frau starb, das Projekt zerschlug sich. Gegen das Ende des Aufenthalts in Ihrer Vaterstadt, es sind nicht gar drei Jahre, merkte ich ihr eine sichtbare Traurigkeit an; ich fragte sie, aber sie wich aus. Endlich machten wir uns auf die Reise. Sie fuhr mit mir in einem Wagen, und ich bemerkte, was sie mir auch bald gestand, dass sie guter Hoffnung sei und in der groessten Furcht schwebe, von unserm Direktor verstossen zu werden. Auch dauerte es nur kurze Zeit, so machte er die Entdeckung, kuendigte ihr den Kontrakt, der ohnedies nur auf sechs Wochen stand, sogleich auf, zahlte, was sie zu fordern hatte, und liess sie, aller Vorstellungen ungeachtet, in einem kleinen Staedtchen, in einem schlechten Wirtshause zurueck. Der Henker hole alle liederlichen Dirnen!" rief der Alte mit Verdruss, "und besonders diese, die mir so manche Stunde meines Lebens verdorben hat. Was soll ich lange erzaehlen, wie ich mich ihrer angenommen, was ich fuer sie getan, was ich an sie gehaengt, wie ich auch in der Abwesenheit fuer sie gesorgt habe. Ich wollte lieber mein Geld in den Teich werfen und meine Zeit hinbringen, raeudige Hunde zu erziehen, als nur jemals wieder auf so ein Geschoepf die mindeste Aufmerksamkeit wenden. Was war's? Im Anfang erhielt ich Danksagungsbriefe, Nachricht von einigen Orten ihres Aufenthalts, und zuletzt kein Wort mehr, nicht einmal Dank fuer das Geld, das ich ihr zu ihren Wochen geschickt hatte. O die Verstellung und der Leichtsinn der Weiber ist so recht zusammengepaart, um ihnen ein bequemes Leben und einem ehrlichen Kerl manche verdriessliche Stunde zu schaffen!" II. Buch, 8. Kapitel Achtes Kapitel Man denke sich Wilhelms Zustand, als er von dieser Unterredung nach Hause kam. Alle seine alten Wunden waren wieder aufgerissen und das Gefuehl, dass sie seiner Liebe nicht ganz unwuerdig gewesen, wieder lebhaft geworden; denn in dem Interesse des Alten, in dem Lobe, das er ihr wider Willen geben musste, war unserm Freunde ihre ganze Liebenswuerdigkeit wieder erschienen; ja selbst die heftige Anklage des leidenschaftlichen Mannes enthielt nichts, was sie vor Wilhelms Augen haette herabsetzen koennen. Denn dieser bekannte sich selbst als Mitschuldigen ihrer Vergehungen, und ihr Schweigen zuletzt schien ihm nicht tadelhaft; er machte sich vielmehr nur traurige Gedanken darueber, sah sie als Woechnerin, als Mutter in der Welt ohne Huelfe herumirren, wahrscheinlich mit seinem eigenen Kinde herumirren; Vorstellungen, welche das schmerzlichste Gefuehl in ihm erregten. Mignon hatte auf ihn gewartet und leuchtete ihm die Treppe hinauf. Als sie das Licht niedergesetzt hatte, bat sie ihn zu erlauben, dass sie ihm heute abend mit einem Kunststuecke aufwarten duerfe. Er haette es lieber verbeten, besonders da er nicht wusste, was es werden sollte. Allein er konnte diesem guten Geschoepfe nichts abschlagen. Nach einer kurzen Zeit trat sie wieder herein. Sie trug einen Teppich unter dem Arme, den sie auf der Erde ausbreitete. Wilhelm liess sie gewaehren. Sie brachte darauf vier Lichter, stellte eins auf jeden Zipfel des Teppichs. Ein Koerbchen mit Eiern, das sie darauf holte, machte die Absicht deutlicher. Kuenstlich abgemessen schritt sie nunmehr auf dem Teppich hin und her und legte in gewissen Massen die Eier auseinander, dann rief sie einen Menschen herein, der im Hause aufwartete und die Violine spielte. Er trat mit seinem Instrumente in die Ecke; sie verband sich die Augen, gab das Zeichen und fing zugleich mit der Musik, wie ein aufgezogenes Raederwerk, ihre Bewegungen an, indem sie Takt und Melodie mit dem Schlage der Kastagnetten begleitete. Behende, leicht, rasch, genau fuehrte sie den Tanz. Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein, bei den Eiern nieder, dass man jeden Augenblick dachte, sie muesse eins zertreten oder bei schnellen Wendungen das andre fortschleudern. Mitnichten! Sie beruehrte keines, ob sie gleich mit allen Arten von Schritten, engen und weiten, ja sogar mit Spruengen und zuletzt halb kniend sich durch die Reihen durchwand. Unaufhaltsam wie ein Uhrwerk lief sie ihren Weg, und die sonderbare Musik gab dem immer wieder von vorne anfangenden und losrauschenden Tanze bei jeder Wiederholung einen neuen Stoss. Wilhelm war von dem sonderbaren Schauspiele ganz hingerissen; er vergass seiner Sorgen, folgte jeder Bewegung der geliebten Kreatur und war verwundert, wie in diesem Tanze sich ihr Charakter vorzueglich entwickelte. Streng, scharf, trocken, heftig und in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm zeigte sie sich. Er empfand, was er schon fuer Mignon gefuehlt, in diesem Augenblicke auf einmal. Er sehnte sich, dieses verlassene Wesen an Kindes Statt seinem Herzen einzuverleiben, es in seine Arme zu nehmen und mit der Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken. Der Tanz ging zu Ende; sie rollte die Eier mit den Fuessen sachte zusammen auf ein Haeufchen, liess keines zurueck, beschaedigte keines und stellte sich dazu, indem sie die Binde von den Augen nahm und ihr Kunststueck mit einem Buecklinge endigte. Wilhelm dankte ihr, dass sie ihm den Tanz, den er zu sehen gewuenscht, so artig und unvermutet vorgetragen habe. Er streichelte sie und bedauerte, dass sie sich's habe so sauer werden lassen. Er versprach ihr ein neues Kleid, worauf sie heftig antwortete: "Deine Farbe!" Auch das versprach er ihr, ob er gleich nicht deutlich wusste, was sie darunter meine. Sie nahm die Eier zusammen, den Teppich unter den Arm, fragte, ob er noch etwas zu befehlen habe, und schwang sich zur Tuere hinaus. Von dem Musikus erfuhr er, dass sie sich seit einiger Zeit viele Muehe gegeben, ihm den Tanz, welches der bekannte Fandango war, so lange vorzusingen, bis er ihn habe spielen koennen. Auch habe sie ihm fuer seine Bemuehungen etwas Geld angeboten, das er aber nicht nehmen wollen. II. Buch, 9. Kapitel Neuntes Kapitel Nach einer unruhigen Nacht, die unser Freund teils wachend, teils von schweren Traeumen geaengstigt zubrachte, in denen er Marianen bald in aller Schoenheit, bald in kuemmerlicher Gestalt, jetzt mit einem Kinde auf dem Arm, bald desselben beraubt sah, war der Morgen kaum angebrochen, als Mignon schon mit einem Schneider hereintrat. Sie brachte graues Tuch und blauen Taffet und erklaerte nach ihrer Art, dass sie ein neues Westchen und Schifferhosen, wie sie solche an den Knaben in der Stadt gesehen, mit blauen Aufschlaegen und Baendern haben wolle. Wilhelm hatte seit dem Verlust Marianens alle muntern Farben abgelegt. Er hatte sich an das Grau, an die Kleidung der Schatten, gewoehnt, und nur etwa ein himmelblaues Futter oder ein kleiner Kragen von dieser Farbe belebte einigermassen jene stille Kleidung. Mignon, begierig, seine Farbe zu tragen, trieb den Schneider, der in kurzem die Arbeit zu liefern versprach. Die Tanz- und Fechtstunden, die unser Freund heute mit Laertes nahm, wollten nicht zum besten gluecken. Auch wurden sie bald durch Melinas Ankunft unterbrochen, der umstaendlich zeigte, wie jetzt eine kleine Gesellschaft beisammen sei, mit welcher man schon Stuecke genug auffuehren koenne. Er erneuerte seinen Antrag, dass Wilhelm einiges Geld zum Etablissement vorstrecken solle, wobei dieser abermals seine Unentschlossenheit zeigte. Philine und die Maedchen kamen bald hierauf mit Lachen und Laermen herein. Sie hatten sich abermals eine Spazierfahrt ausgedacht: denn Veraenderung des Orts und der Gegenstaende war eine Lust, nach der sie sich immer sehnten. Taeglich an einem andern Orte zu essen war ihr hoechster Wunsch. Diesmal sollte es eine Wasserfahrt werden. Das Schiff, womit sie die Kruemmungen des