| PERSONEN
        
          DER GRAF VON CAVERSHAM, Ritter
          des Hosenbandordens 
          
           VISCOUNT GORING, sein Sohn 
          
           SIR ROBERT CHILTERN, Baronet, Untersekretär
          im Außenministerium
          
           VICOMTE DE NANJAC, Attaché
          an der französischen Botschaft in London 
          
           MR. MONTFORD  MASON, Butler bei Sir Robert 
                  Chiltern    PHIPPS, Lord Gorings Diener
          
          
           JAMES und HAROLD, Bediente
          
           LADY CHILTERN 
          
           LADY MARKBY 
          
           DIE GRÄFIN VON BASILDON 
          
           MRS. MARCHMONT 
          
           MISS MABEL CHILTERN, Sir Robert Chilterns Schwester 
          
           MRS. CHEVELEY
          
           Zeit: Gegenwart (1895) - Ort: London
      
       Die Handlung des Stücks spielt sich in
      vierundzwanzig Stunden ab.
      
       
 ERSTER AKT
      
       François Boucher
 Le Triomphe de Vénus, 1740
 Öl/Leinwand, 130 x 162 cm
 Stockholm, Nationalmuseum
Achteckiger 
              Saal in Sir Robert Chilterns Haus am Grosvenor 
              Square. Der Saal ist strahlend 
              hell erleuchtet und voller Gäste. Auf dem 
              Treppenabsatz steht Lady Chiltern, eine Frau von ernster griechischer 
              Schönheit, etwa siebenundzwanzig Jahre alt. Sie empfängt die 
              heraufkommenden Gäste. Im Treppenhaus hängt ein mächtiger Kronleuchter 
              mit Wachskerzen, die einen großen französischen Gobelin aus dem 
              achtzehnten Jahrhundert an der Wand des Treppenhauses beleuchten 
              - er stellt nach einem Entwurf von Boucher den Triumph 
              der Liebe dar. Rechts Tür zum Musikzimmer. Die Klänge eines Streichquartetts sind schwach zu vernehmen. Die Tür zur 
              Linken führt in andere Empfangsräume. Mrs. Marchmont und 
              Lady Basildon, zwei ausnehmend hübsche Frauen, sitzen zusammen auf 
              einem Louis-Seize-Sofa. Sie sind Musterbeispiele erlesener Zerbrechlichkeit. 
              Ihr geziertes Benehmen ist von köstlichem Reiz. 
              Watteau hätte sie gern gemalt. 
                MRS. MARCHMONT: Gehen Sie später noch zu den Hartlocks, Margaret?LADY BASILDON: Ich denke: ja. Sie auch?
 MRS. MARCHMONT: Ja. Grässlich langweilige Gesellschaft geben sie, nicht
      wahr?
 LADY BASILDON: Grässlich langweilige! Weiß nicht, warum ich hingehe. Weiß
      nicht, warum ich überhaupt irgendwohin gehe.
 MRS. MARCHMONT: Hierher komme ich, um mich bilden zu lassen.
 LADY BASILDON:
      Ach! Ich hasse es, mich bilden zu lassen!
 MRS. MARCHMONT: Ich auch. Es bringt einen fast auf eine Ebene mit den
      kommerziellen Schichten, nicht wahr? Aber die liebe Gertrude Chiltern
      redet mir ständig vor, ich sollte ein ernsthaftes Lebensziel haben. Also
      komme ich her und versuche, eins zu finden.
 LADY BASILDON blickt durch ihre
      Lorgnette in die Runde: Ich sehe hier heute Abend niemand, den man möglicherweise
      als ernsthaftes Ziel bezeichnen könnte. Der Mensch, der mich zum Essen führte,
      hat mir die ganze Zeit von seiner Frau erzählt.
 MRS. MARCHMONT:
      Wie trivial!
 LADY BASILDON: Schrecklich trivial! Worüber
      hat Ihrer geredet?
 MRS. MARCHMONT: Über mich.
 LADY BASILDON matt: Und hat es
      Sie interessiert?
 MRS. MARCHMONT schüttelt den Kopf: Nicht
      im geringsten.
 LADY BASILDON: Was sind wir doch für Märtyrerinnen, liebe Margaret!
 MRS. MARCHMONT steht auf: Und
      wie gut kleidet es uns, Olivia!
 Sie erheben
      sich und gehen zum Musikzimmer. Der Vicomte de
      Nanjac, ein junger, für seine
      Krawatten und seine Anglomanie bekannter Attaché, nähere sich mit einer
      tiefen Verbeugung und knüpft
      ein Gespräch an.
      
       MASON meldet auf dem
      Treppenansatz Gäste: Mr. und Lady Jane Barford. Lord Caversham.
      
       Lord
      Caversham, ein alter Herr von Siebzig, tritt auf, er trägt
      Band und Stern des Hosenbandordens.
      Ein vortrefflicher Whig- Typus. Fast wie ein Porträt von Lawrence.
      
       LORD CAVERSHAM: Guten Abend, Lady Chiltern! Ist mein junger
      Nichtsnutz von Sohn hier?LADY CHILTERN lächelnd: Ich
      glaube, Lord Goring ist noch nicht gekommen.
 MABEL CHILTERN tritt auf
      Lord Caversham zu: Warum schimpfen Sie Lord Goring einen Nichtsnutz?
 Mabel
      Chiltern ist ein vollendetes Beispiel für den englischen Typus von Schönheit,
      den Apfelblütentypus. Sie besitzt die ganze
      Zartheit und Natürlichkeit einer
      Blume. Ein unaufhörliches Geriesel von Sonnenlicht ist in ihrem Haar, und
      der kleine Mund mit den halb geöffneten
      Lippen ist erwartungsvoll wie der Mund eines Kindes.
      Die entzückende Tyrannei der Jugend und die erstaunliche Beherztheit
      der Unschuld ist ihr eigen. Nüchterne Leute erinnert sie nicht
      an irgendein Kunstwerk. Doch in Wahrheit gleicht sie einem Tanagrafigürchen
      und wäre recht ungehalten, wenn man es ihr sagte.
      
       LORD CAVERSHAM: Weil er ein so müßiges Leben führt.MABEL CHILTERN: Wie können Sie so etwas sagen? Er reitet um zehn Uhr
      vormittags durch die Rotten Row, geht dreimal wöchentlich in die Oper,
      wechselt seine Kleidung wenigstens fünfmal am Tag und speist in der
      Saison jeden Abend außer Haus. Das können Sie doch nicht ein müßiges
      Leben nennen?
 LORD CAVERSHAM sieht sie mit
      freundlichem Augenzwinkern an: Sie sind eine ganz bezaubernde junge
      Dame!
 MABEL CHILTERN: Wie reizend von Ihnen, das zu sagen, Lord Caversham!
      Kommen Sie bitte häufiger zu uns. Sie wissen, wir empfangen jeden
      Mittwoch, und Sie sehen so gut aus mit Ihrem Orden!
 LORD CAVERSHAM: Gehe jetzt nie mehr wohin. Hab die Londoner Gesellschaft
      satt. Würde mir nichts ausmachen, wenn mir mein eigener Schneider
      vorgestellt wird, er stimmt immer für die richtige Seite. Habe jedoch
      entschieden etwas dagegen, die Putzmacherin meiner Frau zu Tisch führen
      zu müssen. Kann Lady Cavershams Hüte nicht ausstehen.
 MABEL CHILTERN: Oh, ich liebe die Londoner Gesellschaft! Ich glaube, sie
      hat sich ungeheuer verbessert. Sie besteht jetzt durchweg aus schönen
      Schwachköpfen und brillanten Irren. Genau so, wie die Gesellschaft sein
      sollte.
 LORD CAVERSHAM:
      Hm. Und was ist Goring? Ein schöner Schwachkopf - oder das andere?
 MABEL CHILTERN ernst: Ich habe
      mich genötigt gesehen, Lord Goring vorerst in eine Klasse für sich
      einzustufen. Aber er entwickelt sich reizend.
 LORD CAVERSHAM:
      Wozu?
 MABEL CHILTERN mit einem kleinen Knicks: Das
      hoffe ich Ihnen sehr bald sagen zu können, Lord Caversham!
 MASON meldet
      Gäste: Lady Markby, Mrs. Cheveley.
 Lady Markby und Mrs. Cheveley treten auf. Lady Markby
      ist eine heitere, freundliche,
      allseits beliebte Frau mit á la marquise
      frisiertem grauem Haar und echten
      Spitzen. Mrs. Cheveley, die sie begleitet,
      ist groß und ziemlich schlank. Sehr dünne und stark gefärbte Lippen,
      ein scharlachroter Strich in einem bleichen
      Gesicht. Venezianischrotes Haar,
      Adlernase und langer Hals. Rouge unterstreicht die natürliche Blässe
      ihrer Haut. Graugrüne Augen, die sich
      ruhelos bewegen. Sie ist in Heliotrop, mit Diamanten. Sie gleicht etwas
      einer Orchidee und stellt erhebliche Forderungen an die Neugier. In all ihren
      Bewegungen ist sie ungewöhnlich graziös. Alles in allem ein Kunstwerk, das jedoch den Einfluss zu
      vieler Schulen
      erkennen lässt.
      
       LADY MARKBY: Guten Abend, liebe Gertrude! So lieb von Ihnen, dass
      ich meine Freundin, Mrs. Cheveley, mitbringen durfte. Zwei so bezaubernde
      Frauen sollten einander kennen lernen!LADY CHILTERN geht mit einem
      gewinnenden Lächeln auf Mrs.
      Cheveley zu. Plötzlich bleibt sie stehen und neigt recht kühl den Kopf: Mir scheint, Mrs. Cheveley und ich sind uns schon früher
      begegnet. Ich wusste nicht, dass sie ein zweites Mal geheiratet hat.
 LADY MARKBY munter: Ach,
      heutzutage heiraten die Leute sooft sie nur können, nicht wahr? Das ist
      die große Mode. Zur Herzogin
      von Maryborough. Liebe Herzogin, wie geht es dem Herzog? Vermutlich
      immer noch schwach bei Verstand? Nun, das war ja wohl nicht anders zu
      erwarten. Seinem guten Vater erging's genauso. Es geht doch nichts über
      Rasse, nicht wahr?
 MRS. CHEVELEY spielt mit ihrem Fächer:
      Sind wir uns wirklich schon früher begegnet, Lady Chiltern? Ich kann
      mich nicht erinnern, wo. Ich habe so lange fern von England gelebt.
 LADY CHILTERN: Wir waren zusammen in der Schule, Mrs. Cheveley.
 MRS. CHEVELEY hochmütig:
      Wirklich? Ich habe alles aus meiner Schulzeit vergessen. Ich habe den
      vagen Eindruck, dass sie abscheulich war.
 LADY CHILTERN kühl: Das überrascht
      mich nicht!
 MRS. CHEVELEY äußerst liebenswürdig:
      Wissen Sie, ich freue mich darauf, Ihren tüchtigen Gatten kennen
      zulernen, Lady Chiltern. Seit er im Außenministerium ist, wird in Wien so
      viel von ihm gesprochen. In den Zeitungen wird tatsächlich sein Name
      richtig geschrieben. Das bedeutet auf dem Festland an sich schon Ruhm.
 LADY CHILTERN: Ich glaube kaum, dass es zwischen Ihnen und meinem Gatten
      viel Gemeinsames geben wird, Mrs. Cheveley! Entfernt sich.
 VICOMTE DE NANJAC:
      Ah, chérie Madame, quelle surprise! Seit
      Berlin habe ich Sie nicht gesehen.
 MRS. CHEVELEY: Seit Berlin nicht, Vicomte. Das ist fünf Jahre her!
 VICOMTE DE NANJAC: Und Sie sind jünger und schöner denn je. Wie bringen
      Sie das fertig?
 MRS. CHEVELEY: Indem ich es mir zur Regel mache, nur mit ausnehmend
      reizenden Leuten wie Ihnen zu plaudern.
 VICOMTE DE NANJAC:
      Ah! Sie schmeicheln mir. Sie gehen mir um den Bart, wie man hier sagt.
 MRS. CHEVELEY:
      So? Sagt man das hier? Wie grässlich!
 VICOMTE DE NANJAC: Ja, die Sprache hier ist wundervoll. Sie sollte weithin
      bekannt sein.
 Sir Robert
      Chiltern tritt auf. Ein Mann von vierzig, sieht jedoch
      etwas jünger aus. Glattrasiert, mit
      wohlgeschnittenen Zügen; dunkles
      Haar und dunkle Augen. Eine markante Persönlichkeit. Nicht volkstümlich - das sind wenige Persönlichkeiten. Aber ungeheuer
      bewundert von den wenigen und hochgeachtet von den vielen. Sein Benehmen
      zeichnet sich durch vollendete Würde aus, mit einem leichten Anflug von Hochmut. Man spürt, dass er sich seines Erfolgs
      im Leben bewusst ist. Ein reizbares Temperament, mit müdem
      Blick. Der hart gemeißelte Mund und das ebenso gebildete Kinn stehen in auffallendem Gegensatz zu dem romantischen Ausdruck in
      den tiefliegenden Augen. Dieser Widerspruch deutet auf eine nahezu vollständige Trennung von Leidenschaft und Intellekt hin,
      als wären Denken und Fühlen durch einen Gewaltakt der Willenskraft
      jedes für sich in seinem Wirkungsbereich isoliert. Reizbarkeit liegt in den Nasenflügeln und den blassen, schlanken und
      spitz zulaufenden Händen. Es wäre nicht zutreffend, ihn malerisch zu
      nennen. Malerisches kann das Unterhaus nicht überleben. Aber Van Dyck hätte
      wohl gern seinen Kopf gemalt.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: Guten Abend, Lady Markby. Ich hoffe, Sie haben
      Sir John mitgebracht?LADY MARKBY:
      Oh! Ich habe eine viel reizendere Person als Sir John mitgebracht. Sir
      Johns Laune ist, seit er sich ernstlich mit Politik beschäftigt, einfach
      unerträglich geworden. Wahrhaftig, nun da das Unterhaus versucht, sich nützlich
      zu machen, richtet es eine Menge Schaden an.
 SIR ROBERT CHILTERN: Das will ich nicht hoffen, Lady Markby. Auf jeden
      Fall tun wir doch unser Bestes, die Zeit der Öffentlichkeit zu
      verschwenden? Aber wer ist diese reizende Person, die Sie
      freundlicherweise zu uns mitgebracht haben?
 LADY MARKBY:
      Ihr Name ist Mrs. Cheveley! Eine von den
      Cheveleys in Dorsetshire, nehme ich an. Aber ich weiß es wirklich nicht.
      Familien sind heutzutage so durcheinandergemengt. Tatsächlich stellt sich
      in der Regel jeder als jemand anders heraus.
 SIR ROBERT
      CHILTERN: Mrs. Cheveley? Der Name kommt mir
      bekannt vor.
 LADY MARKBY: Sie ist eben aus Wien gekommen.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ach ja! Ich glaube, ich weiß, wen Sie meinen.
 LADY MARKBY:
      Oh! Dort geht sie überallhin, und sie weiß so amüsante
      Skandalgeschichten von all ihren Freunden. Ich muss wirklich nächsten
      Winter nach Wien fahren. Ich hoffe, die dortige Botschaft hat einen guten
      Küchenchef.
 SIR ROBERT CHILTERN: Wenn nicht, dann wird man den Botschafter zweifellos
      abrufen. Bitte zeigen Sie mir Mrs. Cheveley. Ich möchte sie gern sehen.
 LADY MARKBY: Erlauben Sie, dass ich Sie bekannt mache. Zu Mrs. Cheveley. Meine Liebe, Sir Robert Chiltern stirbt vor Verlangen, Sie kennen
      zulernen!
 SIR ROBERT CHILTERN verneigt sich: Jeder
      stirbt vor Verlangen, die glänzende Mrs. Cheveley kennen zulernen.
      Unsere Attachés in Wien schreiben uns über nichts anderes.
 MRS. CHEVELEY:
      Vielen Dank, Sir Robert. Eine
      Bekanntschaft, die mit einem Kompliment beginnt, hat alle Aussicht, sich
      zu einer echten Freundschaft zu entwickeln. Sie beginnt auf die rechte
      Art. Und ich habe entdeckt, dass ich Lady Chiltern bereits kenne.
 SIR ROBERT CHILTERN: Was Sie nicht sagen!
 MRS. CHEVELEY:
      Ja. Sie hat mich eben daran erinnert, dass wir zusammen in der Schule
      waren. Ich entsinne mich jetzt. Sie bekam stets den Preis für gutes
      Betragen. Ich weiß genau, dass Lady Chiltern stets den Preis für gutes
      Betragen erhielt.
 SIR ROBERT CHILTERN lächelnd:
      Und welche Preise erhielten Sie, Mrs. Cheveley?
 MRS. CHEVELEY: Meine Preise stellten sich etwas später im Leben ein. Ich
      glaube nicht, dass einer davon für gutes Betragen war. Ich hab's
      vergessen!
 SIR ROBERT CHILTERN: Ganz gewiss waren sie für etwas Reizendes!
 MRS. CHEVELEY: Ich weiß nicht, ob Frauen immer dafür belohnt werden,
      wenn sie reizend sind. Ich glaube, gewöhnlich werden sie dafür bestraft!
      Bestimmt altern heutzutage mehr Frauen durch die Treue ihrer Anbeter als
      durch sonst etwas! Zumindest kann ich mir nur so das schrecklich abgehärmte
      Aussehen der meisten hübschen Frauen in London erklären!
 SIR ROBERT CHILTERN: Nach welch einer schauderhaften Philosophie das
      klingt! Der Versuch, Sie einzustufen, Mrs. Cheveley, wäre eine Unverschämtheit.
      Aber darf ich Sie fragen, ob Sie im Innern eine Optimistin oder eine
      Pessimistin sind? Das scheinen die beiden einzigen beliebten Religionen zu
      sein, die uns heutzutage geblieben sind.
 MRS. CHEVELEY: Oh, ich bin weder das eine noch das andere. Optimismus
      beginnt mit einem breiten Grinsen, und Pessimismus endet mit einer blauen
      Brille. Außerdem sind beide nur Pose.
 SIR ROBERT CHILTERN: Sie ziehen es vor, natürlich zu sein?
 MRS. CHEVELEY:
      Mitunter. Aber diese Pose ist so schwer
      aufrechtzuerhalten.
 SIR ROBERT CHILTERN: Was würden die modernen psychologischen Romanciers,
      von denen wir so viel hören, zu einer solchen Theorie sagen?
 MRS. CHEVELEY:
      Ach! Die Stärke der Frauen rührt aus der Tatsache her, dass die
      Psychologie uns nicht zu deuten vermag. Männer kann man analysieren,
      Frauen ... nur anbeten.
 SIR ROBERT CHILTERN: Sie meinen, die Wissenschaft kann das Problem Frau
      nicht bewältigen?
 MRS. CHEVELEY: Nie kann die Wissenschaft das Irrationale bewältigen.
      Darum hat sie auf dieser Welt auch keine Zukunft.
 SIR ROBERT CHILTERN: Und Frauen verkörpern das Irrationale.
 MRS. CHEVELEY: Ja, gutgekleidete Frauen.
 SIR ROBERT CHILTERN mit einer höflichen
      Verneigung: Ich fürchte, darin könnte ich schwerlich mit Ihnen übereinstimmen.
      Aber setzen wir uns doch. Und jetzt erzählen Sie mir, warum Sie Ihr
      strahlendes Wien verlassen haben und in unser düsteres London gekommen
      sind - oder vielleicht ist die Frage indiskret?
 MRS. CHEVELEY: Fragen sind nie indiskret. Antworten bisweilen.
 SIR ROBERT CHILTERN: Nun, darf ich jedenfalls erfahren, ob es sich um
      Politik oder Vergnügen handelt?
 MRS. CHEVELEY: Die Politik ist mein einziges Vergnügen. Verstehen Sie,
      heutzutage ist es unmodern, zu flirten, ehe man vierzig ist, oder
      romantisch zu sein, ehe man fünfundvierzig ist, deshalb steht uns armen
      Frauen, die wir unter Dreißig sind, oder es zu sein behaupten, nichts
      offen als die Politik oder die Philanthropie. Und die Philanthropie,
      scheint mir, ist einfach die Zukunft solcher Leute geworden, die ihre
      Mitmenschen zu belästigen wünschen. Ich ziehe die Politik vor. Ich halte
      sie für ... kleidsamer.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ein politisches Leben ist eine erhabene Laufbahn.
 MRS. CHEVELEY:
      Mitunter. Und manchmal ist es ein geschicktes
      Spiel, Sir Robert. Und bisweilen eine große Plage.
 SIR ROBERT CHILTERN: Und wofür halten Sie es?
 MRS. CHEVELEY: Für eine Verbindung von allen dreien. Lässt ihren Fächer fallen.
 SIR ROBERT CHILTERN hebt den Fächer
      auf: Gestatten Sie!
 MRS. CHEVELEY: Danke.
 SIR ROBERT CHILTERN: Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie
      veranlasst, so unvermutet London zu beehren. Die Saison ist fast vorbei.
 MRS. CHEVELEY:
      Oh! Aus der Londoner Saison mache ich mir nichts! Sie ist zu ...
      ehelich. Entweder jagen die Leute Ehegatten nach oder verstecken sich vor
      ihnen. Ich wollte Sie kennen lernen. Das ist die reine Wahrheit. Sie
      wissen, wie die Neugier einer Frau beschaffen ist. Fast so groß wie die
      eines Mannes. Ich hatte ungeheures Verlangen danach, Sie kennen zulernen
      und ... Sie zu bitten, dass Sie etwas für mich tun.
 SIR ROBERT CHILTERN: Hoffentlich ist es keine Kleinigkeit, Mrs. Cheveley.
      Ich finde, in Kleinigkeiten lässt sich so schwer etwas tun.
 MRS. CHEVELEY nachdem sie einen
      Augenblick überlegt hat: Nein, ich glaube, dass es mehr als eine
      Kleinigkeit ist.
 SIR ROBERT CHILTERN: Das freut mich sehr. Sagen Sie mir, was es ist.
 MRS. CHEVELEY:
      Später. Steht auf. Und darf ich jetzt durch Ihr schönes Haus spazieren? Sie sollen
      bezaubernde Gemälde haben. Der arme Baron Arnheim - Sie erinnern sich an
      den Baron? - hat mir oft erzählt, dass sie ein paar wundervolle Corots
      besäßen.
 SIR ROBERT CHILTERN mit einem fast
      unmerklichen Erschrecken: Kannten Sie Baron Arnheim gut?
 MRS. CHEVELEY lächelnd: Sehr
      nahe. Und Sie?
 SIR ROBERT CHILTERN: Irgendwann.
 MRS. CHEVELEY: Ein wundervoller Mensch war er, nicht wahr?
 SIR ROBERT CHILTERN nach einer
      Pause: Er war sehr bemerkenswert, in mehrfacher Hinsicht.
 MRS. CHEVELEY: Ich denke oft, wie schade es ist, dass er nicht seine
      Memoiren geschrieben hat. Sie wären ungemein interessant gewesen.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ja: er kannte Menschen und Städte, wie der, alte
      Grieche.
 MRS. CHEVELEY: Ohne den schrecklichen Nachteil, dass zu Hause eine
      Penelope auf ihn wartete.
 MANSON: Lord Goring.
 Lord Goring
      tritt auf. Vierunddreißig, behauptet jedoch stets,
      jünger zu sein. Ein manierliches,
      ausdrucksloses Gesicht. Er ist gescheit,
      möchte aber nicht gern dafür gehalten werden. Als makellosem Dandy wäre
      es ihm verdrießlich, für romantisch zu gelten. Er spielt mit dem Leben und steht mit der Gesellschaft auf ausgemacht gutem
      Fuß. Er liebt es, missverstanden zu werden. Das gibt ihm
      eine überlegene Stellung.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: Guten Abend, mein lieber Arthur! Mrs. Cheveley,
      gestatten Sie, dass ich Ihnen Lord Goring vorstelle, den müßigsten Mann
      von London.MRS. CHEVELEY: Ich bin Lord Goring schon früher begegnet.
 LORD GORING verneigt sich: Ich
      glaubte nicht, dass Sie sich meiner erinnern würden, Mrs. Cheveley.
 MRS. CHEVELEY: Mein Gedächtnis habe ich wunderbar in der Gewalt. Und sind
      Sie immer noch Junggeselle?
 LORD GORING: Ich ... glaube, ja.
 MRS. CHEVELEY: Wie höchst romantisch!
 LORD GORING:
      Oh! Ich bin überhaupt nicht romantisch. Dazu bin ich nicht alt genug.
      Die Romantik überlasse ich solchen, die älter sind als ich.
 SIR ROBERT CHILTERN: Lord Goring ist das Produkt des Boodle-Klubs, Mrs.
      Cheveley.
 MRS. CHEVELEY: Er macht dieser Institution alle Ehre.
 LORD GORING: Darf ich fragen, ob Sie lange in London bleiben?
 MRS. CHEVELEY: Das hängt von verschiedenem ab, teils vom Wetter, teils
      von der Kochkunst und teils von Sir Robert.
 SIR ROBERT CHILTERN: Sie wollen uns doch hoffentlich nicht in einen europäischen
      Krieg stürzen?
 MRS. CHEVELEY: Dafür besteht im Augenblick keine Gefahr!
 Sie nickt
      Lord Goring mit einem vergnügten Blick zu und geht mit
      Sir Robert hinaus. Lord Goring
      schlendert auf Mabel Chiltern zu.
      