angenehmen Flusses hinunterfahren wollten, war schon durch den Pedanten bestellt. Philine trieb, die Gesellschaft zauderte nicht und war bald eingeschifft. "Was fangen wir nun an?" sagte Philine, indem sich alle auf die Baenke niedergelassen hatten. "Das kuerzeste waere", versetzte Laertes, "wir extemporierten ein Stueck. Nehme jeder eine Rolle, die seinem Charakter am angemessensten ist, und wir wollen sehen, wie es uns gelingt." "Fuertrefflich!" sagte Wilhelm, "denn in einer Gesellschaft, in der man sich nicht verstellt, in welcher jedes nur seinem Sinne folgt, kann Anmut und Zufriedenheit nicht lange wohnen, und wo man sich immer verstellt, dahin kommen sie gar nicht. Es ist also nicht uebel getan, wir geben uns die Verstellung gleich von Anfang zu und sind nachher unter der Maske so aufrichtig, als wir wollen." "Ja", sagte Laertes, "deswegen geht sich's so angenehm mit Weibern um, die sich niemals in ihrer natuerlichen Gestalt sehen lassen." "Das macht", versetzte Madame Melina, "dass sie nicht so eitel sind wie die Maenner, welche sich einbilden, sie seien schon immer liebenswuerdig genug, wie sie die Natur hervorgebracht hat." Indessen war man zwischen angenehmen Bueschen und Huegeln, zwischen Gaerten und Weinbergen hingefahren, und die jungen Frauenzimmer, besonders aber Madame Melina, drueckten ihr Entzuecken ueber die Gegend aus. Letztre fing sogar an, ein artiges Gedicht von der beschreibenden Gattung ueber eine aehnliche Naturszene feierlich herzusagen; allein Philine unterbrach sie und schlug ein Gesetz vor, dass sich niemand unterfangen solle, von einem unbelebten Gegenstande zu sprechen; sie setzte vielmehr den Vorschlag zur extemporierten Komoedie mit Eifer durch. Der polternde Alte sollte einen pensionierten Offizier, Laertes einen vazierenden Fechtmeister, der Pedant einen Juden vorstellen, sie selbst wolle eine Tirolerin machen und ueberliess den uebrigen, sich ihre Rollen zu waehlen. Man sollte fingieren, als ob sie eine Gesellschaft weltfremder Menschen seien, die soeben auf einem Marktschiffe zusammenkomme. Sie fing sogleich mit dem Juden ihre Rolle zu spielen an, und eine allgemeine Heiterkeit verbreitete sich. Man war nicht lange gefahren, als der Schiffer stillehielt, um mit Erlaubnis der Gesellschaft noch jemand einzunehmen, der am Ufer stand und gewinkt hatte. "Das ist eben noch, was wir brauchten", rief Philine, "ein blinder Passagier fehlte noch der Reisegesellschaft." Ein wohlgebildeter Mann stieg in das Schiff, den man an seiner Kleidung und seiner ehrwuerdigen Miene wohl fuer einen Geistlichen haette nehmen koennen. Er begruesste die Gesellschaft, die ihm nach ihrer Weise dankte und ihn bald mit ihrem Scherz bekannt machte. Er nahm darauf die Rolle eines Landgeistlichen an, die er zur Verwunderung aller auf das artigste durchsetzte, indem er bald ermahnte, bald Histoerchen erzaehlte, einige schwache Seiten blicken liess und sich doch im Respekt zu erhalten wusste. Indessen hatte jeder, der nur ein einziges Mal aus seinem Charakter herausgegangen war, ein Pfand geben muessen. Philine hatte sie mit grosser Sorgfalt gesammelt und besonders den geistlichen Herrn mit vielen Kuessen bei der kuenftigen Einloesung bedroht, ob er gleich selbst nie in Strafe genommen ward. Melina dagegen war voellig ausgepluendert, Hemdenknoepfe und Schnallen und alles, was Bewegliches an seinem Leibe war, hatte Philine zu sich genommen; denn er wollte einen reisenden Englaender vorstellen und konnte auf keine Weise in seine Rolle hineinkommen. Die Zeit war indes auf das angenehmste vergangen, jedes hatte seine Einbildungskraft und seinen Witz aufs moeglichste angestrengt und jedes seine Rolle mit angenehmen und unterhaltenden Scherzen ausstaffiert. So kam man an dem Ort an, wo man sich den Tag ueber aufhalten wollte, und Wilhelm geriet mit dem Geistlichen, wie wir ihn seinem Aussehn und seiner Rolle nach nennen wollen, auf dem Spaziergange bald in ein interessantes Gespraech. "Ich finde diese uebung", sagte der Unbekannte, "unter Schauspielern, ja in Gesellschaft von Freunden und Bekannten sehr nuetzlich. Es ist die beste Art, die Menschen aus sich heraus- und durch einen Umweg wieder in sich hineinzufuehren. Es sollte bei jeder Truppe eingefuehrt sein, dass sie sich manchmal auf diese Weise ueben muesste, und das Publikum wuerde gewiss dabei gewinnen, wenn alle Monate ein nicht geschriebenes Stueck aufgefuehrt wuerde, worauf sich freilich die Schauspieler in mehrern Proben muessten vorbereitet haben." "Man duerfte sich", versetzte Wilhelm, "ein extemporiertes Stueck nicht als ein solches denken, das aus dem Stegreife sogleich komponiert wuerde, sondern als ein solches, wovon zwar Plan, Handlung und Szeneneinteilung gegeben waeren, dessen Ausfuehrung aber dem Schauspieler ueberlassen bliebe." "Ganz richtig", sagte der Unbekannte, "und eben was diese Ausfuehrung betrifft, wuerde ein solches Stueck, sobald die Schauspieler nur einmal im Gang waeren, ausserordentlich gewinnen. Nicht die Ausfuehrung durch Worte, denn durch diese muss freilich der ueberlegende Schriftsteller seine Arbeit zieren, sondern die Ausfuehrung durch Gebaerden und Mienen, Ausrufungen und was dazu gehoert, kurz, das stumme, halblaute Spiel, welches nach und nach bei uns ganz verlorenzugehen scheint. Es sind wohl Schauspieler in Deutschland, deren Koerper das zeigt, was sie denken und fuehlen, die durch Schweigen, Zaudern, durch Winke, durch zarte, anmutige Bewegungen des Koerpers eine Rede vorzubereiten und die Pausen des Gespraechs durch eine gefaellige Pantomime mit dem Ganzen zu verbinden wissen; aber eine uebung, die einem gluecklichen Naturell zu Huelfe kaeme und es lehrte, mit dem Schriftsteller zu wetteifern, ist nicht so im Gange, als es zum Troste derer, die das Theater besuchen, wohl zu wuenschen waere." "Sollte aber nicht", versetzte Wilhelm, "ein glueckliches Naturell, als das Erste und Letzte, einen Schauspieler wie jeden andern Kuenstler, ja vielleicht wie jeden Menschen, allein zu einem so hochaufgesteckten Ziele bringen?" "Das Erste und Letzte, Anfang und Ende moechte es wohl sein und bleiben; aber in der Mitte duerfte dem Kuenstler manches fehlen, wenn nicht Bildung das erst aus ihm macht, was er sein soll, und zwar fruehe Bildung; denn vielleicht ist derjenige, dem man Genie zuschreibt, uebler daran als der, der nur gewoehnliche Faehigkeiten besitzt; denn jener kann leichter verbildet und viel heftiger auf falsche Wege gestossen werden als dieser." "Aber", versetzte Wilhelm, "wird das Genie sich nicht selbst retten, die Wunden, die es sich geschlagen, selbst heilen?" "Mitnichten", versetzte der andere, "Oder wenigstens nur notduerftig; denn niemand glaube die ersten Eindruecke der Jugend ueberwinden zu koennen. Ist er in einer loeblichen Freiheit, umgeben von schoenen und edlen Gegenstaenden, in dem Umgange mit guten Menschen aufgewachsen, haben ihn seine Meister das gelehrt, was er zuerst wissen musste, um das uebrige leichter zu begreifen, hat er gelernt, was er nie zu verlernen braucht, wurden seine ersten Handlungen so geleitet, dass er das Gute kuenftig leichter und bequemer vollbringen kann, ohne sich irgend etwas abgewoehnen zu muessen, so wird dieser Mensch ein reineres, vollkommneres und gluecklicheres Leben fuehren als ein anderer, der seine ersten Jugendkraefte im Widerstand und im Irrtum zugesetzt hat. Es wird so viel von Erziehung gesprochen und geschrieben, und ich sehe nur wenig Menschen, die den einfachen, aber grossen Begriff, der alles andere in sich schliesst, fassen und in die Ausfuehrung uebertragen koennen." "Das mag wohl wahr sein", sagte Wilhelm, "denn jeder Mensch ist beschraenkt genug, den andern zu seinem Ebenbild erziehen zu wollen. Gluecklich sind diejenigen daher, deren sich das Schicksal annimmt, das jeden nach seiner Weise erzieht!" "Das Schicksal", versetzte laechelnd der andere, "ist ein vornehmer, aber teurer Hofmeister. Ich wuerde mich immer lieber an die Vernunft eines menschlichen Meisters halten. Das Schicksal, fuer dessen Weisheit ich alle Ehrfurcht trage, mag an dem Zufall, durch den es wirkt, ein sehr ungelenkes Organ haben. Denn selten scheint dieser genau und rein auszufuehren, was jenes beschlossen hatte." "Sie scheinen einen sehr sonderbaren Gedanken auszusprechen", versetzte Wilhelm. "Mitnichten! Das meiste, was in der Welt begegnet, rechtfertigt meine Meinung. Zeigen viele Begebenheiten im Anfange nicht einen grossen Sinn, und gehen die meisten nicht auf etwas Albernes hinaus?" "Sie wollen scherzen." "Und ist es nicht", fuhr der andere fort, "mit dem, was einzelnen Menschen begegnet, ebenso? Gesetzt, das Schicksal haette einen zu einem guten Schauspieler bestimmt (und warum sollt es uns nicht auch mit guten Schauspielern versorgen?), ungluecklicherweise fuehrte der Zufall aber den jungen Mann in ein Puppenspiel, wo er sich frueh nicht enthalten koennte, an etwas Abgeschmacktem teilzunehmen, etwas Albernes leidlich, wohl gar interessant zu finden und so die jugendlichen Eindruecke, welche nie verloeschen, denen wir eine gewisse Anhaenglichkeit nie entziehen koennen, von einer falschen Seite zu empfangen." "Wie kommen Sie aufs Puppenspiel?" fiel ihm Wilhelm mit einiger Bestuerzung ein. "Es war nur ein willkuerliches Beispiel; wenn es Ihnen nicht gefaellt, so nehmen wir ein andres. Gesetzt, das Schicksal haette einen zu einem grossen Maler bestimmt, und dem Zufall beliebte es, seine Jugend in schmutzige Huetten, Staelle und Scheunen zu verstossen, glauben Sie, dass ein solcher Mann sich jemals zur Reinlichkeit, zum Adel, zur Freiheit der Seele erheben werde? Mit je lebhafterm Sinn er das Unreine in seiner Jugend angefasst und nach seiner Art veredelt hat, desto gewaltsamer wird es sich in der Folge seines Lebens an ihm raechen, indem es sich, inzwischen dass er es zu ueberwinden suchte, mit ihm aufs innigste verbunden hat. Wer frueh in schlechter, unbedeutender Gesellschaft gelebt hat, wird sich, wenn er auch spaeter eine bessere haben kann, immer nach jener zuruecksehnen, deren Eindruck ihm zugleich mit der Erinnerung jugendlicher, nur selten zu wiederholender Freuden geblieben ist." Man kann denken, dass unter diesem Gespraech sich nach und nach die uebrige Gesellschaft entfernt hatte. Besonders war Philine gleich vom Anfang auf die Seite getreten. Man kam durch einen Seitenweg zu ihnen zurueck. Philine brachte die Pfaender hervor, welche auf allerlei Weise geloest werden mussten, wobei der Fremde sich durch die artigsten Erfindungen und durch eine ungezwungene Teilnahme der ganzen Gesellschaft und besonders den Frauenzimmern sehr empfahl, und so flossen die Stunden des Tages unter Scherzen, Singen, Kuessen und allerlei Neckereien auf das angenehmste vorbei. II. Buch, 10. Kapitel Zehntes Kapitel Als sie sich wieder nach Hause begeben wollten, sahen sie sich nach ihrem Geistlichen um; allein er war verschwunden und an keinem Orte zu finden. "Es ist nicht artig von dem Manne, der sonst viel Lebensart zu haben scheint", sagte Madame Melina, "eine Gesellschaft, die ihn so freundlich aufgenommen, ohne Abschied zu verlassen." "Ich habe mich die ganze Zeit her schon besonnen", sagte Laertes, "wo ich diesen sonderbaren Mann schon ehemals moechte gesehen haben. Ich war eben im Begriff, ihn beim Abschiede darueber zu befragen." "Mir ging es ebenso", versetzte Wilhelm, "und ich haette ihn gewiss nicht entlassen, bis er uns etwas Naeheres von seinen Umstaenden entdeckt haette. Ich muesste mich sehr irren, wenn ich ihn nicht schon irgendwo gesprochen haette." "Und doch koenntet ihr euch", sagte Philine, "darin wirklich irren. Dieser Mann hat eigentlich nur das falsche Ansehen eines Bekannten, weil er aussieht wie ein Mensch und nicht wie Hans oder Kunz." "Was soll das heissen", sagte Laertes, "sehen wir nicht auch aus wie Menschen?" "Ich weiss, was ich sage", versetzte Philine, "und wenn ihr mich nicht begreift, so lasst's gut sein. Ich werde nicht am Ende noch gar meine Worte auslegen sollen." Zwei Kutschen fuhren vor. Man lobte die Sorgfalt des Laertes, der sie bestellt hatte. Philine nahm neben Madame Melina, Wilhelmen gegenueber, Platz, und die uebrigen richteten sich ein, so gut sie konnten. Laertes selbst ritt auf Wilhelms Pferde, das auch mit herausgekommen war, nach der Stadt zurueck. Philine sass kaum in dem Wagen, als sie artige Lieder zu singen und das Gespraech auf Geschichten zu lenken wusste, von denen sie behauptete, dass sie mit Glueck dramatisch behandelt werden koennten. Durch diese kluge Wendung hatte sie gar bald ihren jungen Freund in seine beste Laune gesetzt, und er komponierte aus dem Reichtum seines lebendigen Bildervorrats sogleich ein ganzes Schauspiel mit allen seinen Akten, Szenen, Charakteren und Verwicklungen. Man fand fuer gut, einige Arien und Gesaenge einzuflechten; man dichtete sie, und Philine, die in alles einging, passte ihnen gleich bekannte Melodien an und sang sie aus dem Stegreife. Sie hatte eben heute ihren schoenen, sehr schoenen Tag; sie wusste mit allerlei Neckereien unsern Freund zu beleben; es ward ihm wohl, wie es ihm lange nicht gewesen war. Seitdem ihn jene grausame Entdeckung von der Seite Marianens gerissen hatte, war er dem Geluebde treu geblieben, sich vor der zusammenschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung zu hueten, das treulose Geschlecht zu meiden, seine Schmerzen, seine Neigung, seine suessen Wuensche in seinem Busen zu verschliessen. Die Gewissenhaftigkeit, womit er dies Geluebde beobachtete, gab seinem ganzen Wesen eine geheime Nahrung, und da sein Herz nicht ohne Teilnehmung bleiben konnte, so ward eine liebevolle Mitteilung nun zum Beduerfnisse. Er ging wieder wie von dem ersten Jugendnebel begleitet umher, seine Augen fassten jeden reizenden Gegenstand mit Freuden auf, und nie war sein Urteil ueber eine liebenswuerdige Gestalt schonender gewesen. Wie gefaehrlich ihm in einer solchen Lage das verwegene Maedchen werden musste, laesst sich leider nur zu gut einsehen. Zu Hause fanden sie auf Wilhelms Zimmer schon alles zum Empfange bereit, die Stuehle zu einer Vorlesung zurechtegestellt und den Tisch in die Mitte gesetzt, auf welchem der Punschnapf seinen Platz nehmen sollte. Die deutschen Ritterstuecke waren damals eben neu und hatten die Aufmerksamkeit und Neigung des Publikums an sich gezogen. Der alte Polterer hatte eines dieser Art mitgebracht, und die Vorlesung war beschlossen worden. Man setzte sich nieder. Wilhelm bemaechtigte sich des Exemplars und fing zu lesen an. Die geharnischten Ritter, die alten Burgen, die Treuherzigkeit, Rechtlichkeit und Redlichkeit, besonders aber die Unabhaengigkeit der handelnden Personen wurden mit grossem Beifall aufgenommen. Der Vorleser tat sein moeglichstes, und die Gesellschaft kam ausser sich. Zwischen dem zweiten und dritten Akt kam der Punsch in einem grossen Napfe, und da in dem Stuecke selbst sehr viel getrunken und angestossen wurde, so war nichts natuerlicher, als dass die Gesellschaft bei jedem solchen Falle sich lebhaft an den Platz der Helden versetzte, gleichfalls anklingte und die Guenstlinge unter den handelnden Personen hochleben liess. Jedermann war von dem Feuer des edelsten Nationalgeistes entzuendet. Wie sehr gefiel es dieser