       MABEL CHILTERN: Sie sind sehr spät gekommen!LORD GORING: Haben Sie mich vermisst?
 MABEL CHILTERN: Fürchterlich!
 LORD GORING: Dann tut es mir leid, dass ich nicht noch länger
      ferngeblieben bin. Ich habe es gern, vermisst zu werden.
 MABEL CHILTERN: Wie selbstsüchtig von Ihnen!
 LORD GORING: Ich bin sehr selbstsüchtig.
 MABEL CHILTERN: Sie erzählen mir immer von Ihren schlechten
      Eigenschaften, Lord Goring.
 LORD GORING: Ich habe Ihnen bis jetzt erst die Hälfte davon gestanden,
      Miss Mabel!
 MABEL CHILTERN: Sind die andern sehr schlimm?
 LORD GORING: Ganz schrecklich! Wenn ich nachts an sie denke, schlafe ich
      sofort ein.
 MABEL CHILTERN: Also mir gefallen Ihre schlechten Eigenschaften. Ich möchte
      nicht, dass Sie sich auch nur von einer einzigen trennen.
 LORD GORING: Wie liebenswürdig von Ihnen! Aber Sie sind ja immer liebenswürdig.
      Übrigens möchte ich Sie etwas fragen, Miss Mabel. Wer hat Mrs. Cheveley
      hergebracht? Die Frau in Heliotrop, die eben mit Ihrem Bruder den Saal
      verließ?
 MABEL CHILTERN: Oh, ich glaube, Lady Markby hat sie mitgebracht. Warum
      fragen Sie?
 LORD GORING: Ich habe sie jahrelang nicht gesehen, weiter nichts.
 MABEL CHILTERN: Was für ein alberner Grund!
 LORD GORING: Alle Beweggründe sind albern.
 MABEL CHILTERN: Was ist sie für eine Frau?
 LORD GORING:
      Oh! Am Tag ein Genie und nachts eine Schönheit!
 MABEL CHILTERN: Sie missfällt mir bereits.
 LORD GORING: Das beweist Ihren bewundernswert guten Geschmack.
 VICOMTE DE NANJAC tritt zu
      ihnen: Ah, die englische junge Dame ist der Drache des guten
      Geschmacks, nicht wahr? Ja, der Drache des guten Geschmacks.
 LORD GORING: Jedenfalls reden uns das die Zeitungen ständig vor.
 VICOMTE DE NANJAC: Ich lese all Ihre englischen Zeitungen. Ich finde sie
      so amüsant.
 LORD GORING: Dann, mein lieber Nanjac, müssen Sie wahrhaftig zwischen den
      Zeilen lesen.
 VICOMTE DE NANJAC: Das würde ich gern, aber mein Lehrer ist dagegen. Zu
      Mabel Chiltern. Darf ich das Vergnügen haben, Sie ins Musikzimmer zu
      geleiten, Mademoiselle?
 MABEL CHILTERN mit sehr
      enttäuschtem Gesicht: Mit Freuden, Vicomte, mit großer Freude! Zu
      Lord Goring. Kommen Sie auch ins Musikzimmer?
 LORD GORING: Nicht, solange da noch Musik gemacht wird, Miss Mabel.
 MABEL CHILTERN streng: Es ist
      deutsche Musik. Sie würden sie nicht verstehen. Geht mit dem Vicomte de Nanjac
      hinaus. Lord Caversham tritt zu
      seinem Sohn.
 LORD CAVERSHAM: Na, mein Herr Sohn? Was machst du hier? Verplemperst
      wie gewöhnlich dein Leben! Du solltest im Bett liegen, mein Herr Sohn. Du
      bleibst zu lange auf! Hörte, dass du neulich bei Lady Rufford bis morgens
      um vier getanzt hast!
 LORD GORING: Bloß bis dreiviertel vier, Vater.
 LORD CAVERSHAM: Kann nicht dahinterkommen, wie du die englische
      Gesellschaft erträgst. Sie ist auf den Hund gekommen, ein Haufen Niemande,
      die über nichts reden.
 LORD GORING: Ich liebe es, über nichts zu reden, Vater. Das ist das
      einzige, wovon ich etwas verstehe.
 LORD CAVERSHAM: Mir scheint, du lebst einzig und allein für dein Vergnügen.
 LORD GORING: Wofür sollte man denn sonst leben, Vater?
 LORD CAVERSHAM: Du bist herzlos, einfach herzlos.
 LORD GORING: Ich hoffe, nicht, Vater. Guten Abend, Lady Basildon!
 LADY BASILDON wölbt zwei hübsche
      Augenbrauen: Sie hier? Ich hatte keine Ahnung, dass Sie jemals
      politische Gesellschaften besuchen.
 LORD GORING: Ich liebe politische Gesellschaften. Das ist der einzige Ort,
      der uns geblieben ist, wo die Leute nicht über Politik reden.
 LADY BASILDON: Ich rede gern über Politik. Ich rede den ganzen Tag darüber.
      Aber ich kann es nicht ausstehen, darüber reden zu hören. Ich weiß
      nicht, wie die Unglücklichen im Parlament diese langen Debatten ertragen.
 LORD GORING: Indem sie nicht zuhören.
 LADY BASILDON: Wirklich?
 LORD GORING so ernst, wie es ihm möglich
      ist: Natürlich. Verstehen Sie, es ist sehr gefährlich, zuzuhören. Hört
      man zu, kann man überzeugt werden, und wer sich durch ein Argument überzeugen
      lässt, ist ein von Grund auf unvernünftiger Mensch.
 LADY BASILDON:
      Ach! Das erklärt so vieles an den Männern, was ich nie verstanden
      habe, und so vieles an den Frauen, was ihre Ehemänner niemals an ihnen
      schätzen.
 MRS. MARCHMONT mit einem Seufzer: Unsere
      Ehemänner schätzen nie etwas an uns. Um das zu haben, müssen wir zu
      anderen gehen!
 LADY BASILDON nachdrücklich: Ja,
      immer zu anderen, nicht wahr?
 LORD GORING lächelnd: Und das
      sind die Ansichten der beiden Damen, die dafür bekannt sind, die
      vortrefflichsten Ehegatten in London zu besitzen.
 MRS. MARCHMONT: Das ist es ja gerade, was wir nicht ertragen können. Mein
      Reginald ist einfach zum Verzweifeln untadelig. Deswegen ist er bisweilen
      unerträglich! Die Bekanntschaft mit ihm bietet einem nicht den
      allergeringsten Anreiz.
 LORD GORING: Wie schrecklich! Das sollte wahrhaftig in größerem Umfang
      bekannt werden.
 LADY BASILDON: Basildon ist genauso arg, er ist so häuslich, als wäre er
      Junggeselle.
 MRS. MARCHMONT drückt Lady Basildon
      die Hand: Meine arme Olivia! Wir haben vollkommene Ehemänner
      geheiratet, und dafür sind wir tüchtig bestraft.
 LORD GORING: Ich hätte gemeint, die Ehemänner sind es, die gestraft
      sind.
 MRS. MARCHMONT reckt sich empor: O
      Himmel, nein! Die sind denkbar glücklich! Und was ihr Vertrauen zu uns
      betrifft, es ist tragisch, wie sehr sie uns vertrauen.
 LADY BASILDON: Ausgemacht tragisch!
 LORD GORING: Oder komisch, Lady Basildon?
 LADY BASILDON: Ganz gewiss nicht komisch, Lord Goring. Wie unfreundlich
      von Ihnen, dergleichen anzudeuten!
 MRS. MARCHMONT: Ich fürchte, Lord Goring befindet sich wie gewöhnlich im
      Lager des Feindes. Ich sah ihn mit Mrs. Cheveley sprechen, als ich
      hereinkam.
 LORD GORING: Hübsche Frau, diese Mrs. Cheveley!
 LADY BASILDON steif: Bitte rühmen
      Sie nicht andere Frauen in unserer Gegenwart. Sie könnten abwarten, bis
      wir es tun!
 LORD GORING: Ich habe gewartet.
 MRS. MARCHMONT: Nun, wir werden sie nicht rühmen. Sie soll Montagabend in
      die Oper gegangen sein und hinterher beim Essen zu Tommy Rufford gesagt
      haben, soweit sie erkennen könne, bestehe die Londoner Gesellschaft
      durchweg aus altmodischen Schlampen und Modefexen.
 LORD GORING: Womit sie auch völlig recht hat. Alle Männer sind
      altmodische Schlampen und alle Frauen Modefexe, nicht wahr?
 MRS. MARCHMONT nach einer Pause: Oh!
      Glauben Sie wirklich, dass Mrs. Cheveley es so gemeint hat?
 LORD GORING: Natürlich. Und obendrein ist das eine sehr gescheite
      Bemerkung von Mrs. Cheveley.
 Mabel
      Chiltern tritt ein. Sie gesellt sich zu der Gruppe.
      