deutschen Gesellschaft, sich ihrem Charakter gemaess auf eignem Grund und Boden poetisch zu ergoetzen! Besonders taten die Gewoelbe und Keller, die verfallenen Schloesser, das Moos und die hohlen Baeume, ueber alles aber die naechtlichen Zigeunerszenen und das heimliche Gericht eine ganz unglaubliche Wirkung. Jeder Schauspieler sah nun, wie er bald in Helm und Harnisch, jede Schauspielerin, wie sie mit einem grossen stehenden Kragen ihre Deutschheit vor dem Publiko produzieren werde. Jeder wollte sich sogleich einen Namen aus dem Stuecke oder aus der deutschen Geschichte zueignen, und Madame Melina beteuerte, Sohn oder Tochter, wozu sie Hoffnung hatte, nicht anders als Adelbert oder Mechtilde taufen zu lassen. Gegen den fuenften Akt ward der Beifall laermender und lauter, ja zuletzt, als der Held wirklich seinem Unterdruecker entging und der Tyrann gestraft wurde, war das Entzuecken so gross, dass man schwur, man habe nie so glueckliche Stunden gehabt. Melina, den der Trank begeistert hatte, war der lauteste, und da der zweite Punschnapf geleert war und Mitternacht herannahte, schwur Laertes hoch und teuer, es sei kein Mensch wuerdig, an diese Glaeser jemals wieder eine Lippe zu setzen, und warf mit dieser Beteurung sein Glas hinter sich und durch die Scheiben auf die Gasse hinaus. Die uebrigen folgten seinem Beispiele, und ungeachtet der Protestationen des herbeieilenden Wirtes wurde der Punschnapf selbst, der nach einem solchen Feste durch unheiliges Getraenk nicht wieder entweiht werden sollte, in tausend Stuecke geschlagen. Philine, der man ihren Rausch am wenigsten ansah, indes die beiden Maedchen nicht in den anstaendigsten Stellungen auf dem Kanapee lagen, reizte die andern mit Schadenfreude zum Laerm. Madame Melina rezitierte einige erhabene Gedichte, und ihr Mann, der im Rausche nicht sehr liebenswuerdig war, fing an, auf die schlechte Bereitung des Punsches zu schelten, versicherte, dass er ein Fest ganz anders einzurichten verstehe, und ward zuletzt, als Laertes Stillschweigen gebot, immer groeber und lauter, so dass dieser, ohne sich lange zu bedenken, ihm die Scherben des Napfs an den Kopf warf und dadurch den Laerm nicht wenig vermehrte. Indessen war die Scharwache herbeigekommen und verlangte, ins Haus eingelassen zu werden. Wilhelm, vom Lesen sehr erhitzt, ob er gleich nur wenig getrunken, hatte genug zu tun, um mit Beihuelfe des Wirts die Leute durch Geld und gute Worte zu befriedigen und die Glieder der Gesellschaft in ihren misslichen Umstaenden nach Hause zu schaffen. Er warf sich, als er zurueckkam, vom Schlafe ueberwaeltigt, voller Unmut unausgekleidet aufs Bette, und nichts glich der unangenehmen Empfindung, als er des andern Morgens die Augen aufschlug und mit duesterm Blick auf die Verwuestungen des vergangenen Tages, den Unrat und die boesen Wirkungen hinsah, die ein geistreiches, lebhaftes und wohlgemeintes Dichterwerk hervorgebracht hatte. II. Buch, 11. Kapitel Eilftes Kapitel Nach einem kurzen Bedenken rief er sogleich den Wirt herbei und liess sowohl den Schaden als die Zeche auf seine Rechnung schreiben. Zugleich vernahm er nicht ohne Verdruss, dass sein Pferd von Laertes gestern bei dem Hereinreiten dergestalt angegriffen worden, dass es wahrscheinlich, wie man zu sagen pflegt, verschlagen habe und dass der Schmied wenig Hoffnung zu seinem Aufkommen gebe. Ein Gruss von Philinen, den sie ihm aus ihrem Fenster zuwinkte, versetzte ihn dagegen wieder in einen heitern Zustand, und er ging sogleich in den naechsten Laden, um ihr ein kleines Geschenk, das er ihr gegen das Pudermesser noch schuldig war, zu kaufen, und wir muessen bekennen, er hielt sich nicht in den Grenzen eines proportionierten Gegengeschenks. Er kaufte ihr nicht allein ein Paar sehr niedliche Ohrringe, sondern nahm dazu noch einen Hut und Halstuch und einige andere Kleinigkeiten, die er sie den ersten Tag hatte verschwenderisch wegwerfen sehen. Madame Melina, die ihn eben, als er seine Gaben ueberreichte, zu beobachten kam, suchte noch vor Tische eine Gelegenheit, ihn sehr ernstlich ueber die Empfindung fuer dieses Maedchen zur Rede zu setzen, und er war um so erstaunter, als er nichts weniger denn diese Vorwuerfe zu verdienen glaubte. Er schwur hoch und teuer, dass es ihm keineswegs eingefallen sei, sich an diese Person, deren ganzen Wandel er wohl kenne, zu wenden; er entschuldigte sich, so gut er konnte, ueber sein freundliches und artiges Betragen gegen sie, befriedigte aber Madame Melina auf keine Weise, vielmehr ward diese immer verdriesslicher, da sie bemerken musste, dass die Schmeichelei, wodurch sie sich eine Art von Neigung unsers Freundes erworben hatte, nicht hinreiche, diesen Besitz gegen die Angriffe einer lebhaften, juengern und von der Natur gluecklicher begabten Person zu verteidigen. Ihren Mann fanden sie gleichfalls, da sie zu Tische kamen, bei sehr ueblem Humor, und er fing schon an, ihn ueber Kleinigkeiten auszulassen, als der Wirt hereintrat und einen Harfenspieler anmeldete. "Sie werden", sagte er, "gewiss Vergnuegen an der Musik und an den Gesaengen dieses Mannes finden; es kann sich niemand, der ihn hoert, enthalten, ihn zu bewundern und ihm etwas weniges mitzuteilen." "Lassen Sie ihn weg", versetzte Melina, "ich bin nichts weniger als gestimmt, einen Leiermann zu hoeren, und wir haben allenfalls Saenger unter uns, die gern etwas verdienten." Er begleitete diese Worte mit einem tueckischen Seitenblicke, den er auf Philinen warf. Sie verstand ihn und war gleich bereit, zu seinem Verdruss den angemeldeten Saenger zu beschuetzen. Sie wendete sich zu Wilhelmen und sagte: "Sollen wir den Mann nicht hoeren, sollen wir nichts tun, um uns aus der erbaermlichen Langenweile zu retten?" Melina wollte ihr antworten, und der Streit waere lebhafter geworden, wenn nicht Wilhelm den im Augenblick hereintretenden Mann begruesst und ihn herbeigewinkt haette. Die Gestalt dieses seltsamen Gastes setzte die ganze Gesellschaft in Erstaunen, und er hatte schon von einem Stuhle Besitz genommen, ehe jemand ihn zu fragen oder sonst etwas vorzubringen das Herz hatte. Sein kahler Scheitel war von wenig grauen Haaren umkraenzt, grosse blaue Augen blickten sanft unter langen weissen Augenbrauen hervor. An eine wohlgebildete Nase schloss sich ein langer weisser Bart an, ohne die gefaellige Lippe zu bedecken, und ein langes dunkelbraunes Gewand umhuellte den schlanken Koerper vom Halse bis zu den Fuessen; und so fing er auf der Harfe, die er vor sich genommen hatte, zu praeludieren an. Die angenehmen Toene, die er aus dem Instrumente hervorlockte, erheiterten gar bald die Gesellschaft. "Ihr pflegt auch zu singen, guter Alter", sagte Philine. "Gebt uns etwas, das Herz und Geist zugleich mit den Sinnen ergoetze", sagte Wilhelm. "Das Instrument sollte nur die Stimme begleiten; denn Melodien, Gaenge und Laeufe ohne Worte und Sinn scheinen mir Schmetterlingen oder schoenen bunten Voegeln aehnlich zu sein, die in der Luft vor unsern Augen herumschweben, die wir allenfalls haschen und uns zueignen moechten; da sich der Gesang dagegen wie ein Genius gen Himmel hebt und das bessere Ich in uns ihn zu begleiten anreizt." Der Alte sah Wilhelmen an, alsdann in die Hoehe, tat einige Griffe auf der Harfe und begann sein Lied. Es enthielt ein Lob auf den Gesang, pries das Glueck der Saenger und ermahnte die Menschen, sie zu ehren. Er trug das Lied mit so viel Leben und Wahrheit vor, dass es schien, als haette er es in diesem Augenblicke und bei diesem Anlasse gedichtet. Wilhelm enthielt sich kaum, ihm um den Hals zu fallen; nur die Furcht, ein lautes Gelaechter zu erregen, zog ihn