       MABEL CHILTERN: Warum reden Sie über Mrs. Cheveley? Alle reden über
      Mrs. Cheveley! Lord Goring sagt - was sagten Sie von Mrs. Cheveley, Lord
      Goring? Oh! Ich erinnere mich: sie sei bei Tag ein Genie und nachts eine
      Schönheit.LADY BASILDON: Welch abscheuliche Kombination! So durchaus unnatürlich!
 MRS. MARCHMONT so träumerisch, wie
      es ihr möglich ist: Ich liebe es, Genies anzuschauen und schönen
      Leuten zuzuhören.
 LORD GORING: Wie morbid von Ihnen, Mrs. Marchmont!
 MRS. MARCHMONT erstrahlt zu einem
      Ausdruck echter Freude: Es freut mich so, das von Ihnen zu hören.
      Marchmont und ich sind seit sieben Jahren verheiratet, und nicht ein
      einziges Mal hat er mir gesagt, ich sei morbid. Männer sind so peinlich
      unaufmerksam.
 LADY BASILDON zu ihr gewandt:
      Liebe Margaret, ich habe stets behauptet, Sie seien die morbideste Person
      von London.
 MRS. MARCHMONT:
      Ach! Aber Sie sind ja stets eine gleichgestimmte Seele, Olivia!
 MABEL CHILTERN: Ist es morbid, Verlangen nach Essen zu haben? Ich habe großes
      Verlangen zu essen. Lord Goring, wollen Sie mir dazu verhelfen?
 LORD GORING: Mit Vergnügen, Miss Mabel. Entfernt
      sich mit ihr.
 MABEL CHILTERN: Wie abscheulich Sie gewesen sind! Den ganzen Abend
      haben Sie nicht mit mir gesprochen!
 LORD GORING: Wie konnte ich? Sie sind ja mit diesem Diplomatenknaben
      weggegangen.
 MABEL CHILTERN: Sie hätten uns folgen können. Das wäre nicht mehr als höflich
      gewesen. Ich glaube nicht, dass Sie mir heute Abend überhaupt gefallen!
 LORD GORING: Sie gefallen mir ungeheuer.
 MABEL CHILTERN: Nun, dann wünschte ich, Sie zeigten es etwas deutlicher!
 Sie gehen
      die Treppe hinab.
      
       MRS. MARCHMONT: Olivia, ich habe ein merkwürdiges Gefühl völliger
      Schwäche. Ich glaube, etwas zu essen würde mir sehr zusagen. Ich weiß,
      etwas zu essen würde mir zusagen.LADY BASILDON: Ich sterbe einfach vor Verlangen nach Essen, Margaret!
 MRS. MARCHMONT: Männer sind so schrecklich selbstsüchtig, nie denken sie
      an dergleichen.
 LADY BASILDON: Männer sind im höchsten Grade materiell, im höchsten
      Grade materiell!
 Der Vicomte
      de Nanjac tritt mit einigen anderen Gästen aus
      dem Musikzimmer. Nachdem er alle
      Anwesenden sorgfältig gemustert hat, nähert er sich Lady Basildon.
      
       VICOMTE DE NANJAC: Darf ich die Ehre haben, Sie zum Essen
      hinunterzuführen, Comtesse?LADY BASILDON kühl: Vielen
      Dank, Vicomte, ich speise niemals zur Nacht. Der
      Vicomte will sich zurückziehen. Lady Basildon bemerkt es, erhebt sich
      sofort und nimmt seinen Arm. Aber ich werde Sie mit Vergnügen hinunterbegleiten.
 VICOMTE DE NANJAC: Ich liebe es so sehr, zu speisen! Ich bin in all meinen
      Neigungen sehr englisch.
 LADY BASILDON: Sie sehen ganz und gar englisch aus, Vicomte, ganz und gar
      englisch.
 Sie gehen
      hinaus. Mr. Montford, ein vollendet geschniegelter
      und gebügelter junger Dandy, tritt
      zu Mrs. Marchmont.
      
       MR. MONTFORD: Möchten Sie nicht was essen, Mrs. Marchmont?MRS. MARCHMONT matt: Vielen
      Dank, Mr. Montford, ich rühre zur Nacht keinen Bissen an. Steht hastig auf und nimmt seinen
      Arm. Aber ich werde neben Ihnen sitzen und Ihnen zuschauen.
 MR. MONTFORD: Ich glaube nicht, dass ich mir beim Essen gern zusehen
      lasse!
 MRS. MARCHMONT: Dann werde ich jemand anders zuschauen.
 MR. MONTFORD: Ich glaube, das würde mir eben sowenig gefallen.
 MRS. MARCHMONT streng: Bitte,
      Mr. Montford, lassen Sie diese peinlichen Eifersuchtsszenen in der Öffentlichkeit!
 Sie gehen
      mit den anderen Gästen die Treppe hinab und kommen
      an Sir Robert Chiltern und Mrs.
      Cheveley vorbei, die jetzt
      eintreten.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: Und gedenken Sie eins von unsern Landhäusern
      zu besuchen, ehe Sie England verlassen, Mrs. Cheveley?MRS. CHEVELEY:
      O nein! Ich kann eure englischen Hausgesellschaften nicht ausstehen. In
      England versuchen die Leute wahrhaftig, beim Frühstück zu glänzen. Das
      ist so schrecklich an ihnen! Nur fade Leute glänzen beim Frühstück. Und
      außerdem pflegt das Familienskelett die Hausgebete zu lesen. Mein
      Aufenthalt in England hängt tatsächlich von Ihnen ab, Sir Robert. Setzt
      sich aufs Sofa.
 SIR ROBERT CHILTERN nimmt in
      einem Sessel neben ihr Platz: Im Ernst?
 MRS. CHEVELEY: Ganz im Ernst. Ich möchte mit Ihnen über ein bedeutendes
      politisches und finanzielles Projekt sprechen, kurz und gut, über diese
      argentinische Kanalgesellschaft.
 SIR ROBERT CHILTERN: Welch langweiliges sachliches Gesprächsthema für
      Sie, Mrs. Cheveley!
 MRS. CHEVELEY: Oh, ich liebe langweilige sachliche Themen. Was ich nicht
      liebe, sind langweilige sachliche Leute. Das ist ein großer Unterschied.
      Außerdem weiß ich, dass Sie an internationalen Kanalprojekten
      interessiert sind. Sie waren doch Lord Radleys Sekretär, als die
      Regierung die Suezkanal-Aktien kaufte?
 SIR ROBERT CHILTERN: Ja. Aber der Suezkanal war ein sehr bedeutendes und
      großartiges Unternehmen. Er verschaffte uns den geraden Weg nach Indien.
      Er hatte Wert für das Britische Reich. Es war unerlässlich für uns, die
      Kontrolle zu erhalten. Dieses argentinische Projekt ist ein ganz gewöhnlicher
      Börsenschwindel.
 MRS. CHEVELEY: Eine Spekulation, Sir Robert! Eine glänzende, kühne
      Spekulation.
 SIR ROBERT CHILTERN: Glauben Sie mir, Mrs. Cheveley, es ist ein Schwindel.
      Lassen Sie uns die Dinge beim Namen nennen. Es vereinfacht die Sache. Wir
      im Außenministerium haben vollständige Informationen darüber. Tatsächlich
      habe ich eine Sonderkommission hingeschickt, unter der Hand Erkundigungen
      einzuziehen, und ihre Berichte lauten, dass die Arbeiten kaum begonnen
      haben, und was das bereits gezeichnete Geld betrifft, so scheint keiner zu
      wissen, was damit geworden ist. Die ganze Sache ist ein zweites Panama,
      und nicht mit einem Viertel der Aussicht auf Erfolg, die jene unselige Affäre
      jemals hatte. Hoffentlich haben Sie da nichts investiert. Ich bin gewiss,
      Sie sind viel zu gescheit, um das getan zu haben.
 MRS. CHEVELEY: Ich habe sehr erhebliche Summen investiert.
 SIR ROBERT CHILTERN: Wer könnte Ihnen etwas so Törichtes geraten haben?
 MRS. CHEVELEY: Ihr alter Freund - und der meine.
 SIR ROBERT
      CHILTERN: Wer?
 MRS. CHEVELEY: Baron Arnheim.
 SIR ROBERT CHILTERN runzelt die Stirn: Ach ja!
      Ich erinnere mich, dass ich zur Zeit seines Ablebens hörte, er sei in die
      Sache verwickelt gewesen.
 MRS. CHEVELEY: Es war sein letztes Abenteuer. Sein vorletztes, um ihm
      Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
 SIR ROBERT CHILTERN steht auf: Aber
      Sie haben noch nicht meine Corots gesehen. Sie hängen im Musikzimmer.
      Corots passen zu Musik, nicht wahr? Darf ich sie Ihnen zeigen?
 MRS. CHEVELEY schüttelt den Kopf: Ich
      bin heute Abend nicht in der Stimmung für silbernes Zwielicht und
      rosenfarbenes Morgendämmern. Ich möchte über Geschäfte reden. Winkt ihm mit ihrem
      Fächer, sich wieder neben sie
      zu setzen.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich fürchte, ich kann Ihnen keinen Rat geben,
      Mrs. Cheveley, außer, dass Sie sich für etwas weniger Gefährliches
      interessieren. Der Erfolg des Kanals hängt natürlich von der Haltung
      Englands ab, und ich werde morgen Abend dem Parlament den Bericht der
      Kommissionsmitglieder vorlegen.
 MRS. CHEVELEY: Das dürfen Sie nicht. In Ihrem eigenen Interesse, Sir
      Robert, gar nicht zu reden von meinem, dürfen Sie das nicht tun.
 SIR ROBERT CHILTERN blickt sie
      erstaunt an: In meinem eigenen Interesse? Meine liebe Mrs. Cheveley,
      was soll das heißen? Setzt sich
      neben sie.
 MRS. CHEVELEY: Sir Robert, ich will ganz offen mit Ihnen reden. Ich möchte,
      dass Sie den Bericht, den Sie dem Parlament vorzulegen gedenken, zurückziehen,
      mit der Begründung, Sie hätten Anlass zu glauben, die
      Kommissionsmitglieder seien voreingenommen oder falsch informiert worden,
      oder sonst dergleichen. Überdies möchte ich, dass Sie ein paar Worte
      etwa in dem Sinne sagen, die Regierung werde die Frage noch einmal erwägen
      und Sie hätten Ursache zu der Überzeugung, der Kanal werde, wenn er
      fertiggestellt sei, von großem internationalem Wert sein. Sie wissen ja,
      was Minister in solchen Fällen zu sagen pflegen. Ein paar der üblichen
      Plattitüden werden ausreichen. Im heutigen Leben ist nichts so
      wirkungsvoll wie eine bewährte Plattitüde. Sie verbindet alle Welt.
      Werden Sie das für mich tun?
 SIR ROBERT CHILTERN: Mrs. Cheveley, es kann nicht Ihr Ernst sein, ein
      solches Ansinnen an mich zu stellen!
 MRS. CHEVELEY: Es ist mein völliger Ernst.
 SIR ROBERT CHILTERN abweisend: Gestatten
      Sie mir bitte, das zu bezweifeln.
 MRS. CHEVELEY sehr überlegt und
      nachdrücklich: Ah! Aber es ist mein Ernst. Und wenn Sie tun, worum
      ich Sie bitte ... werde ich Sie recht anständig bezahlen!
 SIR ROBERT CHILTERN: Mich bezahlen!
 MRS. CHEVELEY:
      Ja.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich fürchte, ich
      verstehe nicht ganz, was Sie meinen.
 MRS. CHEVFLEY lehnt sich auf dem
      Sofa zurück und sieht ihn an: Wie überaus enttäuschend! Und da bin
      ich den ganzen Weg von Wien hergekommen, nur damit Sie mich völlig
      verstehen.
 SIR ROBERT CHILTERN: Leider ist es mir nicht möglich.
 MRS. CHEVELEY auf ihre
      nonchalanteste Art: Mein lieber Sir Robert, Sie sind ein Mann von Welt
      und haben vermutlich Ihren Preis. Den hat heutzutage jeder. Der Nachteil
      ist, dass die meisten Leute so schrecklich teuer sind. Dass ich es bin,
      weiß ich. Ich hoffe, Sie werden in Ihren Forderungen maßvoller sein.
 SIR ROBERT CHILTERN steht entrüstet
      auf: Wenn Sie mir gestatten, werde ich Ihren Wagen kommen lassen. Sie
      haben zu lange im Ausland gelebt, Mrs. Cheveley, und sind anscheinend außerstande,
      sich zu vergegenwärtigen, dass Sie mit einem englischen Gentleman
      sprechen.
 MRS. CHEVELEY hält ihn zurück,
      indem sie seinen Arm mit dem Fächer berührt und ihn dort ruhen lässt, während
      sie spricht: Ich bin mir bewusst, dass ich mit einem Mann spreche, der
      den Grundstock zu seinem Vermögen legte, indem er einem Börsenspekulanten
      ein Kabinettsgeheimnis verkaufte.
 SIR ROBERT CHILTERN beißt sich auf
      die Lippe: Was wollen Sie damit sagen?
 MRS. CHEVELEY steht auf und sieht
      ihm ins Gesicht: Ich will damit sagen, dass ich den wahren Ursprung
      Ihres Reichtums und Ihrer Karriere kenne und ich obendrein Ihren Brief
      besitze.
 SIR ROBERT CHILTERN: Welchen Brief?
 MRS. CHEVELEY verächtlich: Den
      Brief, den Sie Baron Arnheim schrieben, als Sie Lord Radleys Sekretär
      waren, und in dem Sie ihm rieten, Suezkanal-Aktien zu kaufen - einen
      Brief, der drei Tage vor dem Datum geschrieben wurde, da die Regierung
      ihren Ankauf veröffentlichte.
 SIR ROBERT CHILTERN heiser: Das
      ist nicht wahr.
 MRS. CHEVELEY: Sie glaubten, der Brief sei vernichtet worden. Wie töricht
      von Ihnen! Er befindet sich in meinem Besitz.
 SIR ROBERT CHILTERN: Die Sache, auf die Sie anspielen, war nicht mehr als
      eine Spekulation. Das Unterhaus hatte den Antrag noch nicht angenommen; er
      hätte abgewiesen werden können.
 MRS. CHEVELEY: Es war ein Schwindel, Sir Robert. Lassen Sie uns die Dinge
      beim Namen nennen. Es vereinfacht die Sache. Und nun werde ich Ihnen
      diesen Brief verkaufen, und als Preis dafür fordere ich Ihre öffentliche
      Unterstützung des argentinischen Projekts. Sie haben Ihr Vermögen mit
      dem einen Kanal gemacht. Sie müssen mir und meinen Freunden helfen, unser
      Vermögen mit einem anderen zu machen!
 SIR ROBERT CHILTERN: Was Sie mir vorschlagen, ist infam - infam!
 MRS. CHEVELEY:
      O nein! Es ist das Lebensspiel, Sir Robert, das wir alle, früher oder später,
      spielen müssen!
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich kann nicht tun, was Sie von mir verlangen.
 MRS. CHEVELEY: Sie meinen, Sie können nichts anderes tun. Sie wissen,
      dass Sie am Rande eines Abgrunds stehen. Und nicht Sie haben die
      Forderungen zu stellen. Sie haben sie zu akzeptieren. Angenommen, Sie
      weigern sich ...
 SIR ROBERT CHILTERN: Was dann?
 MRS. CHEVELEY: Mein lieber Sir Robert, was dann? Dann sind Sie ruiniert,
      das ist alles! Denken Sie daran, wohin euer Puritanismus in England euch
      gebracht hat. Früher maßte sich niemand an, ein wenig besser zu sein als
      seine Nachbarn. Ein wenig besser zu sein als der Nachbar wurde sogar für
      überaus vulgär und spießbürgerlich gehalten. Heutzutage, bei der
      Moralsucht, die bei uns Mode ist, muss jeder als ein Musterbild der
      Reinheit, Unbestechlichkeit und aller anderen sieben Todtugenden dastehen
      - und was ist das Resultat? Ihr stürzt alle wie Kegel - einer nach dem
      andern. Kein Jahr vergeht in England, ohne dass jemand in der Versenkung
      verschwindet. Ärgerliches Aufsehen pflegte einen Mann reizvoll oder
      zumindest interessant zu machen - jetzt vernichtet es ihn. Und das
      Aufsehen, das Sie erregen werden, ist sehr übel. Sie könnten es nicht überleben.
      Wenn bekannt würde, dass Sie als junger Mann, Sekretär eines berühmten
      und bedeutenden Ministers, ein Kabinettsgeheimnis für eine große Summe
      verkauften und damit Ihren Reichtum und Ihre Karriere begründeten, würde
      man Sie aus dem öffentlichen Leben jagen, würden Sie ein für allemal
      verschwinden. Und warum, Sir Robert, sollten Sie am Ende lieber Ihre ganze
      Zukunft opfern als mit Ihrem Feind diplomatisch unterhandeln? Im
      Augenblick bin ich Ihr Feind. Das gebe ich zu! Und ich bin viel stärker
      als Sie. Die großen Bataillone stehen auf meiner Seite. Sie haben eine
      blendende Stellung, aber gerade Ihre blendende Stellung macht Sie so
      verwundbar. Sie können sie nicht verteidigen! Und ich bin im Angriff. Natürlich
      habe ich Ihnen nicht Moral gepredigt. Sie müssen ehrlich zugeben, dass
      ich Ihnen das erspart habe. Vorjahren haben Sie geschickt etwas
      Gewissenloses getan; es entpuppte sich als ein großer Erfolg. Dem
      verdanken Sie Ihr Vermögen und Ihre Stellung. Und jetzt müssen Sie dafür
      bezahlen. Früher oder später müssen wir alle für unsere Taten
      bezahlen. Sie haben jetzt zu bezahlen. Ehe ich Sie heute Abend verlasse, müssen
      Sie mir versprechen, dass Sie Ihren Bericht unter den Tisch fallen lassen
      und im Parlament zugunsten dieses Projekts sprechen.
 SIR ROBERT CHILTERN: Was Sie verlangen, ist unmöglich.
 MRS. CHEVELEY: Sie müssen es möglich machen. Sie werden es möglich
      machen. Sir Robert, Sie wissen, wie die englischen Zeitungen sind. Nehmen
      Sie einmal an, ich fahre, wenn ich dieses Haus verlasse, zu einer
      Zeitungsredaktion und gebe den Leuten diese Skandalgeschichte und die
      Beweise dafür! Denken Sie an deren ekelhafte Freude, an den Genuss, mit
      dem man Sie nieder zerren, an den Schmutz und Kot, in den man Sie stürzen
      würde. Denken Sie an den Heuchler mit seinem schmierigen Lächeln, wie er
      seinen Leitartikel verfasst und an der Schändlichkeit der öffentlichen
      Bekanntgabe arbeitet.
 SIR ROBERT CHILTERN: Hören Sie auf! Sie wünschen, dass ich den Bericht
      zurückziehe und eine kurze Rede halte, in der ich erkläre, meiner
      Ansicht nach habe das Projekt Aussichten?
 MRS. CHEVELEY setzt sich auf das
      Sofa: Das sind meine Forderungen.
 SIR ROBERT CHILTERN leise: Ich
      gebe Ihnen jede Summe, die Sie verlangen.
 MRS. CHEVIELEY: Nicht einmal Sie, Sir Robert, sind reich genug, Ihre
      Vergangenheit zurückzukaufen. Das ist keiner.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich werde nicht tun, was Sie von mir fordern. Ich
      werde es nicht tun.
 MRS. CHEVELEY: Sie müssen es. Wenn nicht ... Steht vom Sofa auf.
 SIR ROBERT CHILTERN verstört und
      entnervt: Warten Sie einen Augenblick! Was schlugen Sie vor? Sie
      sagten, Sie würden mir meinen Brief zurückgeben, war es nicht so?
 MRS. CHEVELEY:
      Ja. Das ist abgemacht. Ich werde morgen nacht um halb zwölf auf der
      Damengalerie sein. Wenn Sie bis dahin - und es wird Ihnen an Gelegenheiten
      nicht fehlen - dem Parlament eine Erklärung abgegeben haben, die meinen
      Forderungen entspricht, erhalten Sie von mir Ihren Brief mit dem
      verbindlichsten Dank zurück und dem besten oder jedenfalls passendsten
      Kompliment, das mir in den Sinn kommt. Ich habe die Absicht, durchaus
      ehrlich mit Ihnen zu spielen. Man sollte immer ehrlich spielen - wenn man
      die Trümpfe in der Hand hat. Das hat mich der Baron gelehrt..., unter
      anderem.
 SIR ROBERT CHILTERN: Sie müssen mir Zeit lassen, über Ihren Vorschlag
      nachzudenken.
 MRS. CHEVELEY: Nein, Sie müssen sich jetzt entscheiden!
 SIR ROBERT CHILTERN: Geben Sie mir eine Woche - drei Tage!
 MRS. CHEVELEY: Unmöglich! Ich muss heute nacht nach Wien telegraphieren.
 SIR ROBERT CHILTERN: Mein Gott! Was hat Sie in mein Leben gebracht?
 MRS. CHEVELEY: Umstände. Geht zur
      Tür.
 SIR ROBERT CHILTERN: Gehen Sie nicht. Ich bin einverstanden. Der
      Bericht wird zurückgezogen. Ich werde mich auf eine Frage vorbereiten,
      die man mir deswegen stellen wird.
 MRS. CHEVELEY: Vielen Dank. Ich wusste, dass wir zu einem
      freundschaftlichen Einverständnis kommen würden. Ich erfasste Ihr Wesen
      im ersten Augenblick. Ich analysierte Sie, obwohl Sie mir keine Verehrung
      entgegenbrachten. Und jetzt können Sie mir meinen Wagen holen, Sir
      Robert. Wie ich sehe, kommen die Leute vom Essen herauf Engländer werden
      nach Tisch immer romantisch, und das langweilt mich entsetzlich.
 Sir Robert
      Chiltern ab. Gäste treten ein, auch Lady Chiltern,
      Lady Markby, Lord Caversham, Lady
      Basildon, Mrs. Marchmont, Vicomte
      de Nanjac, Mr. Montford.
      
       LADY MARKBY: Nun, meine liebe Mrs. Cheveley, ich hoffe, Sie haben
      sich gut amüsiert. Sir Robert ist sehr unterhaltsam, nicht wahr?MRS. CHEVELEY: Überaus unterhaltsam! Mein Gespräch mit ihm hat mich
      ungemein amüsiert.
 LADY MARKBY: Er hat eine hochinteressante und glänzende Karriere gemacht.
      Und er hat eine geradezu bewundernswerte Frau geheiratet. Lady Chiltern
      ist, es freut mich, das zu sagen, eine Frau von sehr hohen Grundsätzen.
      Ich selbst bin jetzt schon ein wenig zu alt für die Mühe, ein gutes
      Beispiel zu geben, aber die Leute, die es tun, haben stets meine
      Bewunderung. Und Lady Chiltern übt einen sehr vereitelnden Einfluss auf
      das Leben aus, wenn auch ihre Tischgesellschaften mitunter recht
      langweilig sind. Aber man kann ja nicht alles haben, nicht wahr? Und jetzt
      muss ich gehen, meine Liebe. Soll ich Sie morgen abholen?
 MRS. CHEVELEY: Vielen Dank.
 LADY MARKBY: Wir könnten um fünf durch den Hyde Park fahren. Alles im
      Park sieht jetzt so frisch aus!
 MRS. CHEVELEY: Mit Ausnahme der Leute!
 LADY MARKBY: Vielleicht sind die Leute ein wenig erschöpft. Ich habe oft
      bemerkt, dass die Saison, je weiter sie fortschreitet, das Gehirn
      erweicht. Wie dem auch sei, alles andere finde ich immer noch besser als
      hochgeistige Beklemmung. Sie ist so höchst unkleidsam. Die jungen Mädchen
      bekommen davon ungewöhnlich lange Nasen. Und nichts ist so schwer zu
      verheiraten wie eine lange Nase; die Männer mögen sie nicht. Gute Nacht,
      meine Liebe. Zu Lady Chiltern. Gute
      Nacht, Gertrude. Geht an Lord
      Cavershams Arm hinaus.
 MRS. CHEVELEY: Wie bezaubernd Ihr Haus ist, Lady Chiltern! Ich habe
      einen entzückenden Abend verbracht. Es war so interessant, Ihren Gatten
      kennen zulernen.
 LADY CHILTERN: Warum wünschten Sie mit meinem Gatten zusammenzutreffen,
      Mrs. Cheveley?
 MRS. CHEVELEY: Oh, das will ich Ihnen sagen. Ich wollte ihn für dieses
      argentinische Kanalprojekt interessieren, von dem Sie gewiss gehört
      haben. Und ich fand ihn überaus zugänglich der Vernunft zugänglich,
      meine ich. Das ist selten bei einem Mann. Ich habe ihn in zehn Minuten
      bekehrt. Er wird morgen Abend im Parlament eine Rede zugunsten der Idee
      halten. Wir müssen auf die Damengalerie gehen und ihn hören! Es wird ein
      bedeutendes Ereignis!
 LADY CHILTERN: Da muss ein Irrtum vorliegen. Dieses Projekt könnte nie
      von meinem Mann unterstützt werden.
 MRS. CHEVELEY: Oh, ich versichere Ihnen, alles ist abgemacht. Ich bedaure
      jetzt nicht meine langweilige Reise von Wien. Sie war ein großer Erfolg.
      Aber für die nächsten vierundzwanzig Stunden ist die Sache natürlich
      ein tiefes Geheimnis.
 LADY CHILTERN sanft: Ein
      Geheimnis? Zwischen wem?
 MRS. CHEVELEY mit einem Aufblitzen
      von Belustigung in den Augen: Zwischen ihrem Gatten und mir.
 SIR ROBERT CHILTERN tritt ein: Ihr
      Wagen ist da, Mrs. Cheveley!
 MRS. CHEVELEY:
      Danke! Guten Abend, Lady Chiltern! Guten Abend, Lord Goring! Ich wohne im
      Claridge. Meinen Sie nicht, dass Sie gelegentlich Ihre Karte abgeben könnten?
 LORD GORING: Wenn Sie es wünschen, Mrs. Cheveley!
 MRS. CHEVELEY: Oh, machen Sie's nicht so feierlich, sonst werde ich genötigt
      sein, bei Ihnen eine Karte abzugeben. Das würde in England vermutlich
      kaum für en règle gehalten werden. Im Ausland sind wir zivilisierter.
      Wollen sie mich bitte hinuntergeleiten, Sir Robert? Jetzt, da wir im
      Innern beide dieselben Interessen haben, werden wir hoffentlich gute
      Freunde werden!
 Segelt an
      Sir Robert Chilterns Arm hinaus. Lady Chiltern geht zum
      Treppenabsatz und blickt den Hinuntersteigenden nach. Ihr Ausdruck
      ist besorgt. Nach einer kleinen Weile gesellen sich einige Gäste
      zu ihr, und sie geht mit ihnen in ein anderes Empfangszimmer.
      
       MABEL CHILTERN: Was für eine grässliche Frau!LORD GORING: Sie sollten zu Bett gehen, Miss Mabel.
 MABEL CHILTERN:
      Lord Goring!
 LORD GORING: Mein Vater hat mir vor
      einer Stunde gesagt, ich solle zu Bett gehen. Ich sehe nicht ein, warum
      ich Ihnen nicht denselben Rat geben sollte. Einen guten Rat gebe ich immer
      weiter. Es ist das einzige, was man damit machen kann. Für einen selbst
      hat er nie irgendwelchen Nutzen.
 MABEL CHILTERN: Lord Goring, Sie weisen mich ständig aus dem Zimmer. Ich
      finde das äußerst kühn. Vor allem, weil ich die nächsten Stunden noch
      nicht zu Bett gehen werde. Geht zu
      dem Sofa hinüber. Sie können
      herkommen und sich setzen, wenn Sie wollen, und über alles in der Welt
      reden, ausgenommen die Royal Academy, Mrs. Cheveley oder Romane in
      schottischem Dialekt: Das sind keine erhebenden Themen. Erblickt
      etwas, das von einem Kissen halb
      verborgen auf dem Sofa liegt. Was ist das? jemand hat eine
      Diamantspange verloren! Sehr schön, nicht wahr? Zeigt
      sie ihm. Ich wünschte, es wäre meine, aber Gertrude will mich nichts
      anderes tragen lassen als Perlen, und ich habe Perlen ausgesprochen satt.
      Man sieht damit so schlicht, so tugendhaft und so vernünftig aus. Ich möchte
      wissen, wem die Spange gehört.
 LORD GORING: Ich möchte wissen, wer sie verloren hat.
 MABEL CHILTERN: Eine schöne Spange.
 LORD GORING: Ein hübsches Armband.
 MABEL CHILTERN: Es ist kein Armband. Es ist eine Spange.
 LORD GORING: Man kann sie als Armband tragen. Nimmt sie ihr ab, zieht eine
      grüne Brieftasche, schiebt das Schmuckstück sorgfältig hinein und
      verstaut das Ganze völlig gelassen in seiner Brusttasche.
 MABEL CHILTERN: Was tun Sie?
 LORD GORING: Miss Mabel, ich möchte eine etwas sonderbare Bitte an Sie
      richten.
 MABEL CHILTERN eifrig: Oh, bitte
      tun Sie es! Ich habe den ganzen Abend darauf gewartet.
 LORD GORING ist etwas verblüfft,
      fasst sich aber: Erwähnen Sie zu keinem, dass ich diese Spange in
      Verwahrung genommen habe. Sollte jemand schreiben und Anspruch darauf
      erheben, dann lassen Sie es mich sofort wissen.
 MABEL CHILTERN: Das ist freilich eine sonderbare Bitte.
 LORD GORING: Sie müssen verstehen, ich habe diese Spange vor Jahren
      jemandem geschenkt.
 MABEL CHILTERN: Wirklich?
 LORD GORING: Ja.
 Lady
      Chiltern tritt allein ein. Die anderen Gäste sind gegangen.
      