auf seinen Stuhl zurueck; denn die uebrigen machten schon halblaut einige alberne Anmerkungen und stritten, ob es ein Pfaffe oder ein Jude sei. Als man nach dem Verfasser des Liedes fragte, gab er keine bestimmte Antwort; nur versicherte er, dass er reich an Gesaengen sei und wuensche nur, dass sie gefallen moechten. Der groesste Teil der Gesellschaft war froehlich und freudig, ja selbst Melina nach seiner Art offen geworden, und indem man untereinander schwatzte und scherzte, fing der Alte das Lob des geselligen Lebens auf das geistreichste zu singen an. Er pries Einigkeit und Gefaelligkeit mit einschmeichelnden Toenen. Auf einmal ward sein Gesang trocken, rauh und verworren, als er gehaessige Verschlossenheit, kurzsinnige Feindschaft und gefaehrlichen Zwiespalt bedauerte, und gern warf jede Seele diese unbequemen Fesseln ab, als er, auf den Fittichen einer vordringenden Melodie getragen, die Friedensstifter pries und das Glueck der Seelen, die sich wiederfinden, sang. Kaum hatte er geendigt, als ihm Wilhelm zurief: "Wer du auch seist, der du als ein huelfreicher Schutzgeist mit einer segnenden und belebenden Stimme zu uns kommst, nimm meine Verehrung und meinen Dank! fuehle, dass wir alle dich bewundern, und vertrau uns, wenn du etwas bedarfst!" Der Alte schwieg, liess erst seine Finger ueber die Saiten schleichen, dann griff er sie staerker an und sang: "Was hoer ich draussen vor dem Tor, Was auf der Bruecke schallen? Lasst den Gesang zu unserm Ohr Im Saale widerhallen!" Der Koenig sprach's, der Page lief, Der Knabe kam, der Koenig rief: "Bring ihn herein, den Alten!" "Gegruesset seid, ihr hohen Herrn, Gegruesst ihr, schoene Damen! Welch reicher Himmel! Stern bei Stern! Wer kennet ihre Namen? Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit Schliesst, Augen, euch, hier ist nicht Zeit, Sich staunend zu ergoetzend Der Saenger drueckt' die Augen ein Und schlug die vollen Toene; Der Ritter schaute mutig drein, Und in den Schoss die Schoene. Der Koenig, dem das Lied gefiel, Liess ihm, zum Lohne fuer sein Spiel, Eine goldne Kette holen. "Die goldne Kette gib mir nicht, Die Kette gib den Rittern, Vor deren kuehnem Angesicht Der Feinde Lanzen splittern. Gib sie dem Kanzler, den du hast, Und lass ihn noch die goldne Last Zu andern Lasten tragen. Ich singe, wie der Vogel singt, Der in den Zweigen wohnet. Das Lied, das aus der Kehle dringt, Ist Lohn, der reichlich lohnet; Doch darf ich bitten, bitt ich eins: Lass einen Trunk des besten Weins In reinem Glase bringen." Er setzt' es an, er trank es aus: "O Trank der suessen Labe! Oh! dreimal hochbegluecktes Haus, Wo das ist kleine Gabe! Ergeht's euch wohl, so denkt an mich, Und danket Gott so warm, als ich Fuer diesen Trunk euch danke." Da der Saenger nach geendigtem Liede ein Glas Wein, das fuer ihn eingeschenkt dastand, ergriff und es mit freundlicher Miene, sich gegen seine Wohltaeter wendend, austrank, entstand eine allgemeine Freude in der Versammlung. Man klatschte und rief ihm zu, es moege dieses Glas zu seiner Gesundheit, zur Staerkung seiner alten Glieder gereichen. Er sang noch einige Romanzen und erregte immer mehr Munterkeit in der Gesellschaft. "Kannst du die Melodie, Alter", rief Philine, ""Der Schaefer putzte sich zum Tanz"?" "O ja", versetzte er; "wenn Sie das Lied singen und auffuehren wollen, an mir soll es nicht fehlen." Philine stand auf und hielt sich fertig. Der Alte begann die Melodie, und sie sang ein Lied, das wir unsern Lesern nicht mitteilen koennen, weil sie es vielleicht abgeschmackt oder wohl gar unanstaendig finden koennten. Inzwischen hatte die Gesellschaft, die immer heiterer geworden war, noch manche Flasche Wein ausgetrunken und fing an, sehr laut zu werden. Da aber unserm Freunde die boesen Folgen ihrer Lust noch in frischem Andenken schwebten, suchte er abzubrechen, steckte dem Alten fuer seine Bemuehung eine reichliche Belohnung in die Hand, die andern taten auch etwas, man liess ihn abtreten und ruhen und versprach sich auf den Abend eine wiederholte Freude von seiner Geschicklichkeit. Als er hinweg war, sagte Wilhelm zu Philinen: "Ich kann zwar in Ihrem Leibgesange weder ein dichterisches oder sittliches Verdienst finden; doch wenn Sie mit ebender Naivetaet, Eigenheit und Zierlichkeit etwas Schickliches auf dem Theater jemals ausfuehren, so wird Ihnen allgemeiner, lebhafter Beifall gewiss zuteil werden." "Ja", sagte Philine, "es muesste eine recht angenehme Empfindung sein, sich am Eise zu waermen." "ueberhaupt", sagte Wilhelm, "wie sehr beschaemt dieser Mann manchen Schauspieler. Haben Sie bemerkt, wie richtig der dramatische Ausdruck seiner Romanzen war? Gewiss, es lebte mehr Darstellung in seinem Gesang als in unsern steifen Personen auf der Buehne; man sollte die Auffuehrung mancher Stuecke eher fuer eine Erzaehlung halten und diesen musikalischen Erzaehlungen eine sinnliche Gegenwart zuschreiben." "Sie sind ungerecht!" versetzte Laertes, "ich gebe mich weder fuer einen grossen Schauspieler noch Saenger; aber das weiss ich, dass, wenn die Musik die Bewegungen des Koerpers leitet, ihnen Leben gibt und ihnen zugleich das Mass vorschreibt; wenn Deklamation und Ausdruck schon von dem Kompositeur auf mich uebertragen werden: so bin ich ein ganz andrer Mensch, als wenn ich im prosaischen Drama das alles erst erschaffen und Takt und Deklamation mir erst erfinden soll, worin mich noch dazu jeder Mitspielende stoeren kann." "Soviel weiss ich", sagte Melina, "dass uns dieser Mann in einem Punkte gewiss beschaemt, und zwar in einem Hauptpunkte. Die Staerke seiner Talente zeigt sich in dem Nutzen, den er davon zieht. Uns, die wir vielleicht bald in Verlegenheit sein werden, wo wir eine Mahlzeit hernehmen, bewegt er, unsre Mahlzeit mit ihm zu teilen. Er weiss uns das Geld, das wir anwenden koennten, um uns in einige Verfassung zu setzen, durch ein Liedchen aus der Tasche zu locken. Es scheint so angenehm zu sein, das Geld zu verschleudern, womit man sich und andern eine Existenz verschaffen koennte." Das Gespraech bekam durch diese Bemerkung nicht die angenehmste Wendung. Wilhelm, auf den der Vorwurf eigentlich gerichtet war, antwortete mit einiger Leidenschaft, und Melina, der sich eben nicht der groessten Feinheit befliss, brachte zuletzt seine Beschwerden mit ziemlich trockenen Worten vor. "Es sind nun schon vierzehn Tage", sagte er, "dass wir das hier verpfaendete Theater und die Garderobe besehen haben, und beides konnten wir fuer eine sehr leidliche Summe haben. Sie machten mir damals Hoffnung, dass Sie mir soviel kreditieren wuerden, und bis jetzt habe ich noch nicht gesehen, dass Sie die Sache weiter bedacht oder sich einem Entschluss genaehert haetten. Griffen Sie damals zu, so waeren wir jetzt im Gange. Ihre Absicht zu verreisen haben Sie auch noch nicht ausgefuehrt, und Geld scheinen Sie mir diese Zeit ueber auch nicht gespart zu haben; wenigstens gibt es Personen, die immer Gelegenheit zu verschaffen wissen, dass es geschwinder weggehe." Dieser nicht ganz ungerechte Vorwurf traf unsern Freund. Er versetzte einiges darauf mit Lebhaftigkeit, ja mit Heftigkeit und ergriff, da die Gesellschaft aufstund und sich zerstreute, die Tuere, indem er nicht undeutlich zu erkennen gab, dass er sich nicht lange mehr bei so unfreundlichen und undankbaren Menschen aufhalten wolle. Er eilte verdriesslich hinunter, sich auf eine steinerne Bank zu setzen, die vor dem Tore seines Gasthofs stand, und bemerkte nicht, dass er halb aus Lust, halb aus Verdruss mehr als gewoehnlich getrunken hatte. II. Buch, 12. Kapitel Zwoelftes Kapitel Nach einer kurzen Zeit, die er, beunruhigt von mancherlei Gedanken, sitzend und vor sich hin sehend zugebracht hatte, schlenderte Philine singend zur Haustuere heraus, setzte sich zu ihm, ja man duerfte beinahe sagen auf ihn, so nahe rueckte sie an ihn heran, lehnte sich auf seine Schultern, spielte mit seinen Locken, streichelte ihn und gab ihm die besten Worte von der Welt. Sie bat ihn, er moechte ja bleiben und sie nicht in der Gesellschaft allein lassen, in der sie vor Langerweile sterben muesste; sie koenne nicht mehr mit Melina unter einem Dache ausdauern und habe sich deswegen herueberquartiert. Vergebens suchte er sie abzuweisen, ihr begreiflich zu machen, dass er laenger weder bleiben koenne noch duerfe. Sie liess mit Bitten nicht ab, ja unvermutet schlang sie ihren Arm um seinen Hals und kuesste ihn mit dem lebhaftesten Ausdrucke des Verlangens. "Sind Sie toll, Philine?" rief Wilhelm aus, indem er sich loszumachen suchte, "die oeffentliche Strasse zum Zeugen solcher Liebkosungen zu machen, die ich auf keine Weise verdiene! Lassen Sie mich los, ich kann nicht und ich werde nicht bleiben." "Und ich werde dich festhalten", sagte sie, "und ich werde dich hier auf oeffentlicher Gasse so lange kuessen, bis du mir versprichst, was ich wuensche. Ich lache mich zu Tode", fuhr sie fort; "nach dieser Vertraulichkeit halten mich die Leute gewiss fuer deine Frau von vier Wochen, und die Ehemaenner, die eine so anmutige Szene sehen, werden mich ihren Weibern als ein Muster einer kindlich unbefangenen Zaertlichkeit anpreisen." Eben gingen einige Leute vorbei, und sie liebkoste ihn auf das anmutigste, und er, um kein Skandal zu geben, war gezwungen, die Rolle des geduldigen Ehemannes zu spielen. Dann schnitt sie den Leuten Gesichter im Ruecken und trieb voll uebermut allerhand Ungezogenheiten, bis er zuletzt versprechen musste, noch heute und morgen und uebermorgen zu bleiben. "Sie sind ein rechter Stock!" sagte sie darauf, indem sie von ihm abliess, "und ich eine Toerin, dass ich so viel Freundlichkeit an Sie verschwende." Sie stand verdriesslich auf und ging einige Schritte; dann kehrte sie lachend zurueck und rief: "Ich glaube eben, dass ich darum in dich vernarrt bin, ich will nur gehen und meinen Strickstrumpf holen, dass ich etwas zu tun habe. Bleibe ja, damit ich den steinernen Mann auf der steinernen Bank wiederfinde." Diesmal tat sie ihm unrecht: denn sosehr er sich von ihr zu enthalten strebte, so wuerde er doch in diesem Augenblicke, haette er sich mit ihr in einer einsamen Laube befunden, ihre Liebkosungen wahrscheinlich nicht unerwidert gelassen haben. Sie ging, nachdem sie ihm einen leichtfertigen Blick zugeworfen, in das Haus. Er hatte keinen Beruf, ihr zu folgen, vielmehr hatte ihr Betragen einen neuen Widerwillen in ihm erregt; doch hob er sich, ohne selbst recht zu wissen warum, von der Bank, um ihr nachzugehen. Er war eben im Begriff, in die Tuere zu treten, als Melina herbeikam, ihn bescheiden anredete und ihn wegen einiger im Wortwechsel zu hart ausgesprochenen Ausdruecke um Verzeihung bat. "Sie nehmen mir nicht uebel", fuhr er fort, "wenn ich in dem Zustande, in dem ich mich befinde, mich vielleicht zu aengstlich bezeige; aber die Sorge fuer eine Frau, vielleicht bald fuer ein Kind, verhindert mich von einem Tag zum andern, ruhig zu leben und meine Zeit mit dem Genuss angenehmer Empfindungen hinzubringen, wie Ihnen noch erlaubt ist. ueberdenken Sie, und wenn es Ihnen moeglich ist, so setzen Sie mich in den Besitz der theatralischen Geraetschaften, die sich hier vorfinden. Ich werde nicht lange Ihr Schuldner und Ihnen dafuer ewig dankbar bleiben." Wilhelm, der sich ungern auf der Schwelle aufgehalten sah, ueber die ihn eine unwiderstehliche Neigung in diesem Augenblicke zu Philinen hinueberzog, sagte mit einer ueberraschten Zerstreuung und eilfertigen Gutmuetigkeit: "Wenn ich Sie dadurch gluecklich und zufrieden machen kann, so will ich mich nicht laenger bedenken. Gehn Sie hin, machen Sie alles richtig. Ich bin bereit, noch diesen Abend oder morgen frueh das Geld zu zahlen." Er gab hierauf Melinan die Hand zur Bestaetigung seines Versprechens und war sehr zufrieden, als er ihn eilig ueber die Strasse weggehen sah; leider aber wurde er von seinem Eindringen ins Haus zum zweitenmal und auf eine unangenehmere Weise zurueckgehalten. Ein junger Mensch mit einem Buendel auf dem Ruecken kam eilig die Strasse her und trat zu Wilhelmen, der ihn gleich fuer Friedrichen erkannte. "Da bin ich wieder!" rief er aus, indem er seine grossen blauen Augen freudig umher und hinauf an alle Fenster gehen liess; "wo ist Mamsell? Der Henker mag es laenger in der Welt aushalten, ohne sie zu sehen!" Der Wirt, der eben dazugetreten war, versetzte: "Sie ist oben", und mit wenigen Spruengen war er die Treppe hinauf, und Wilhelm blieb auf der Schwelle wie eingewurzelt stehen. Er haette in den ersten Augenblicken den Jungen bei den Haaren rueckwaerts die Treppe herunterreissen moegen; dann hemmte der heftige Krampf einer gewaltsamen Eifersucht auf einmal den Lauf seiner Lebensgeister und seiner Ideen, und da er sich nach und nach von seiner Erstarrung erholte, ueberfiel ihn eine Unruhe, ein Unbehagen, dergleichen er in seinem Leben noch nicht empfunden hatte. Er ging auf seine Stube und fand Mignon mit Schreiben beschaeftigt. Das Kind hatte sich eine Zeit her mit grossem Fleisse bemueht, alles, was es auswendig wusste, zu schreiben, und hatte seinem Herrn und Freund das Geschriebene zu korrigieren gegeben. Sie war unermuedet und fasste gut; aber die Buchstaben blieben ungleich und die Linien krumm. Auch hier schien ihr Koerper dem Geiste zu widersprechen. Wilhelm, dem die Aufmerksamkeit des Kindes, wenn er ruhigen Sinnes war, grosse Freude machte, achtete diesmal wenig auf das, was sie ihm zeigte; sie fuehlte es und betruebte sich darueber nur desto mehr, als sie glaubte, diesmal ihre Sache recht gut gemacht zu haben. Wilhelms Unruhe trieb ihn auf den Gaengen des Hauses auf und ab und bald wieder an die Haustuere. Ein Reiter sprengte vor, der ein gutes Ansehn hatte und der bei gesetzten Jahren noch viel Munterkeit verriet. Der Wirt eilte ihm entgegen, reichte ihm als einem bekannten Freunde die Hand und rief: "Ei, Herr Stallmeister, sieht man Sie auch einmal wieder!" "Ich will nur hier fuettern", versetzte der Fremde, "ich muss gleich hinueber auf das Gut, um in der Geschwindigkeit allerlei einrichten zu lassen. Der Graf koemmt morgen mit seiner Gemahlin, sie werden sich eine Zeitlang drueben aufhalten, um den Prinzen von *** auf das beste zu bewirten, der in dieser Gegend wahrscheinlich sein Hauptquartier aufschlaegt." "Es ist schade, dass Sie nicht bei uns bleiben koennen", versetzte der Wirt, "wir haben gute Gesellschaft." Der Reitknecht, der nachsprengte, nahm dem Stallmeister das Pferd ab, der sich unter der Tuere mit dem Wirt unterhielt und Wilhelmen von der Seite ansah. Dieser, da er merkte, dass von ihm die Rede sei, begab sich weg und ging einige Strassen auf und ab. II. Buch, 13. Kapitel Dreizehntes Kapitel In der verdriesslichen Unruhe, in der er sich befand, fiel ihm ein, den Alten aufzusuchen, durch dessen Harfe er die boesen Geister zu verscheuchen hoffte. Man wies ihn, als er nach dem Manne fragte, an ein schlechtes Wirtshaus in einem entfernten Winkel des Staedtchens und in demselben die Treppe hinauf bis auf den Boden, wo ihm der suesse Harfenklang aus einer Kammer entgegenschallte. Es waren herzruehrende, klagende Toene, von einem traurigen, aengstlichen Gesange begleitet. Wilhelm schlich an die Tuere, und da der gute Alte eine Art von Phantasie vortrug und wenige Strophen teils singend, teils