       MABEL CHILTERN: Dann werde ich Ihnen allerdings gute Nacht sagen.
      Gute Nacht, Gertrude! Geht ab.LADY CHILTERN: Gute Nacht, Liebes! Zu
      Lord Goring. Sie haben gesehen, wen Lady Markby heute Abend
      herbrachte?
 LORD GORING: Ja. Das war eine unangenehme Überraschung. Weswegen ist sie
      hergekommen?
 LADY CHILTERN: Offenbar um Robert zu ködern, dass er ein betrügerisches
      Projekt unterstützt, an dem sie interessiert ist. Den argentinischen
      Kanal.
 LORD GORING: Da ist sie an den Falschen geraten, nicht wahr?
 LADY CHILTERN: Sie ist außerstande, eine so aufrechte Natur wie die
      meines Mannes zu begreifen!
 LORD GORING: Ja. Ich sollte meinen, sie hatte Pech, als sie Robert in ihre
      Netze zu ziehen versuchte. Es ist doch merkwürdig, welch erstaunliche
      Fehler gescheite Frauen machen.
 LADY CHILTERN: Dergleichen Frauen nenne ich nicht gescheit. Ich nenne sie
      dumm!
 LORD GORING: Das ist häufig dasselbe. Gute Nacht, Lady Chiltern.
 LADY CHILTERN: Gute Nacht!
 Sir Robert
      Chiltern tritt ein.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: Mein lieber Arthur, du willst doch nicht schon
      gehen? Bleib noch ein wenig!LORD GORING: Leider kann ich nicht, vielen Dank. Ich habe versprochen, zu
      den Hartlocks hineinzuschauen. Ich glaube, sie haben eine malvenfarbene
      ungarische Kapelle, die malvenfarbene ungarische Musik spielt. Auf bald.
      Adieu! Geht ab.
 SIR ROBERT CHILTERN: Wie schön du heute Abend aussiehst, Gertrude!
 LADY CHILTERN: Robert, es ist doch nicht wahr? Du wirst dieser
      argentinischen Spekulation doch nicht deine Unterstützung geben? Das könntest
      du nicht!
 SIR ROBERT CHILTERN erschrickt: Wer
      hat dir erzählt, dass ich das vorhätte?
 LADY CHILTERN: Jene Frau, die eben gegangen ist, Mrs. Cheveley, wie sie
      sich jetzt nennt. Sie schien mich damit verhöhnen zu wollen. Robert, ich
      kenne diese Frau. Du nicht. Wir waren zusammen in der Schule. Sie war
      unzuverlässig, unehrlich, von schlechtem Einfluss auf jede, deren
      Vertrauen oder Freundschaft sie gewinnen konnte. Ich hasste sie, ich
      verachtete sie. Sie stahl allerlei, sie war eine Diebin. Sie wurde
      davongejagt, weil sie eine Diebin war. Warum lässt du dich von ihr
      beeinflussen?
 SIR ROBERT CHILTERN: Gertrude, was du mir erzählst, mag wahr sein, aber
      es geschah vor vielen Jahren. Man vergisst es am besten. Mrs. Cheveley
      kann sich seitdem geändert haben. Keiner sollte ausschließlich nach
      seiner Vergangenheit beurteilt werden.
 LADY CHILTERN traurig: Die
      Vergangenheit eines Menschen ist der Mensch selbst. Nur danach sollte man
      Leute beurteilen.
 SIR ROBERT CHILTERN: Das ist ein hartes Wort, Gertrude!
 LADY CHILTERN: Es ist ein wahres Wort, Robert. Und was meinte sie damit,
      als sie sich rühmte, sie habe dich überredet, einer Sache, die du mir
      als das unredlichste und betrügerischste Projekt dargestellt hast, das es
      je im politischen Leben gab, deine Unterstützung, deinen Namen zu leihen?
 SIR ROBERT CHILTERN beißt sich auf
      die Lippe: Ich habe mich in dem Standpunkt, den ich einnahm, geirrt.
      Wir machen alle Fehler.
 LADY CHILTERN: Aber du hast mir gestern erzählt, dass du den Bericht der
      Kommission erhalten habest, der die ganze Sache von Grund auf verdamme.
 SIR ROBERT CHILTERN geht auf und ab:
      Ich habe jetzt Anlass zu glauben, dass die Kommission voreingenommen
      oder zumindest falsch informiert war. Außerdem, Gertrude: das öffentliche
      und das private Leben sind verschiedene Dinge. Sie haben verschiedene
      Gesetze und bewegen sich auf verschiedenen Linien.
 LADY CHILTERN: Sie sollten beide den Menschen auf seiner Höhe zeigen. Ich
      sehe keinen Unterschied zwischen ihnen.
 SIR ROBERT CHILTERN bleibt stehen: In
      diesem Falle habe ich aus Gründen praktischer Politik meine Meinung geändert.
      Das ist alles.
 LADY CHILTERN: Alles!
 SIR ROBERT CHILTERN verbissen: Ja!
 LADY CHILTERN:
      Robert! Oh, es ist schrecklich, dass ich dir eine solche Frage stellen muss
      - Robert, sagst du mir die ganze Wahrheit?
 SIR ROBERT CHILTERN: Warum stellst du mir eine solche Frage?
 LADY CHILTERN nach einer Pause:
      Warum beantwortest du sie nicht?
 SIR ROBERT CHILTERN setzt sich: Gertrude,
      die Wahrheit ist eine sehr komplizierte Sache, und die Politik ist ein
      sehr kompliziertes Geschäft. Es sind ineinandergreifende Räder. Man kann
      gewisse Verpflichtungen gegen Leute haben, die man einlösen muss. Im
      politischen Leben muss man früher oder später einen Kompromiss schließen.
      Das tut jeder.
 LADY CHILTERN: Kompromiss? Robert, warum redest du heute Abend so anders,
      als ich dich stets habe reden hören? Warum hast du dich geändert?
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich habe mich nicht geändert. Aber Umstände verändern
      die Dinge.
 LADY CHILTERN: Umstände sollten niemals Grundsätze verändern.
 SIR ROBERT CHILTERN: Aber wenn ich dir sagte ...
 LADY CHILTERN:
      Was?
 SIR ROBERT CHILTERN: Dass es notwendig
      war, lebensnotwendig?
 LADY CHILTERN: Es kann niemals notwendig sein, etwas zu tun, was nicht
      ehrenhaft ist. Oder wenn es notwendig ist, was habe ich dann geliebt! Aber
      es ist nicht so, Robert, sag mir, dass es nicht so ist. Warum sollte es
      sein? Welchen Gewinn würdest du davon haben? Geld? Daran haben wir keinen
      Bedarf! Und Geld, das aus einer schmutzigen Quelle stammt, ist eine
      Erniedrigung. Macht? Aber Macht an sich bedeutet nichts. Die Macht, Gutes
      zu tun, ist vortrefflich - die und nur die allein. Was ist es dann?
      Robert, sag mir, warum du dich auf diese schimpfliche Sache einlassen
      willst!
 SIR ROBERT CHILTERN: Gertrude, du hast kein Recht, dieses Wort zu
      gebrauchen. Ich habe dir gesagt; es sei eine Frage vernünftigen
      Kompromisses. Es ist nicht mehr als das.
 LADY CHILTERN: Robert, das ist alles sehr schön und gut für andere Männer,
      für Männer, die das Leben einfach als eine schmutzige Spekulation
      betrachten, aber nicht für dich, Robert, nicht für dich. Du bist anders.
      Dein Leben lang hast du dich von anderen ferngehalten. Nie hast du dich
      von der Welt besudeln lassen. Für die Welt wie für mich bist du stets
      ein Ideal gewesen. Oh! Bleibe dieses Ideal. Wirf das große Erbe nicht
      fort zerstöre nicht diesen Elfenbeinturm. Robert, Männer können lieben,
      was unter ihrer Würde ist - wertlose, beschmutzte, entehrte Geschöpfe.
      Wir Frauen beten an, wenn wir lieben, und wenn wir unsere Anbetung
      verlieren, verlieren wir alles. Oh! Töte nicht meine Liebe zu dir, töte
      sie nicht!
 SIR ROBERT CHILTERN: Gertrude!
 LADY CHILTERN: Ich weiß, dass es Männer mit schrecklichen Geheimnissen
      in ihrem Leben gibt - Männer, die etwas Schändliches getan haben und in
      einem entscheidenden Augenblick dafür bezahlen müssen, indem sie wieder
      eine schändliche Handlung begehen - oh! sag mir nicht, du seist so wie
      jene! Robert, gibt es in deinem Leben eine geheime Schande oder Schmach?
      Sag mir, sag mir gleich, dass ...
 SIR ROBERT
      CHILTERN: Dass was?
 LADY CHILTERN spricht sehr langsam: Dass unser beider Leben vielleicht
      auseinandergetrieben werden.
 SIR ROBERT CHILTERN: Auseinandergetrieben?
 LADY CHILTERN: Dass sie sich völlig trennen könnten. Es wäre besser für
      uns beide.
 SIR ROBERT CHILTERN: Gertrude, es gibt nichts in meinem vergangenen Leben,
      was du nicht wissen dürftest.
 LADY CHILTERN: Daran habe ich nicht gezweifelt, Robert, daran habe ich
      nicht gezweifelt. Aber warum hast du so fürchterliche Dinge gesagt,
      Dinge, die deinem wahren Ich so unähnlich waren? Lass uns nie wieder über
      die Sache reden! Du wirst Mrs. Cheveley schreiben, nicht wahr, und ihr
      sagen, dass du dieses schändliche Projekt nicht unterstützen kannst?
      Wenn du ihr ein Versprechen gegeben hast, musst du es zurücknehmen, das
      ist alles.
 SIR ROBERT CHILTERN: Muss ich schreiben und ihr das sagen?
 LADY CHILTERN: Gewiss, Robert. Was solltest du anders tun?
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich könnte persönlich mit ihr sprechen. Es wäre
      besser.
 LADY CHILTERN: Du darfst sie nie wiedersehen, Robert. Sie ist keine Frau,
      mit der du jemals sprechen solltest. Sie ist es nicht wert, mit einem Mann
      wie dir zu reden. Nein; du musst ihr sofort schreiben, jetzt, diesen
      Augenblick, und gib ihr durch deinen Brief zu erkennen, dass dein
      Entschluss unwiderruflich ist!
 SIR ROBERT CHILTERN: Diesen Augenblick schreiben!
 LADY CHILTERN: Ja.
 SIR ROBERT CHILTERN: Aber es ist schon so spät. Es ist kurz vor zwölf.
 LADY CHILTERN: Das macht nichts. Sie muss sofort erfahren dass sie sich in
      dir geirrt hat - und dass du nicht der Mann bist, etwas Niedriges oder
      Verstecktes oder Ehrloses zu tun. Schreib ihr, Robert. Schreib, dass du es
      ablehnst, dieses Projekt zu unterstützen, da du es für ein schimpfliches
      Projekt hältst. ja schreib das Wort schimpflich. Sie weiß, was das Wort
      bedeutet. Sir Robert setzt sich und
      schreibt einen Brief. Seine Frau nimmt
      ihn auf und liest ihn. Ja, das
      reicht aus. Sie läutet. Und nun
      den Umschlag. Er beschriftet langsam
      den Umschlag. Mason kommt.
      Lassen Sie diesen Brief sofort ins Hotel Claridge bringen. Eine Antwort erübrigt
      sich. Mason ab. Lady Chiltern kniet
      neben ihrem Mann nieder und legt die
      Arme um ihn.
 Robert, die Liebe gibt einem einen Instinkt für die Dinge. Ich spüre,
      dass ich dich heute Abend vor etwas gerettet habe, das für dich eine
      Gefahr hätte werden können, vor etwas, das dazu führen könnte, dass
      die Menschen dich weniger in Ehren halten, als es der Fall ist. Ich
      glaube, du bist dir nicht hinreichend bewusst, Robert, dass du in unser
      heutiges politisches Leben eine noblere Atmosphäre gebracht hast, eine
      sauberere Haltung gegen das Leben, eine freiere Luft reinerer Ziele und höherer
      Ideale - ich weiß es, und darum liebe ich dich, Robert.
 SIR ROBERT CHILTERN: Oh, liebe mich immer, Gertrude, liebe mich immer!
 LADY CHILTERN: Ich werde dich immer lieben, weil du immer der Liebe wert
      sein wirst. Wir müssen ja stets das Höchste lieben, wenn wir es finden! Küsst
      ihn, steht auf und geht hinaus.
 Sir Robert
      Chiltern geht einen Augenblick auf und ab, setzt sich
      dann und vergräbt das Gesicht in den Händen. Der Diener kommt und
      beginnt die Lichter zu löschen. Sir Robert Chiltern blickt auf.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: Löschen Sie die Lichter, Mason, löschen Sie
      die Lichter!
      
       Der Diener löscht die Lichter. Der Raum wird
      fast dunkel. Die einzige Helligkeit kommt von dem großen
      Kronleuchter im Treppenhaus, der den Gobelin mit dem Triumph
      der Liebe beleuchtet.
      
        
      
       
 ZWEITER
      AKT
      
      Frühstückszimmer
      in Sir Robert Chilterns Haus. Lord Goring,
      nach dem letzten Schrei der Mode
      gekleidet, liegt lässig in einem Lehnstuhl
      Sir Robert Chiltern steht vor dem Kamin. Er befindet sich offenbar in einem Zustand großer seelischer Erregung und Qual.
      Im Verlauf der Szene geht er
      nervös im Zimmer auf und ab.
      
       LORD GORING: Mein lieber Robert, das ist eine sehr unangenehme
      Geschichte, wirklich sehr unangenehm. Du hättest deiner Frau die ganze
      Sache erzählen sollen. Geheimnisse vor anderer Leute Frauen sind im
      heutigen Leben ein unvermeidlicher Luxus. Das sagen mir zumindest ständig
      Leute im Klub, die kahl genug sind, es besser zu wissen. Aber niemand
      sollte ein Geheimnis vor seiner eigenen Frau haben. Sie kommt auf jeden
      Fall dahinter. Frauen besitzen einen erstaunlichen Instinkt für die
      Dinge. Sie entdecken alles außer dem, was in die Augen springt.SIR ROBERT CHILTERN: Arthur, ich konnte es meiner Frau nicht sagen. Wann hätte
      ich es ihr sagen können? Nicht heute nacht. Eine Trennung auf Lebenszeit
      wäre die Folge gewesen, und ich hätte die Liebe der einen Frau auf der
      Welt verloren, die ich anbete der einzigen Frau, die je Liebe in mir
      erweckt hat. Heute nacht wäre es ganz unmöglich gewesen. Sie hätte sich
      mit Abscheu von mir gewandt ... mit Abscheu und Verachtung.
 LORD GORING: Ist Lady Chiltern denn so vollkommen?
 SIR ROBERT CHILTERN: Ja, meine Frau ist so vollkommen.
 LORD GORING zieht seinen linken
      Handschuh aus: Wie schade! Verzeihung, mein lieber Junge, so habe ich
      das nicht gemeint. Aber wenn das, was du mir sagst, wahr ist, dann würde
      ich mit Lady Chiltern gern ein ernsthaftes Gespräch über das Leben führen.
 SIR ROBERT CHILTERN: Das wäre ganz zwecklos.
 LORD GORING: Darf ich's versuchen?
 SIR ROBERT CHILTERN: Ja, aber nichts könnte sie bewegen, ihre Ansichten
      zu ändern.
 LORD GORING: Nun, schlimmstenfalls wäre es einfach ein psychologisches
      Experiment.
 SIR ROBERT CHILTERN: Alle derartigen Experimente sind schrecklich gefährlich.
 LORD GORING: Alles ist gefährlich, mein lieber Junge. Wäre es anders,
      dann wäre das Leben nicht lebenswert ... Allerdings muss ich sagen, du hättest
      es ihr schon vor Jahren erzählen sollen.
 SIR ROBERT CHILTERN: Wann? Als wir verlobt waren? Glaubst du, sie hätte
      mich geheiratet, wäre ihr bekannt gewesen, woher mein Vermögen stammt,
      worauf meine Karriere gegründet ist, und dass ich etwas getan habe, was
      vermutlich die meisten Menschen schändlich und unehrenhaft nennen würden?
 LORD GORING langsam: Ja, die
      meisten Menschen würden es mit hässlichen Namen bezeichnen. Darüber
      gibt es keinen Zweifel.
 SIR ROBERT CHILTERN bitter:
      Menschen, die jeden Tag selbst etwas Derartiges tun. Menschen, die einer
      wie der andere üblere Geheimnisse in ihrem Leben haben.
 LORD GORING: Das ist der Grund, warum es sie so freut, anderer Leute
      Geheimnisse zu entdecken. Es lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit von
      ihren eigenen ab.
 SIR ROBERT CHILTERN: Und wem habe ich schließlich mit dem, was ich tat,
      geschadet? Keinem.
 LORD GORING sieht ihn fest an:
      Außer dir selbst, Robert.
 SIR ROBERT CHILTERN nach einer
      Pause: Natürlich hatte ich vertrauliche Informationen über ein Geschäft,
      das die damalige Regierung ins Auge fasste, und handelte danach.
      Vertrauliche Informationen sind heutzutage tatsächlich der Ursprung eines
      jeden großen Vermögens.
 LORD GORING klopft mit seinem
      Spazierstock an seinen Schuh: Und öffentlicher Skandal unweigerlich
      das Resultat.
 SIR ROBERT CHILTERN geht im Zimmer
      auf und ab: Arthur, bist du der Ansicht, was ich vor fast achtzehn
      Jahren getan habe, sollte jetzt gegen mich vorgebracht werden? Hältst du
      es für gerecht, wenn die ganze Karriere eines Mannes vernichtet wird
      wegen eines Fehlers, den er fast noch als Knabe begangen hat? Ich war
      damals zweiundzwanzig, und ich hatte das doppelte Missgeschick, von guter
      Herkunft und arm zu sein, heutzutage zwei unverzeihliche Dinge. Ist es
      gerecht, dass die Jugendtorheit, die Jugendsünde, wenn man vorzieht, es
      eine Sünde zu nennen, ein Leben wie das meine zugrunde richten, mich an
      den Pranger stellen, alles zerstören soll, wofür ich gearbeitet, was ich
      aufgebaut habe? Ist das gerecht, Arthur?
 LORD GORING: Das Leben ist niemals gerecht, Robert. Und vielleicht ist es
      für die meisten von uns gut, dass es nicht gerecht ist.
 SIR ROBERT CHILTERN: jeder Mann von Ehrgeiz muss gegen sein Jahrhundert
      mit dessen eigenen Waffen kämpfen. Was dieses Jahrhundert anbetet, ist
      Reichtum. Der Gott dieses Jahrhunderts ist der Reichtum. Um Erfolg zu
      haben, muss man Reichtum besitzen. Reichtum um jeden Preis.
 LORD GORING: Du unterschätzt dich, Robert. Glaub mir, ohne Reichtum hättest
      du eben so gut Erfolg haben können.
 SIR ROBERT CHILTERN: Wenn ich alt geworden wäre, vielleicht. Wenn ich die
      Leidenschaft für Macht verloren hätte oder sie nicht mehr ausüben könnte.
      Wenn ich müde, verbraucht, enttäuscht gewesen wäre. Ich wollte meinen
      Erfolg haben, als ich jung war. Jugend ist die Zeit für Erfolg. Ich
      konnte nicht warten.
 LORD GORING: Na gut, zweifellos hast du deinen Erfolg gehabt, als du noch
      jung warst. Niemand in unseren Tagen hat einen so glänzenden Erfolg
      gehabt. Mit vierzig Untersekretär im Außenministerium - das ist für
      jeden gut genug, sollte ich meinen.
 SIR ROBERT CHILTERN: Und wenn mir das jetzt alles genommen wird? Wenn ich
      alles durch einen abscheulichen Skandal verliere? Wenn ich aus dem öffentlichen
      Leben gejagt werde?
 LORD GORING: Robert, wie hast du dich nur für Geld verkaufen können?
 SIR ROBERT CHILTIERN gereizt: Ich
      habe mich nicht für Geld verkauft. Ich habe Erfolg zu einem hohen Preis
      erkauft. Weiter nichts.
 LORD GORING ernst: Ja,
      zweifellos hast du einen hohen Preis dafür bezahlt. Aber wie bist du
      darauf gekommen, etwas Derartiges zu tun?
 SIR ROBERT CHILTERN: Baron Arnheim.
 LORD GORING: Verdammter Schurke!
 SIR ROBERT CHILTERN: Nein, er war ein Mann von überaus scharfem und
      hochgebildetem Verstand. Ein Mann von Kultur, Reiz und Würde. Einer der
      intelligentesten Menschen, denen ich je begegnet bin.
 LORD GORING:
      Ach! Ich ziehe noch jederzeit einen anständigen Dummkopf vor. Zugunsten
      der Dummheit lässt sich mehr sagen, als die Leute denken. Ich persönlich
      hege große Bewunderung für die Dummheit. Das ist vermutlich so etwas wie
      seelische Übereinstimmung. Aber wie hat er es angestellt? Erzähl mir die
      ganze Sache.
 SIR ROBERT CHILTERN wirft sich in
      einen Lehnstuhl am Schreibtisch: Eines Abends nach dem Essen bei Lord
      Radley begann der Baron über Erfolg im modernen Leben wie über etwas zu
      reden, das man auf eine unbedingt präzise Wissenschaft zurückführen könne.
      Mit seiner erstaunlich faszinierenden ruhigen Stimme erläuterte er uns
      die gewaltigste aller Philosophien, die Philosophie der Macht, predigte
      uns das wundervollste Evangelium, das Evangelium des Goldes. Ich glaube,
      er merkte, welche Wirkung er auf mich ausgeübt hatte, denn einige Tage später
      schrieb er mir und bat mich, ihn zu besuchen. Er wohnte damals in der Park
      Lane, in dem Haus, das jetzt Lord Woolcomb gehört. Ich erinnere mich noch
      so gut daran, wie er mich mit einem sonderbaren Lächeln um seine blassen,
      geschwungenen Lippen durch seine herrliche Gemäldegalerie führte, mir
      seine Wandteppiche, seine Emaillen, seine Edelsteine, seine geschnitzten
      Elfenbeinarbeiten zeigte und mir Staunen abnötigte über den unerhörten
      Liebreiz des Luxus, in dem er lebte; und dann sagte er, dass Luxus nur ein
      Hintergrund sei, die gemalte Kulisse in einem Theaterstück, und dass
      Macht, Macht über andere Menschen, Macht über die menschliche
      Gesellschaft, der einzige Besitz von Wert sei, die einzige erhabene Lust,
      die erlebenswert sei, die einzige Freude, deren man niemals überdrüssig
      werde, und dass in unserm Jahrhundert nur die Reichen sie besäßen.
 LORD GORING sehr überlegt: Ein
      durchaus oberflächliches Credo.
 SIR ROBERT CHILTERN steht auf: Dafür
      hielt ich es damals nicht. Dafür halte ich es auch jetzt nicht. Reichtum
      hat mir ungeheure Macht gegeben. Er gab mir schon zu Beginn meines Lebens
      Unabhängigkeit, und Unabhängigkeit bedeutet alles. Du bist nie arm
      gewesen, du hast nie kennen gelernt, was Ehrgeiz ist. Du kannst nicht
      verstehen, welch eine wunderbare Chance mir der Baron bot. Eine Chance,
      wie sie wenige erhalten.
 LORD GORING: Zu ihrem Glück, wenn man nach Ergebnissen urteilen darf.
      Aber erzähl mir genau: wie überredete dich der Baron schließlich, zu -
      nun ja, zu tun, was du getan hast?
 SIR ROBERT CHILTERN: Als ich ging, sagte er zu mir, wenn ich ihm jemals
      eine vertrauliche Information von wirklichem Wert geben könne, werde er
      mich zu einem sehr reichen Mann machen. Ich war geblendet von der
      Aussicht, die er mir bot, und mein Ehrgeiz und mein Verlangen nach Macht
      waren damals grenzenlos. Sechs Wochen später gingen gewisse vertrauliche
      Dokumente durch meine Hände.
 LORD GORING hält die Augen
      unverwandt auf den Teppich gerichtet: Staatsdokumente?
 SIR ROBERT CHILTERN: Ja.
 Lord Goring
      seufzt, fährt sich dann mit der Hand über die
      Stirn und blickt auf.
      