rezitierend immer wiederholte, konnte der Horcher nach einer kurzen Aufmerksamkeit ungefaehr folgendes verstehen: Wer nie sein Brot mit Traenen ass, Wer nie die kummervollen Naechte Auf seinem Bette weinend sass, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Maechte. Ihr fuehrt ins Leben uns hinein, Ihr lasst den Armen schuldig werden, Dann ueberlasst ihr ihn der Pein; Denn alle Schuld raecht sich auf Erden. Die wehmuetige, herzliche Klage drang tief in die Seele des Hoerers. Es schien ihm, als ob der Alte manchmal von Traenen gehindert wuerde fortzufahren; dann klangen die Saiten allein, bis sich wieder die Stimme leise in gebrochenen Lauten dareinmischte. Wilhelm stand an dem Pfosten, seine Seele war tief geruehrt, die Trauer des Unbekannten schloss sein beklommenes Herz auf; er widerstand nicht dem Mitgefuehl und konnte und wollte die Traenen nicht zurueckhalten, die des Alten herzliche Klage endlich auch aus seinen Augen hervorlockte. Alle Schmerzen, die seine Seele drueckten, loesten sich zu gleicher Zeit auf, er ueberliess sich ihnen ganz, stiess die Kammertuere auf und stand vor dem Alten, der ein schlechtes Bette, den einzigen Hausrat dieser armseligen Wohnung, zu seinem Sitze zu nehmen genoetigt gewesen. "Was hast du mir fuer Empfindungen rege gemacht, guter Alter!" rief er aus, "alles, was in meinem Herzen stockte, hast du losgeloest; lass dich nicht stoeren, sondern fahre fort, indem du deine Leiden linderst, einen Freund gluecklich zu machen." Der Alte wollte aufstehen und etwas reden, Wilhelm verhinderte ihn daran; denn er hatte zu Mittage bemerkt, dass der Mann ungern sprach; er setzte sich vielmehr zu ihm auf den Strohsack nieder. Der Alte trocknete seine Traenen und fragte mit einem freundlichen Laecheln: "Wie kommen Sie hierher? Ich wollte Ihnen diesen Abend wieder aufwarten." "Wir sind hier ruhiger", versetzte Wilhelm, "singe mir, was du willst, was zu deiner Lage passt, und tue nur, als ob ich gar nicht hier waere. Es scheint mir, als ob du heute nicht irren koenntest. Ich finde dich sehr gluecklich, dass du dich in der Einsamkeit so angenehm beschaeftigen und unterhalten kannst und, da du ueberall ein Fremdling bist, in deinem Herzen die angenehmste Bekanntschaft findest." Der Alte blickte auf seine Saiten, und nachdem er sanft praeludiert hatte, stimmte er an und sang: Wer sich der Einsamkeit ergibt, Ach! der ist bald allein; Ein jeder lebt, ein jeder liebt Und laesst ihn seiner Pein. Ja! lasst mich meiner Qual! Und kann ich nur einmal Recht einsam sein, Dann bin ich nicht allein. Es schleicht ein Liebender lauschend sacht, Ob seine Freundin allein? So ueberschleicht bei Tag und Nacht Mich Einsamen die Pein, Mich Einsamen die Qual. Ach werd ich erst einmal Einsam im Grabe sein, Da laesst sie mich allein! Wir wuerden zu weitlaeufig werden und doch die Anmut der seltsamen Unterredung nicht ausdruecken koennen, die unser Freund mit dem abenteuerlichen Fremden hielt. Auf alles, was der Juengling zu ihm sagte, antwortete der Alte mit der reinsten uebereinstimmung durch Anklaenge, die alle verwandten Empfindungen rege machten und der Einbildungskraft ein weites Feld eroeffneten. Wer einer Versammlung frommer Menschen, die sich, abgesondert von der Kirche, reiner, herzlicher und geistreicher zu erbauen glauben, beigewohnt hat, wird sich auch einen Begriff von der gegenwaertigen Szene machen koennen; er wird sich erinnern, wie der Liturg seinen Worten den Vers eines Gesanges anzupassen weiss, der die Seele dahin erhebt, wohin der Redner wuenscht, dass sie ihren Flug nehmen moege, wie bald darauf ein anderer aus der Gemeinde in einer andern Melodie den Vers eines andern Liedes hinzufuegt und an diesen wieder ein dritter einen dritten anknuepft, wodurch die verwandten Ideen der Lieder, aus denen sie entlehnt sind, zwar erregt werden, jede Stelle aber durch die neue Verbindung neu und individuell wird, als wenn sie in dem Augenblicke erfunden worden waere; wodurch denn aus einem bekannten Kreise von Ideen, aus bekannten Liedern und Spruechen fuer diese besondere Gesellschaft, fuer diesen Augenblick ein eigenes Ganzes entsteht, durch dessen Genuss sie belebt, gestaerkt und erquickt wird. So erbaute der Alte seinen Gast, indem er durch bekannte und unbekannte Lieder und Stellen nahe und ferne Gefuehle, wachende und schlummernde, angenehme und schmerzliche Empfindungen in eine Zirkulation brachte, von der in dem gegenwaertigen Zustande unsers Freundes das Beste zu hoffen war. II. Buch, 14. Kapitel Vierzehntes Kapitel Denn wirklich fing er auf dem Rueckwege ueber seine Lage lebhafter, als bisher geschehen, zu denken an und war mit dem Vorsatze, sich aus derselben herauszureissen, nach Hause gelangt, als ihm der Wirt sogleich im Vertrauen eroeffnete, dass Mademoiselle Philine an dem Stallmeister des Grafen eine Eroberung gemacht habe, der, nachdem er seinen Auftrag auf dem Gute ausgerichtet, in hoechster Eile zurueckgekommen sei und ein gutes Abendessen oben auf ihrem Zimmer mit ihr verzehre. In eben diesem Augenblicke trat Melina mit dem Notarius herein; sie gingen zusammen auf Wilhelms Zimmer, wo dieser, wiewohl mit einigem Zaudern, seinem Versprechen Genuege leistete, dreihundert Taler auf Wechsel an Melina auszahlte, welche dieser sogleich dem Notarius uebergab und dagegen das Dokument ueber den geschlossenen Kauf der ganzen theatralischen Geraetschaft erhielt, welche ihm morgen frueh uebergeben werden sollte. Kaum waren sie auseinandergegangen, als Wilhelm ein entsetzliches Geschrei in dem Hause vernahm. Er hoerte eine jugendliche Stimme, die zornig und drohend durch ein unmaessiges Weinen und Heulen durchbrach. Er hoerte diese Wehklage von oben herunter an seiner Stube vorbei nach dem Hausplatze eilen. Als die Neugierde unsern Freund herunterlockte, fand er Friedrichen in einer Art von Raserei. Der Knabe weinte, knirschte, stampfte, drohte mit geballten Faeusten und stellte sich ganz ungebaerdig vor Zorn und Verdruss, Mignon stand gegenueber und sah mit Verwunderung zu, und der Wirt erklaerte einigermassen diese Erscheinung. Der Knabe sei nach seiner Rueckkunft, da ihn Philine gut aufgenommen, zufrieden, lustig und munter gewesen, habe gesungen und gesprungen bis zur Zeit, da der Stallmeister mit Philinen Bekanntschaft gemacht. Nun habe das Mittelding zwischen Kind und Juengling angefangen, seinen Verdruss zu zeigen, die Tueren zuzuschlagen und auf und nieder zu rennen. Philine habe ihm befohlen, heute abend bei Tische aufzuwarten, worueber er nur noch muerrischer und trotziger geworden; endlich habe er eine Schuessel mit Ragout, anstatt sie auf den Tisch zu setzen, zwischen Mademoiselle und den Gast, die ziemlich nahe zusammen gesessen, hineingeworfen, worauf ihm der Stallmeister ein paar tuechtige Ohrfeigen gegeben und ihn zur Tuere hinausgeschmissen. Er, der Wirt, habe darauf die beiden Personen saeubern helfen, deren Kleider sehr uebel zugerichtet gewesen. Als der Knabe die gute Wirkung seiner Rache vernahm, fing er laut zu lachen an, indem ihm noch immer die Traenen an den Backen herunterliefen. Er freute sich einige Zeit herzlich, bis ihm der Schimpf, den ihm der Staerkere angetan, wieder einfiel, da er denn von neuem zu heulen und zu drohen anfing. Wilhelm stand nachdenklich und beschaemt vor dieser Szene. Er sah sein eignes Innerstes mit starken und uebertriebenen Zuegen dargestellt; auch er war von einer unueberwindlichen Eifersucht entzuendet; auch er, wenn ihn der Wohlstand nicht zurueckgehalten haette, wuerde gern seine wilde Laune befriedigt, gern mit tueckischer Schadenfreude den geliebten Gegenstand verletzt und seinen Nebenbuhler ausgefordert haben; er haette die Menschen, die nur zu seinem Verdrusse dazusein schienen, vertilgen moegen. Laertes, der auch herbeigekommen war und die Geschichte vernommen hatte, bestaerkte schelmisch den aufgebrachten Knaben, als dieser beteuerte und schwur: der Stallmeister muesse ihm Satisfaktion geben, er habe noch keine Beleidigung auf sich sitzen lassen; weigere sich der Stallmeister, so werde er sich zu raechen wissen. Laertes war hier grade in seinem Fache. Er ging ernsthaft hinauf, den Stallmeister im Namen des Knaben herauszufordern. "Das ist lustig", sagte dieser; "einen solchen Spass haette ich mir heut abend kaum vorgestellt." Sie gingen hinunter, und Philine folgte ihnen. "Mein Sohn", sagte der Stallmeister zu Friedrichen, "du bist ein braver Junge, und ich weigere mich nicht, mit dir zu fechten; nur da die Ungleichheit unsrer Jahre und Kraefte die Sache ohnehin etwas abenteuerlich macht, so schlage ich statt anderer Waffen ein Paar Rapiere vor; wir wollen die Knoepfe mit Kreide bestreichen, und wer dem andern den ersten oder die meisten Stoesse auf den Rock zeichnet, soll fuer den ueberwinder gehalten und von dem andern mit dem besten Weine, der in der Stadt zu haben ist, traktiert werden." Laertes entschied, dass dieser Vorschlag angenommen werden koennte; Friedrich gehorchte ihm als seinem Lehrmeister. Die Rapiere kamen herbei, Philine setzte sich hin, strickte und sah beiden Kaempfern mit grosser Gemuetsruhe zu. Der Stallmeister, der seht gut focht, war gefaellig genug, seinen Gegner zu schonen und sich einige Kreidenflecke auf den Rock bringen zu lassen, worauf sie sich umarmten und Wein herbeigeschafft wurde. Der Stallmeister wollte Friedrichs Herkunft und seine Geschichte wissen, der denn ein Maerchen erzaehlte, das er schon oft wiederholt hatte und mit dem wir ein andermal unsre Leser bekannt zu machen gedenken. In Wilhelms Seele vollendete indessen dieser Zweikampf die Darstellung seiner eigenen Gefuehle: denn er konnte sich nicht leugnen, dass er das Rapier, ja lieber noch einen Degen selbst gegen den Stallmeister zu fuehren wuenschte, wenn er schon einsah, dass ihm dieser in der Fechtkunst weit ueberlegen sei. Doch wuerdigte er Philinen nicht eines Blicks, huetete sich vor jeder aeusserung, die seine Empfindung haette verraten koennen, und eilte, nachdem er einigemal auf die Gesundheit der Kaempfer Bescheid getan, auf sein Zimmer, wo sich tausend unangenehme Gedanken auf ihn zudraengten. Er erinnerte sich der Zeit, in der sein Geist durch ein unbedingtes, hoffnungsreiches Streben emporgehoben wurde, wo er in dem lebhaftesten Genusse aller Art wie in einem Elemente schwamm. Es ward ihm deutlich, wie er jetzt in ein unbestimmtes Schlendern geraten war, in welchem er nur noch schluerfend kostete, was er sonst mit vollen Zuegen eingesogen hatte; aber deutlich konnte er nicht sehen, welches unueberwindliche Beduerfnis ihm die Natur zum Gesetz gemacht hatte und wie sehr dieses Beduerfnis durch Umstaende nur gereizt, halb befriedigt und irregefuehrt worden war. Es darf also niemand wundern, wenn er bei Betrachtung seines Zustandes, und indem er sich aus demselben herauszudenken arbeitete, in die groesste Verwirrung geriet. Es war nicht genug, dass er durch seine Freundschaft zu Laertes, durch seine Neigung zu Philinen, durch seinen Anteil an Mignon laenger als billig an einem Orte und in einer Gesellschaft festgehalten wurde, in welcher er seine Lieblingsneigung hegen, gleichsam verstohlen seine Wuensche befriedigen und, ohne sich einen Zweck vorzusetzen, seinen alten Traeumen nachschleichen konnte. Aus diesen Verhaeltnissen sich loszureissen und gleich zu scheiden, glaubte er Kraft genug zu besitzen. Nun hatte er aber vor wenigen Augenblicken sich mit Melina in ein Geldgeschaeft eingelassen, er hatte den raetselhaften Alten kennenlernen, welchen zu entziffern er eine unbeschreibliche Begierde fuehlte. Allein auch dadurch sich nicht zurueckhalten zu lassen, war er nach lang hin und her geworfenen Gedanken entschlossen oder glaubte wenigstens entschlossen zu sein. "Ich muss fort", rief er aus, "ich will fort!" Er warf sich in einen Sessel und war sehr bewegt. Mignon trat herein und fragte, ob sie ihn aufwickeln duerfe. Sie kam still; es schmerzte sie tief, dass er sie heute so kurz abgefertigt hatte. Nichts ist ruehrender, als wenn eine Liebe, die sich im stillen genaehrt, eine Treue, die sich im verborgenen befestigt hat, endlich dem, der ihrer bisher nicht wert gewesen, zur rechten Stunde nahe kommt und ihm offenbar wird. Die lange und streng verschlossene Knospe war reif, und Wilhelms Herz konnte nicht empfaenglicher sein. Sie stand vor ihm und sah seine Unruhe. "Herr!" rief sie aus, "wenn du ungluecklich bist, was soll aus Mignon werden?"--"Liebes Geschoepf", sagte er, indem er ihre Haende nahm, "du bist auch mit unter meinen Schmerzen.--Ich muss fort." Sie sah ihm in die Augen, die von verhaltenen Traenen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor ihm nieder. Er behielt ihre Haende, sie legte ihr Haupt auf seine Knie und war ganz still. Er spielte mit ihren Haaren und war freundlich. Sie blieb lange ruhig. Endlich fuehlte er an ihr eine Art Zucken, das ganz sachte anfing und sich durch alle Glieder wachsend verbreitete. "Was ist dir, Mignon?" rief er aus, "was ist dir?" Sie richtete ihr Koepfchen auf und sah ihn an, fuhr auf einmal nach dem Herzen, wie mit einer Gebaerde, welche Schmerzen verbeisst. Er hob sie auf, und sie fiel auf seinen Schoss; er drueckte sie an sich und kuesste sie. Sie antwortete durch keinen Haendedruck, durch keine Bewegung. Sie hielt ihr Herz fest, und auf einmal tat sie einen Schrei, der mit krampfigen Bewegungen des Koerpers begleitet war. Sie fuhr auf und fiel auch sogleich wie an allen Gelenken gebrochen vor ihm nieder. Es war ein graesslicher Anblick! "Mein Kind!" rief er aus, indem er sie aufhob und fest umarmte, "mein Kind, was ist dir?" Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen sich den schlotternden Gliedern mitteilte; sie hing nur in seinen Armen. Er schloss sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen Traenen. Auf einmal schien sie wieder angespannt, wie eins, das den hoechsten koerperlichen Schmerz ertraegt; und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und sie warf sich ihm, wie ein Ressort, das zuschlaegt, um den Hals, indem in ihrem Innersten wie ein gewaltiger Riss geschah, und in dem Augenblicke floss ein Strom von Traenen aus ihren geschlossenen Augen in seinen Busen. Er hielt sie fest. Sie weinte, und keine Zunge spricht die Gewalt dieser Traenen aus. Ihre langen Haare waren aufgegangen und hingen von der Weinenden nieder, und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von Traenen unaufhaltsam dahinzuschmelzen. Ihre starren Glieder wurden gelinde, es ergoss sich ihr Innerstes, und in der Verirrung des Augenblickes fuerchtete Wilhelm, sie werde in seinen Armen zerschmelzen und er nichts von ihr uebrigbehalten. Er hielt sie nur fester und fester. "Mein Kind!" rief er aus, "mein Kind! Du bist ja mein! Wenn dich das Wort troesten kann. Du bist mein! Ich werde dich behalten, dich nicht verlassen!" Ihre Traenen flossen noch immer. Endlich richtete sie sich auf. Eine weiche Heiterkeit glaenzte von ihrem Gesichte. "Mein Vater!" rief sie, "du willst mich nicht verlassen! willst mein Vater sein!--Ich bin dein Kind!" Sanft fing vor der Tuere die Harfe an zu klingen; der Alte brachte seine herzlichsten Lieder dem Freunde zum Abendopfer, der, sein Kind immer fester in Armen haltend, des reinsten, unbeschreiblichsten Glueckes genoss.