       LORD
      GORING: Ich hatte keine Ahnung, dass ausgerechnet du von allen Männern
      auf der Welt so schwach gewesen sein könntest, Robert, einer solchen
      Versuchung, wie sie dir Baron Arnheim bot, nachzugeben.SIR ROBERT CHILTERN: Schwach? Oh, ich habe es satt, diesen Ausdruck zu hören.
      Satt, ihn auf andere anzuwenden. Schwach! Glaubst du wirklich, Arthur,
      dass es Schwäche ist, die der Versuchung nachgibt? Ich sage dir, es gibt
      schreckliche Versuchungen, und es erfordert Kraft, Kraft und Mut, ihnen
      nachzugeben. Sein ganzes Leben in einem einzigen Augenblick aufs Spiel zu
      setzen, alles mit einem Wurf zu wagen, einerlei ob der Preis Macht oder
      Lust ist - darin liegt keine Schwäche. Darin liegt ein entsetzlicher, ein
      gewaltiger Mut. Ich besaß jenen Mut. Ich setzte mich am selben Nachmittag
      hin und schrieb Baron Arnheim den Brief, den diese Frau jetzt in Händen
      hat. Er gewann durch das Geschäft eine Dreiviertelmillion.
 LORD GORING: Und du?
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich erhielt von dem Baron einhundertzehntausend
      Pfund.
 LORD GORING: Du warst mehr wert, Robert.
 SIR ROBERT CHILTERN: Nein; das Geld verschaffte mir genau das, was ich
      brauchte, Macht über andere. Ich trat sofort ins Parlament ein. Der Baron
      beriet mich von Zeit zu Zeit in Geldgeschäften. Ehe fünf Jahre um waren,
      hatte ich mein Vermögen fast verdreifacht. Seit damals hat sich alles,
      womit ich mich befasste, als ein Erfolg herausgestellt. In allen
      Angelegenheiten, die mit Geld zusammenhingen, habe ich ein so außergewöhnliches
      Glück gehabt, dass es mir mitunter beinahe angst machte. Ich erinnere
      mich, irgendwo, in irgendeinem ausländischen Buch, gelesen zu haben, wenn
      die Götter uns strafen wollen, erhören sie unsere Gebete.
 LORD GORING: Aber sag mir, Robert, hast du nie bereut, was du getan hast?
 SIR ROBERT CHILTERN: Nein. Ich hatte das Gefühl, das Jahrhundert mit
      seinen eigenen Waffen bekämpft und gesiegt zu haben.
 LORD GORING düster: Du
      glaubtest, du hättest gesiegt.
 SIR ROBERT CHILTERN: Das glaubte ich. Nach
      einer langen Pause. Arthur,
      du verachtest mich für das, was ich dir erzählt habe?
 LORD GORING mit tiefem Gefühl in
      der Stimme: Du tust mir sehr leid, Robert, wirklich sehr leid.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich behaupte nicht, dass ich irgendwelche
      Gewissensbisse verspürt hätte. Nein. Nicht Gewissensbisse im üblichen,
      etwas albernen Sinn des Wortes. Aber ich habe häufig Gewissensgeld
      gezahlt. Ich hegte die abenteuerliche Hoffnung, ich könnte das Schicksal
      besänftigen. Die Summe, die mir Baron Arnheim gab, habe ich seitdem in
      doppelter Höhe gemeinnützigen Stiftungen zukommen lassen.
 LORD GORING blickt auf: Gemeinnützigen
      Stiftungen? Du liebe Güte! Wie viel Schaden musst du angerichtet haben,
      Robert!
 SIR ROBERT CHILTERN: Oh, sag das nicht, Arthur; sprich nicht so!
 LORD GORING: Kümmere dich nicht darum, was ich sage, Robert! Ich sage
      immer, was ich nicht sagen sollte. Eigentlich sage ich gewöhnlich, was
      ich wirklich denke. Heutzutage ein großer Fehler. Man setzt sich so sehr
      der Gefahr aus, verstanden zu werden. Was diese fürchterliche Geschichte
      betrifft, so will ich dir helfen, wie ich nur kann. Das weißt du natürlich.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich danke dir, Arthur, ich danke dir. Aber was soll
      man tun? Was kann man tun?
 LORD GORING lehnt sich, die Hände
      in den Taschen, zurück: Nun, die Engländer können keinen Mann
      ertragen, der immer behauptet, recht zu haben, aber sie haben sehr viel übrig
      für einen Mann, der zugibt, im Unrecht gewesen zu sein. Es ist einer
      ihrer größten Vorzüge. In deinem Fall, Robert, würde allerdings ein
      Geständnis nichts helfen. Das Geld, wenn du gestattest, dass ich das
      sage, ist ... misslich. Außerdem, wenn du die ganze Sache eingeständest,
      würdest du nie wieder Moral predigen können. Und in England ist ein
      Mann, der nicht zweimal in der Woche einer großen, unmoralischen Zuhörerschaft
      aus dem Volke Moral predigen kann, als ernsthafter Politiker völlig
      erledigt. Ihm bliebe als Beruf nichts übrig als Botanik oder die Kirche.
      Ein Geständnis hätte keinen Sinn. Es würde dich ruinieren.
 SIR ROBERT CHILTERN: Es würde mich ruinieren. Arthur, ich kann nichts
      anderes tun, als die Sache auszufechten.
 LORD GORING steht von seinem Sessel
      auf: Ich habe darauf gewartet, dass du das sagst, Robert. Es ist das
      einzige, was jetzt zu tun ist. Und du musst den Anfang machen, indem du
      deiner Frau die ganze Geschichte erzählst.
 SIR ROBERT CHILTERN: Das werde ich nicht tun.
 LORD GORING: Robert, glaub mir, du hast unrecht.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich könnte es nicht. Es würde ihre Liebe zu mir töten.
      Und was nun diese Frau betrifft, diese Mrs. Cheveley. Wie kann ich mich
      gegen sie wehren? Anscheinend warst du früher mit ihr bekannt, Arthur.
 LORD GORING: Ja.
 SIR ROBERT CHILTERN: Hast du sie gut gekannt?
 LORD GORING ordnet seine Krawatte: So
      wenig, dass ich mich mit ihr verlobte und sie auf der Stelle heiraten
      wollte, als ich mich bei den Tenbys aufhielt. Die Angelegenheit dauerte
      drei Tage ... fast.
 SIR ROBERT CHILTFRN: Warum endete sie?
 LORD GORING leichthin: Oh, ich
      hab's vergessen. Zumindest spielt es keine Rolle. Hast du es übrigens bei
      ihr mit Geld versucht? Sie pflegte mächtig hinter Geld her zu sein.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich habe ihr jede gewünschte Summe angeboten. Sie
      lehnte ab.
 LORD GORING: Also versagt mitunter das wunderbare Evangelium des Goldes.
      Letzten Endes ist dem Reichen nicht alles möglich.
 SIR ROBERT CHILTERN: Nicht alles. Vermutlich hast du recht, Arthur, ich
      habe das Gefühl, mir steht öffentliche Schande bevor. Ich bin davon überzeugt.
      Nie zuvor wusste ich, was Entsetzen ist. jetzt, weiß ich es. Es ist, als
      läge eine eisige Hand auf dem Herzen. Es ist, als poche sich das Herz in
      einer leeren Höhle zu Tode.
 LORD GORING schlägt auf den Tisch: Robert,
      du musst sie bekämpfen. Du musst sie bekämpfen.
 SIR ROBERT CHILTFRN: Aber wie?
 LORD GORING: Das kann ich dir im Augenblick nicht sagen. Ich habe nicht
      die geringste Vorstellung. Aber jeder hat einen schwachen Punkt. In jedem
      von uns ist eine brüchige Stelle. Schlendert
      zum Kamin und betrachtet sich im Spiegel: Mein Vater sagt mir, dass
      sogar ich Fehler besitze. Vielleicht stimmt das. Ich weiß nicht.
 SIR ROBERT CHILTERN: Da ich mich gegen Mrs. Cheveley wehren muss, habe ich
      das Recht, jede Waffe zu gebrauchen, die ich finden kann, nicht wahr?
 LORD GORING immer noch in den
      Spiegel blickend: Ich glaube nicht, dass ich an deiner Stelle die
      geringsten Bedenken hätte. Sie ist durchaus imstande, für sich selbst zu
      sorgen.
 SIR ROBERT CHILTERN setzt sich an
      den Tisch und nimmt eine
      Feder zur Hand: Gut, ich werde
      ein chiffriertes Telegramm an die Botschaft in Wien schicken und mich
      erkundigen, ob etwas bekannt ist, das gegen sie spricht. Vielleicht gibt
      es einen heimlichen Skandal, den sie fürchten mag.
 LORD GORING rückt seine
      Knopflochblume zurecht: Oh, ich möchte meinen, Mrs. Cheveley gehört
      zu den höchst modernen Frauen von heute, die einen neuen Skandal so
      kleidsam finden wie einen neuen Hut und beides jeden Nachmittag halb sechs
      im Park spazieren führen. Ich bin sicher, dass sie ärgerliches Aufsehen
      liebt und dass der Kummer ihres Lebens augenblicklich darin besteht, nicht
      genügend erregen zu können.
 SIR ROBERT CHILTERN schreibt:
      Wie kommst du darauf?
 LORD GORING dreht sich um: Sie
      hatte gestern Abend viel zuviel Rouge und nicht ganz hinreichend Stoff an
      sich. Das ist bei Frauen immer ein Zeichen von Verzweiflung.
 SIR ROBERT CHILTERN während er läutet:
      Aber es lohnt sich, dass ich nach Wien telegraphiere, oder nicht?
 LORD GORING: Es lohnt sich immer, eine Frage zu stellen, wenn es sich auch
      nicht immer lohnt, eine Frage zu beantworten.
 Mason tritt ein.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ist Mr. Trafford in seinem Zimmer?
 MASON: Ja, Sir Robert.
 SIR ROBERT CHILTERN steckt, was er
      geschrieben hat, in einen Umschlag,
      den er sorgfältig schließt: Sagen Sie ihm, er möchte dies sofort
      chiffriert abschicken. Es darf keinen Augenblick aufgeschoben werden.
 MASON: Sehr wohl, Sir Robert.
 SIR ROBERT CHILTERN: Oh! Geben Sie es noch einmal her. Schreibt etwas auf den Umschlag. Darauf entfernt sich Mason mit dem
      Brief.
 SIR ROBERT CHILTERN: Sie muss eine ungewöhnliche Macht über Baron
      Arnheim besessen haben. Ich frage mich, wie.
 LORD GORING lächelnd: Das frage
      ich mich.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich werde sie auf Leben und Tod bekämpfen, solange
      meine Frau nichts erfährt.
 LORD GORING mit Nachdruck: Oh, kämpfe
      auf jeden Fall - auf jeden Fall.
 SIR ROBERT CHILTERN mit einer Gebärde
      der Hoffnungslosigkeit: Wenn meine Frau dahinter käme, bliebe wenig,
      darum zu kämpfen. Nun ja, sobald ich etwas aus Wien höre, werde ich dich
      das Resultat wissen lassen. Es ist eine Möglichkeit, nur eine Möglichkeit,
      aber ich glaube an sie. Und wie ich das Jahrhundert mit seinen eigenen
      Waffen bekämpfte, werde ich sie mit ihren Waffen bekämpfen. Das ist nur
      recht und billig, und sie sieht aus wie eine Frau mit einer Vergangenheit,
      nicht wahr?
 LORD GORING: Wie die meisten hübschen Frauen. Aber es gibt eine Mode in
      Vergangenheiten, wie es eine Mode in Kleidern gibt. Vielleicht ist Mrs.
      Cheveleys Vergangenheit eine nur leicht dekolletierte, und die sind
      heutzutage ungeheuer beliebt. Außerdem, mein lieber Robert, würde ich
      nicht allzu große Hoffnungen darauf setzen, Mrs. Cheveley Angst
      einzujagen. Ich würde nicht denken, Mrs. Cheveley sei eine Frau, der man
      leicht bange machen kann. Sie hat all ihre Gläubiger überlebt, und sie
      beweist eine erstaunliche Geistesgegenwart.
 SIR ROBERT CHILTERN: Oh! Ich lebe jetzt von Hoffnungen. Ich klammere mich
      an jede Möglichkeit. Ich fühle mich wie ein Mann auf einem sinkenden
      Schiff. Das Wasser strudelt mir schon um die Füße, und selbst in der
      Luft liegt ein Ungewitter. Still! Ich höre die Stimme meiner Frau.
 Lady
      Chiltern, in Straßenkleidung, tritt ein.
      
       LADY
      CHILTERN: Guten Tag, Lord Goring.LORD GORING: Guten Tag, Lady Chiltern! Sind Sie im Park gewesen?
 LADY CHILTERN: Nein, ich komme eben aus dem Liberalen Frauenverein, wo übrigens
      dein Name, Robert, mit lautem Beifall begrüßt wurde, und jetzt möchte
      ich meinen Tee trinken. Zu Lord Goring.
      Sie bleiben und trinken mit, nicht wahr?
 LORD GORING: Vielen Dank, ein wenig werde ich noch bleiben.
 LADY CHILTERN: Ich bin gleich zurück. Ich will nur meinen Hut absetzen.
 LORD GORING höchst ernsthaft: Oh,
      bitte nicht. Er ist so hübsch. Einer der hübschesten Hüte, die ich je
      gesehen habe. Ich hoffe, der Liberale Frauenverein hat ihn mit lautem
      Beifall begrüßt.
 LADY CHILTERN mit einem Lächeln:
      Wir haben viel wichtigere Arbeit zu tun, als unsere Hüte zu betrachten,
      Lord Goring.
 LORD GORING: Wahrhaftig? Was für Arbeit?
 LADY CHILTERN: Ach, lauter langweilige, nützliche und höchst erfreuliche
      Dinge: Fabrikgesetze, weibliche Aufseher, das Achtstundengesetz, das
      Wahlrecht für das Parlament ... Eigentlich alles, was Sie völlig
      uninteressant finden würden.
 LORD GORING: Und niemals Hüte?
 LADY CHILTERN mit gespielter Entrüstung:
      Niemals Hüte, niemals!
 Lady
      Chiltren geht durch die Tür, die zu ihrem Ankleidezimmer
      führt.
      
       SIR
      ROBERT CHILTERN ergreift Lord
      Gorings Hand: Du bist mir ein guter Freund gewesen, Arthur, ein
      wirklich guter Freund.LORD GORING: Ich wüsste nicht, was ich bisher für dich hätte tun können,
      Robert. Soweit ich sehe, habe ich eigentlich überhaupt nichts für dich
      tun können. Ich bin gründlich enttäuscht von mir.
 SIR ROBERT CHILTERN: Du hast es mir möglich gemacht, dir die Wahrheit zu
      erzählen. Das ist sehr viel. Die Wahrheit hat mich immer erstickt.
 LORD GORING:
      Ach! Die Wahrheit ist etwas, wovon ich mich so bald wie möglich
      befreie! Übrigens eine schlechte Angewohnheit. Macht einen im Klub sehr
      unbeliebt ... bei den älteren Mitgliedern. Sie nennen es Selbstgefälligkeit.
      Vielleicht ist das richtig.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich wünschte zu Gott, ich wäre fähig gewesen, die
      Wahrheit zu sagen ... nach der Wahrheit zu leben. Ach! Das ist das
      wichtigste im Leben, nach der Wahrheit zu leben. Seufzt
      und geht zur Tür. Ich sehe dich bald wieder, Arthur, nicht wahr?
 LORD GORING: Natürlich. Wann immer du willst, Ich gehe heute Abend auf
      einen Sprung zum Ball im Bachelor-Klub, wenn ich nichts Besseres zu tun
      finde. Aber ich komme morgen Vormittag vorbei. Wenn du mich zufällig
      heute Abend brauchen solltest, schick eine Nachricht in die Curzon Street.
 SIR ROBERT CHILTERN: Danke.
 Als er an
      der Tür ist, kommt Lady Chiltern aus ihrem Ankleidezimmer.
      
       LADY CHILTERN: Du willst doch nicht gehen, Robert?SIR ROBERT CHILTERN: Ich habe ein paar Briefe zu schreiben, Liebste.
 LADY CHILTERN geht zu ihm: Du
      arbeitest zu angestrengt, Robert. Nie scheinst du an dich selbst zu
      denken, und du siehst so müde aus.
 SIR ROBERT CHILTERN: Es ist nichts, Liebste, nichts. Er küsst sie und geht.
 LADY CHILTERN zu Lord
      Goring: Setzen Sie sich. Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind. Ich
      möchte mit Ihnen sprechen, über ... nein, nicht über Hüte oder den
      Liberalen Frauenverein. Das erste interessiert Sie viel zu sehr und das
      zweite nicht annähernd genug.
 LORD GORING: Sie möchten mit mir über Mrs. Cheveley sprechen?
 LADY CHILTERN: Ja. Sie haben es erraten. Nachdem Sie gestern Abend fort
      waren, erfuhr ich, dass sie mit dem, was sie sagte, wirklich die Wahrheit
      gesprochen hatte. Natürlich veranlasste ich Robert, ihr sofort einen
      Brief zu schreiben und sein Versprechen zurückzunehmen.
 LORD GORING: Das gab er mir zu verstehen.
 LADY CHILTERN: Hätte er es gehalten, so wäre das der erste Makel auf
      einer stets makellosen Laufbahn gewesen. Robert muss über jeden Vorwurf
      erhaben sein. Er ist nicht wie andere Männer. Er kann sich nicht leisten,
      was andere Männer tun. Sie sieht Lord Goring an, der schweigt. Sind Sie nicht meiner Ansicht?
      Sie sind Roberts bester Freund. Sie sind unser bester Freund, Lord Goring.
      Keiner außer mir kennt Robert besser als Sie. Er hat keine Geheimnisse
      vor mir, und ich glaube nicht, dass er welche vor Ihnen hat.
 LORD GORING: Er hat bestimmt keine Geheimnisse vor mir. Zumindest glaube
      ich das.
 LADY CHILTERN: Habe ich dann nicht recht mit meiner Meinung von ihm? Ich
      weiß, dass ich recht habe. Aber sprechen Sie frei und offen zu mir.
 LORD GORING sieht sie geradezu an: Ganz
      frei und offen?
 LADY CHILTERN: Gewiss. Sie haben doch nichts zu verheimlichen?
 LORD GORING: Nein. Aber, meine liebe Lady Chiltern, ich glaube, wenn Sie
      mir erlauben, das zu sagen, dass im praktischen Leben.
 LADY CHILTERN lächelnd: Von dem Sie so wenig wissen, Lord Goring.
 LORD GORING: Von dem ich nichts aus Erfahrung weiß, wenn auch einiges
      durch Beobachtung - ich glaube, dass im praktischen Leben der Erfolg, der
      wirkliche Erfolg, etwas an sich hat, das ein wenig skrupellos ist, und der
      Ehrgeiz stets etwas Skrupelloses. Hat ein Mann erst einmal Herz und Seele
      daran gehängt, einen bestimmten Punkt zu erreichen, und muss er dazu eine
      Klippe nehmen, dann nimmt er die Klippe, und muss er im Schmutz waten.
 LADY CHILTERN: Nun?
 LORD GORING: Dann watet er im Schmutz. Natürlich spreche ich nur
      allgemein über das Leben.
 LADY CHILTERN ernst: Ich hoffe.
      Warum sehen Sie mich so merkwürdig an, Lord Goring?
 LORD GORING: Lady Chiltern, ich habe mir mitunter gedacht, dass ... Sie
      vielleicht ein wenig streng in manchen Lebensanschauungen sind. Ich denke
      mir, dass ... Sie häufig nicht genügend Nachsicht üben. In jeder Natur
      sind Anlagen zur Schwäche oder Schlimmerem als Schwäche vorhanden.
      Nehmen wir zum Beispiel an, dass - irgendein Mann, der in der Öffentlichkeit
      steht, mein Vater oder Lord Merton oder sagen wir auch Robert, vorfahren
      einen dummen Brief an jemand geschrieben hat ...
 LADY CHILTERN: Was meinen Sie mit einem dummen Brief?
 LORD GORING: Einen Brief, der die Stellung des Betreffenden ernsthaft gefährdet.
      Ich setze nur einen gedachten Fall.
 LADY CHILTERN: Robert ist ebenso wenig fähig, etwas Dummes wie etwas
      Unrechtes zu tun.
 LORD GORING nach einer langen Pause:
      Niemand ist unfähig, etwas Dummes zu tun. Niemand ist unfähig, etwas
      Unrechtes zu tun.
 LADY CHILTERN: Sind Sie ein Pessimist? Was werden die anderen Dandys
      sagen? Sie werden alle in Trauer gehen müssen.
 LORD GORING steht auf: Nein,
      Lady Chiltern, ich bin kein Pessimist. Freilich bin ich nicht ganz sicher,
      ob ich genau weiß, was Pessimismus wirklich bedeutet. Ich weiß nur, dass
      das Leben nicht ohne barmherzige Nachsicht begriffen, nicht ohne
      barmherzige Nachsicht gelebt werden kann. Liebe, nicht deutsche
      Philosophie, ist die wahre Auslegung dieser Welt, wie immer auch die
      Auslegung der nächsten lauten mag. Und wenn Sie jemals in Verlegenheit
      sind, Lady Chiltern, vertrauen Sie mir uneingeschränkt, und ich werde
      Ihnen auf jede mir mögliche Weise helfen. Wenn Sie mich jemals brauchen,
      kommen Sie zu mir um Beistand, und Sie werden ihn erhalten. Kommen Sie
      sofort zu mir.
 LADY CHILTERN sieht ihn erstaunt an:
      Lord Goring, Sie sprechen ganz ernst. Ich glaube, ich habe Sie noch
      nie ernst sprechen hören.
 LORD GORING lachend: Sie müssen
      mir verzeihen, Lady Chiltern. Es wird nicht wieder vorkommen, wenn ich es
      vermeiden kann.
 LADY CHILTERN: Aber es gefällt mir, wenn Sie ernst sind.
 Mabel
      Chiltern erscheint in einem ganz entzückenden Kleid.
      
       MABEL
      CHILTERN: Liebe Gertrude, sag Lord Goring nicht so etwas Fürchterliches.
      Ernst würde ihm gar nicht stehen. Guten Tag, Lord Goring! Bitte bleiben
      Sie so unseriös, wie Sie können.LORD GORING: Ich würde es gern, Miss Mabel, aber ich fürchte, ich bin
      ... heute ein wenig aus der Übung, und außerdem muss ich jetzt gehen.
 MABEL CHILTERN: Gerade, wenn ich komme! Was für schreckliche Manieren Sie
      haben! Ich bin überzeugt, Sie sind sehr schlecht erzogen.
 LORD GORING: Das stimmt.
 MABEL CHILTERN: Ich wünschte, ich hätte Sie erzogen.
 LORD GORING: Ich bedaure sehr, dass Sie es nicht waren.
 MABEL CHILTERN: Vermutlich ist es jetzt zu spät?
 LORD GORING lächelnd: Ich bin
      nicht so sicher.
 MABEL CHILTERN: Reiten Sie morgen Vormittag?
 LORD GORING: Ja, um zehn.
 MABEL CHILTERN: Vergessen Sie's nicht.
 LORD GORING: Natürlich nicht. Übrigens, Lady Chiltern, die heutige >Morning
      Post< bringt keine Liste Ihrer Gäste. Offenbar ist sie durch den
      Grafschaftsrat oder die Lambeth-Beratung oder etwas ebenso Langweiliges
      verdrängt worden. Könnten Sie mir eine Liste verschaffen? Ich habe einen
      besonderen Grund, Sie darum zu bitten.
 LADY CHILTERN: Gewiss kann Ihnen Mr. Trafford eine geben.
 LORD GORING: Danke vielmals.
 MABEL CHILTERN: Tommy ist der nützlichste Mensch von London.
 LORD GORING wendet sich ihr zu:
      Und wer ist Londons größte Zierde?
 MABEL CHILTERN triumphierend: Ich.
 LORD GORING: Wie gescheit von Ihnen, es zu erraten!
 Nimmt Hut und Stock. Auf
      wiedersehn, Lady Chiltern! Sie werden daran denken, was ich Ihnen gesagt
      habe?
 LADY CHILTERN: Ja, aber ich weiß nicht, warum Sie es zu mir gesagt haben.
 LORD GORING: Das weiß ich selber kaum. Auf wieder sehn, Miss Mabel!
 MABEL CHILTERN mit einem
      etwas enttäuschten Schmollmund: Ich wünschte, Sie gingen noch nicht.
      Ich habe heute Vormittag vier wundervolle Abenteuer erlebt, eigentlich
      viereinhalb. Sie könnten bleiben und sich ein paar davon anhören.
 LORD GORING: Wie selbstsüchtig von Ihnen, viereinhalb zu erleben! Da
      werden für mich keine mehr übrig sein.
 MABEL CHILTERN: Ich möchte nicht, dass Sie überhaupt welche erleben. Das
      wäre nicht gut für Sie.
 LORD GORING: Das ist die erste Unfreundlichkeit, die Sie mir je gesagt
      haben. Und wie reizend haben Sie die gesagt! Morgen um zehn.
 MABEL CHILTERN: Pünktlich.
 LORD GORING: Ganz pünktlich. Aber bringen Sie nicht Mr. Trafford mit.
 MABEL CHILTERN wirft ein wenig den
      Kopf nach hinten: Natürlich werde ich Tommy Trafford nicht
      mitbringen. Tommy Trafford ist tief in Ungnade.
 LORD GORING: Das freut mich zu hören. Verbeugt
      sich und geht hinaus.
 MABEL CHILTERN: Gertrude, ich wünschte, du würdest mit Tommy
      Trafford sprechen.
 LADY CHILTERN: Was hat denn der arme Mr. Trafford diesmal verbrochen?
      Robert sagt, er sei der beste Sekretär, den er je gehabt hat.
 MABEL CHILTERN: Tommy hat mir wieder einen Antrag gemacht. Tommy tut
      wahrhaftig nichts anderes, als mir Anträge zu machen. Gestern Abend hat
      er mir im Musikzimmer einen Antrag gemacht, als ich völlig wehrlos war,
      weil da ein hochkünstlerisches Trio spielte. Dass ich nicht wagte, ihm
      das mindeste zu entgegnen, brauche ich dir kaum zu erzählen. Es hätte
      die Musik sofort zum Schweigen gebracht. Musiker sind so absurd unvernünftig.
      Immer wollen sie einen gerade in dem Augenblick völlig stumm haben, wenn
      man sich danach sehnt, völlig taub zu sein. Dann hat er mir heute
      Vormittag bei hellem Tageslicht und vor dieser grässlichen Achillesstatue
      einen Antrag gemacht. Wahrhaftig, es ist einfach schauderhaft, was vor
      diesem Kunstwerk stattfindet. Die Polizei sollte eingreifen. Beim Lunch
      sah ich an dem Glanz in seinen Augen, dass er wieder einen Antrag machen
      wollte, und es gelang mir eben noch, ihn rechtzeitig im Zaum zu halten,
      indem ich ihm versicherte, ich sei eine Bimetallistin. Zum Glück weiß
      ich nicht, was Bimetallismus bedeutet. Und ich glaube auch nicht, dass es
      jemand anders weiß. Aber die Bemerkung schmetterte Tommy für zehn
      Minuten nieder. Er sah ganz erschrocken aus. Und außerdem hat Tommy eine
      so verdrießliche Art, seine Anträge zu machen. Ich hätte ja nicht so
      viel dagegen einzuwenden, wenn er es lauthals täte. Das könnte auf die
      Leute Eindruck machen. Aber er redet dann so furchtbar vertraulich. Wenn
      Tommy romantisch sein möchte, redet er mit einem wie ein Arzt. Ich mag
      Tommy sehr gern, aber seine Methoden, einen Heiratsantrag zu machen, sind
      völlig überholt. Ich wünschte, du würdest mit ihm sprechen, Gertrude,
      und ihm sagen, dass einmal in der Woche sehr wohl ausreicht, jemand einen
      Antrag zu machen, und es sollte stets auf eine Art und Weise geschehen,
      die etwas Aufmerksamkeit erregt.
 LADY CHILTERN: Liebe Mabel, sprich nicht so. Außerdem hält Robert sehr
      viel von Mr. Trafford. Er meint, er habe eine glänzende Zukunft vor sich.
 MABEL CHILTERN: Oh! Ich würde um alles unter der Sonne keinen Mann mit
      einer Zukunft vor sich heiraten.
 LADY CHILTERN:
      Mabel!
 MABEL CHILTERN: Ich weiß, Liebste. Du
      hast einen Mann mit einer Zukunft geheiratet, nicht wahr? Aber schließlich
      war Robert ein Genie, und du hast einen edlen, selbstaufopfernden
      Charakter. Du bist Genies gewachsen. Ich habe überhaupt keinen Charakter,
      und Robert ist das einzige Genie, das ich je ertragen konnte. In der Regel
      finde ich sie einfach unmöglich! Genies reden soviel, nicht wahr? Eine so
      schlechte Angewohnheit! Und immer denken sie über sich selbst nach, wenn
      ich möchte, dass sie an mich denken. Ich muss jetzt gehen, zur Probe bei
      Lady Basildon. Du erinnerst dich, wir stellen lebende Bilder. Den Triumph
      von irgendwas, ich weiß nicht was! Ich hoffe, es wird mein Triumph sein.
      Das ist der einzige Triumph, der mich im Augenblick wirklich interessiert.
      Küsst Lady Chiltern und geht
      hinaus, kommt dann zurückgelaufen. Oh, Gertrude, weißt du, wer dich
      besucht? Diese schreckliche Mrs. Cheveley, in einem ganz bezaubernden
      Kleid. Hast du sie eingeladen?
 LADY CHILTERN steht auf: Mrs.
      Cheveley? Besucht mich? Unmöglich!
 MABEL CHILTERN: Ich sage dir, sie kommt die Treppe herauf, in voller Größe
      wie das Leben und nicht annähernd so naturgetreu.
 LADY CHILTERN: Du brauchst nicht zu warten, Mabel. Vergiss nicht, Lady
      Basildon erwartet dich.
 MABEL CHILTERN: Oh! Ich muss Lady Markby begrüßen. Sie ist entzückend.
      Ich lasse mich so gern von ihr ausschelten.
 Mason tritt
      ein.
      
       MASON: Lady Markby. Mrs. Cheveley.
      
       Es
      erscheinen Lady Markby und Mrs. Cheveley.
      
       LADY
      CHILTERN geht ihnen entgegen: Liebe
      Lady Markby, wie liebenswürdig von Ihnen, mich zu besuchen! Reicht
      ihr die Hand und verneigt sich etwas kühl gegen Mrs. Cheveley. Wollen Sie
      sich nicht setzen, Mrs. Cheveley?MRS. CHEVELEY:
      Danke. Ist das nicht Miss Chiltern? Ich würde sie so gern kennen lernen.
 LADY CHILTERN: Mabel, Mrs. Cheveley hat den Wunsch, dich kennen zulernen.
 Mabel
      Chiltern neigt zur Begrüßung ein wenig den Kopf.
      
       MRS. CHEVELEY setzt sich: Ich
      fand Ihr Kleid gestern Abend so bezaubernd, Miss Chiltern. So schlicht und
      ... angemessen.MABEL CHILTERN: Wirklich? Das muss ich meiner Schneiderin sagen. Sie wird
      staunen. Auf Wiedersehen, Lady Markby!
 LADY MARKBY: Sie wollen schon gehen?
 MABEL CHILTERN: Es tut mir so leid, aber es bleibt mir nichts anderes übrig.
      Ich bin auf dem Sprung zu einer Probe. Ich muss in irgendwelchen lebenden
      Bildern auf dem Kopf stehen.
 LADY MARKBY: Auf dem Kopf, Kind? Oh! Das will ich nicht hoffen. Ich
      glaube, das ist sehr ungesund. Nimmt
      auf dem Sofa neben Lady Chiltern
      Platz.
 MABEL CHILTERN: Aber es ist für ein vortreffliches Liebeswerk; Hilfe
      für die Verdienstlosen, die einzigen Leute, die mich wirklich
      interessieren. Ich bin Sekretär, und Tommy Trafford ist Schatzmeister.
 MRS. CHEVELEY:
      Und was ist Lord Goring?
 MABEL CHILTERN: Oh! Lord Goring ist Präsident.
 MRS. CHEVELEY: Der Posten müsste wunderbar zu ihm passen, wenn er nicht
      verdorben ist, seit ich ihn kennen lernte.
 LADY MARKBY nachdenklich: Sie
      sind bemerkenswert modern, Mabel. Vielleicht ein wenig zu modern. Nichts
      ist so gefährlich, als allzu modern zu sein. Es kann einem passieren,
      dass man ganz plötzlich altmodisch wird. Ich habe viele Beispiele dafür
      erlebt.
 MABEL CHILTERN: Welch eine schreckliche Aussicht!
 LADY MARKBY: Ach, meine Liebe, Sie brauchen nicht nervös zu werden. Sie
      werden immer denkbar hübsch sein. Das ist die beste Mode, die es gibt,
      und die einzige Mode, in der England mit Erfolg tonangebend ist.
 MABEL CHILTERN mit einem
      Knicks: Haben Sie vielen Dank, Lady Markby, im Namen Englands ... und
      in meinem. Geht hinaus.
 LADY MARKBY wendet sich an Lady
      Chiltern: Liebe Gertrude, wir sind nur vorbeigekommen, um zu erfahren,
      ob Mrs. Cheveleys Diamantspange gefunden wurde.
 LADY CHILTERN:
      Hier?
 MRS. CHEVELEY: Ja. Ich vermisste sie, als
      ich ins Claridge zurückkam, und ich dachte, ich könnte sie möglicherweise
      hier verloren haben.
 LADY CHILTERN: Ich habe nichts darüber gehört. Aber ich werde den Butler
      kommen lassen und ihn fragen. Läutet.
 MRS. CHEVELEY: O bitte bemühen Sie sich nicht, Lady Chiltern. Kann
      sein ich habe sie in der Oper verloren, ehe wir herkamen.
 LADY MARKBY: Ach ja, wahrscheinlich ist es in der Oper gewesen. Tatsache
      ist, dass wir heutzutage alle so hasten und drängen, dass ich staunen
      muss, wenn wir nach einem Abend noch etwas an uns zurückbehalten haben.
      Ich weiß von mir selbst, wenn ich aus einer Gesellschaft zurückkomme,
      habe ich stets das Gefühl, als hätte ich nicht einen Fetzen am Leibe, außer
      einem kleinen Anstandsfetzen, gerade genug, die niederen Schichten zu
      hindern, dass sie peinliche Bemerkungen durch das Wagenfenster machen.
      Unsere Gesellschaft ist in der Tat fürchterlich übervölkert. Jemand
      sollte wahrhaftig ein angemessenes System unterstützter Auswanderung
      entwerfen. Das würde sehr viel Gutes tun.
 MRS. CHEVELEY: Ich bin völlig Ihrer Meinung, Lady Markby. Es ist fast
      sechs Jahre her, seit ich zur Saison in London gewesen bin, und ich muss
      sagen, die Gesellschaft ist fürchterlich gemischt geworden. Man sieht überall
      die merkwürdigsten Leute.
 LADY MARKBY: Das ist durchaus richtig, meine Liebe. Aber man braucht sie
      nicht kennen zulernen. Ich bin überzeugt, dass ich nicht die Hälfte der
      Leute kenne, die in mein Haus kommen. Und nach allem, was ich höre, möchte
      ich es auch gar nicht.
 Mason tritt
      ein.
      
       LADY CHILTFRN: Was für eine Spange war es, die Sie verloren haben,
      Mrs. Cheveley?MRS. CHEVELEY: Eine diamantne Schlangenspange mit einem Rubin, einem
      ziemlich großen Rubin.
 LADY MARKBY: Ich dächte, Sie sagten, am Kopf sei ein Saphir, meine Liebe?
 MRS. CHEVELEY lächelnd: Nein,
      Lady Markby - ein Rubin.
 LADY MARKBY nickt: Und sehr
      kleidsam, davon bin ich völlig überzeugt.
 LADY CHILTERN: Ist eine Rubin- und Diamant-Spange heute morgen in
      irgendeinem Zimmer gefunden worden, Mason?
 MASON: Nein, Mylady.
 MRS. CHEVELEY: Es hat wirklich nichts auf sich, Lady Chiltern. Es tut mir
      so leid, Ihnen Ungelegenheit verursacht zu haben.
 LADY CHILTERN kühl: Oh, es war
      keine Ungelegenheit. Das genügt, Mason. Sie können den Tee bringen.
 Mason geht
      ab.
      
       LADY MARKBY: Nun, ich muss sagen, es ist höchst verdrießlich,
      etwas zu verlieren. Ich erinnere mich, dass ich einmal in Bath vor Jahren
      in der Trinkhalle ein ungewöhnlich hübsches Kameenarmband verlor, das
      mir Sir John geschenkt hatte. Ich glaube nicht, das muss ich leider sagen,
      dass er mir seitdem jemals etwas geschenkt hat. Er ist auf betrübliche
      Weise entartet. Wirklich, dieses grässliche Unterhaus macht uns unsere
      Ehemänner völlig zuschanden. Ich halte das Abgeordnetenhaus bei weitem für
      den größten Schlag gegen ein glückliches Eheleben, den es gab, seit
      diese abscheuliche Sache, die höhere Bildung der Frauen, erfunden wurde.LADY CHILTERN:
      Oh! Dergleichen in diesem Hause zu sagen, ist Ketzerei, Lady Markby.
      Robert ist ein bedeutender Verfechter der höheren Bildung der Frauen,
      und, Verzeihung, ich bin es ebenfalls.
 MRS. CHEVELEY: Was ich gern erleben würde, ist die höhere Bildung der Männer.
      Die Männer haben sie so überaus nötig.
 LADY MARKBY: Allerdings, meine Liebe. Aber ich fürchte, ein solcher Plan
      wäre völlig undurchführbar. Ich glaube nicht, dass der Mann sehr befähigt
      ist, sich zu entwickeln. Er ist so weit gekommen, wie es ihm möglich ist,
      und das ist nicht weit, wie? Was die Frauen betrifft, nun ja, liebe
      Gertrude, Sie gehören der jüngeren Generation an, und es ist zweifellos
      ganz in Ordnung, wenn Sie dem zustimmen. Zu meiner Zeit wurde uns natürlich
      gelehrt, nichts zu verstehen. Das war das alte System, und es war
      erstaunlich interessant. Ich versichere Ihnen, die Summe der Dinge, die
      man meine arme Schwester und mich nicht zu verstehen lehrte, war ganz außerordentlich.
      Die modernen Frauen verstehen dagegen alles, wie ich höre.
 MRS. CHEVELEY: Ausgenommen ihre Ehemänner. Die sind das einzige, was die
      moderne Frau nie versteht.
 LADY MARKBY: Und das ist auch sehr gut, meine Liebe, möchte ich
      behaupten. Es könnte so manches glückliche Heim zerstören, wenn es
      anders wäre. Nicht das Ihre, Gertrude, das brauche ich kaum zu sagen. Sie
      haben einen Mustergatten geheiratet. Ich wünschte, ich könnte von mir
      dasselbe behaupten. Aber seit sich Sir John darauf geworfen hat, regelmäßig
      den Debatten beizuwohnen, was er in der guten alten Zeit nie zu tun
      pflegte, ist seine Ausdrucksweise ganz unmöglich geworden. Er scheint
      immer zu glauben, er richte das Wort an das Parlament, und wenn er die
      Lage der Landarbeiter oder die walisische Kirchengemeinde oder etwas ähnlich
      Unschickliches erörtert, bin ich demzufolge genötigt, alle Bedienten aus
      dem Zimmer zu schicken. Es ist nicht angenehm, wenn man sieht, wie der
      eigene Butler, den man seit dreiundzwanzig Jahren im Hause hat, wahrhaftig
      an der Anrichte errötet und die Diener in den Ecken Verrenkungen machen
      wie Leute im Zirkus. Ich versichere Ihnen, mein Leben wird völlig zerrüttet
      werden, wenn man John nicht umgehend ins Oberhaus schickt. Dann wird er
      sich nicht mehr für Politik interessieren, nicht wahr? Das Oberhaus ist
      so verständig. Eine Gesellschaft von Gentlemen. In seinem
      augenblicklichen Zustand ist Sir John wirklich eine große Prüfung. Heute
      morgen, ehe das Frühstück noch halb vorbei war, stellte er sich auf den
      Kaminteppich, steckte die Hände in die Taschen und wandte sich aus vollem
      Halse an England. Ich verließ den Tisch, sobald ich meine zweite Tasse
      Tee getrunken hatte, das brauche ich wohl kaum zu sagen. Aber seine
      heftige Sprache war im ganzen Hause zu hören! Ich hoffe, Gertrude, Sir
      Robert ist nicht so?
 LADY CHILTERN: Aber mich interessiert die Politik ungemein, Lady Markby.
      Ich liebe es, Robert zuzuhören, wenn er darüber spricht.
 LADY MARKBY: Nun, hoffentlich widmet er sich den Blaubüchern nicht in dem
      Maße wie Sir John. Ich glaube nicht, dass sie für jemand eine
      vereitelnde Lektüre sein können.
 MRS. CHEVELEY lässig: Ich habe
      nie ein Blaubuch gelesen. Ich lese lieber Bücher ... in gelbem Einband.
 LADY MARKBY in echter Ahnungslosigkeit: Gelb ist eine fröhlichere Farbe, nicht
      wahr? In meiner Jugend habe ich recht viel Gelb getragen und würde es
      jetzt noch tun, wenn Sir John mit seinen Bemerkungen nicht so peinlich wäre,
      und ein Mann ist in Kleidungsfragen stets lächerlich, nicht wahr?
 MRS. CHEVELEY:
      O nein! Ich glaube, die Männer sind in bezug auf Kleidung die einzigen
      Autoritäten.
 LADY MARKBY: Wirklich? Nach den Hüten, die sie tragen, würde man das
      nicht meinen. Stimmt's?
 Der Butler
      tritt ein, gefolgt von dem Diener. Auf einem kleinen
      Tisch neben Lady Chiltern wird zum
      Tee gedeckt.
      
       LADY CHILTERN: Darf ich Ihnen Tee einschenken, Mrs. Cheveley?MRS. CHEVELEY: Vielen Dank.
 Der Butler
      reicht Mrs. Cheveley eine Tasse Tee auf einem Präsentierteller.
      
       LADY CHILTERN: Etwas Tee, Lady Markby?LADY MARKBY: Nein, danke, meine Liebe. Die
      Bedienten gehen hinaus. Tatsache ist, dass ich versprochen habe, für
      zehn Minuten die arme Lady Brancaster zu besuchen, die in sehr großer
      Sorge ist. Ihre Tochter, noch dazu ein durchaus wohlerzogenes Mädchen,
      hat sich doch wahrhaftig mit einem Hilfsgeistlichen in Shropshire verlobt.
      Das ist sehr traurig, wirklich sehr traurig. Ich kann diese moderne Manie
      für Hilfsgeistliche nicht begreifen. Zu meiner Zeit haben wir Mädchen
      sie natürlich im Ort umherlaufen sehen wie Kaninchen. Aber wir haben
      ihnen nie irgendwelche Beachtung geschenkt, das brauche ich wohl kaum zu
      sagen. Heutzutage soll jedoch die Gesellschaft auf dem Lande von ihnen
      geradezu durchlöchert sein. Das halte ich für im höchsten Grade
      gottvergessen. Und außerdem hat der älteste Sohn mit seinem Vater Streit
      gehabt, und es heißt, wenn sie sich im Klub begegnen, versteckt sich Lord
      Brancaster immer hinter den Finanzberichten in der >Times<.
      Allerdings glaube ich, das ist heutzutage ein ganz übliches Vorkommnis,
      und in allen Klubs in der St. James Street müssen sie Extraexemplare der
      >Times< halten, es gibt so viele Söhne, die mit ihren Vätern
      nichts zu tun haben wollen, und so viele Väter, die mit ihren Söhnen
      nicht sprechen wollen. Ich für meine Person finde, das ist sehr zu
      bedauern.
 MRS. CHEVELEY: Das finde ich auch. Väter haben heutzutage so viel von
      ihren Söhnen zu lernen.
 LADY MARKBY: Wirklich, meine Liebe? Was denn?
 MRS. CHEVELEY: Die Lebenskunst. Die einzige wirklich schöne Kunst, die
      wir in unserer Zeit hervorgebracht haben.
 LADY MARKBY schüttelt den Kopf:
      Ach! Ich fürchte, davon verstand Lord Brancaster eine Menge. Mehr als
      jemals seine arme Frau. Zu Lady
      Chiltern gewandt. Sie kennen doch Lady Brancaster, meine Liebe?
 LADY CHILTERN: Nur flüchtig. Sie hielt sich letzten Herbst in Langton
      auf, als wir dort waren.
 LADY MARKBY: Nun ja, wie alle beleibten Frauen erscheint sie wie ein
      wahres Bild der Glückseligkeit, das haben Sie zweifellos bemerkt. Aber es
      gibt viele Tragödien in ihrer Familie, abgesehen von dieser Geschichte
      mit dem Hilfsgeistlichen. Ihre einzige Schwester, Mrs. Jekyll, hatte ein höchst
      unglückliches Leben, nicht durch eigene Schuld, muss ich leider sagen. Am
      Ende war ihr Herz so gebrochen, dass sie in ein Kloster ging oder zur
      Opernbühne, ich habe vergessen, was es war. Nein, ich glaube, sie wandte
      sich der dekorativen Stickkunst zu. Ich weiß, dass sie jedes Gefühl für
      Freude im Leben verloren hatte. Steht
      auf. Und nun, Gertrude, werde ich, wenn Sie gestatten, Mrs. Cheveley
      in Ihrer Obhut lassen und sie in einer Viertelstunde abholen. Oder
      vielleicht würde es Ihnen nichts ausmachen, liebe Mrs. Cheveley, im Wagen
      zu warten, während ich bei Lady Brancaster bin. Da ich einen
      Beileidsbesuch zu machen gedenke, werde ich nicht lange bleiben.
 MRS. CHEVELEY steht auf: Es
      macht mir überhaupt nichts aus, im Wagen zu warten, vorausgesetzt, es ist
      jemand da, der nach mir schaut.
 LADY MARKBY: Nun ja, der Hilfsgeistliche soll immer um das Haus
      herumstreifen.
 MRS. CHEVELEY: Ich fürchte, auf Freunde von Mädchen bin ich nicht sehr
      erpicht.
 LADY CHILTERN steht auf: Oh, ich
      hoffe, Mrs. Cheveley bleibt noch ein wenig. Ich würde mich gern ein paar
      Minuten mit ihr unterhalten.
 MRS. CHEVELEY: Wie überaus gütig von Ihnen, Lady Chiltern! Glauben Sie
      mir, nichts würde mir größeres Vergnügen bereiten.
 LADY MARKBY:
      Ah! Zweifellos haben Sie beide viele angenehme Erinnerungen an Ihre
      Schulzeit auszutauschen. Auf Wiedersehen, liebe Gertrude! Werde ich Sie
      heute Abend bei Lady Bonar sehen? Sie hat ein wundervolles neues Genie
      entdeckt. Er beschäftigt sich mit ... überhaupt nichts, glaube ich. Das
      ist ein großer Trost, nicht wahr?
 LADY CHILTERN: Robert und ich speisen heute allein zu Hause, und ich
      glaube nicht, dass ich später noch irgendwohin gehe. Robert muss natürlich
      ins Parlament. Aber da geht es um nichts Interessantes.
 LADY MARKBY: Allein zu Hause speisen? Ist das sehr klug? Ach, ich vergaß,
      Ihr Mann ist ja eine Ausnahme. Meiner ist die allgemeine Regel, und nichts
      macht eine Frau so rasch alt wie eine Ehe mit der allgemeinen Regel.
 Lady Markby ab.
      
       MRS. CHEVELEY: Erstaunliche Frau, diese Lady Markby, nicht wahr?
      Redet mehr und sagt weniger als irgendein Mensch, der mir je begegnet ist.
      Sie ist zum öffentlichen Redner geschaffen. Viel mehr als ihr Gatte,
      obgleich er ein typischer Engländer ist, immer langweilig und meistens
      hitzig.
      
       Lady
      Chiltern gibt keine Antwort, sondern bleibt stehen. Pause.
      Dann treffen sich die Augen der
      beiden Frauen. Lady Chiltern ist ernst
      und bleich, Mrs. Cheveley scheint eher belustigt zu sein.
      
       LADY CHILTERN: Mrs. Cheveley, ich halte es für richtig, Ihnen ganz
      offen zu sagen, dass ich Sie gestern Abend nicht in mein Haus eingeladen hätte,
      wäre mir bekannt gewesen, wer Sie wirklich sind.MRS. CHEVELEY mit einem
      impertinenten Lächeln: Wahrhaftig?
 LADY CHILTERN: Ich hätte es nicht tun können.
 MRS. CHEVELEY: Ich sehe, dass Sie sich in all diesen Jahren nicht ein
      bisschen geändert haben, Gertrude.
 LADY CHILTERN: Ich ändere mich nie.
 MRS. CHEVELEY zieht die Brauen hoch:
      Dann hat Sie das Leben nichts gelehrt?
 LADY CHILTERN: Es hat mich gelehrt, dass ein Mensch, der sich einmal einer
      ehrlosen und schimpflichen Handlung schuldig gemacht hat, dessen ein
      zweites Mal schuldig werden kann, und deshalb sollte man ihn meiden.
 MRS. CHEVELEY: Würden Sie diese Regel auf jedermann anwenden?
 LADY CHILTERN: Ja, auf jedermann, ohne Ausnahme.
 MRS. CHEVELEY: Dann tun Sie mir leid, Gertrude, sehr leid.
 LADY CHILTERN: Ich bin überzeugt, Sie sehen jetzt ein, dass während
      Ihres Aufenthalts in London ein weiterer Verkehr zwischen uns aus vielen
      Gründen völlig unmöglich ist?
 MRS. CHEVELEY lehnt sich in ihrem
      Sessel zurück: Wissen Sie, Gertrude, Ihr Moralpredigen kümmert mich
      nicht ein bisschen. Moral ist einfach die Haltung, die wir gegen Leute
      einnehmen, von denen wir persönlich nicht erbaut sind. Sie mögen mich
      nicht, dessen bin ich mir völlig bewusst. Und ich habe Sie stets
      verabscheut. Und doch bin ich hergekommen, um Ihnen einen Dienst zu
      erweisen.
 LADY CHILTERN verächtlich: Wie
      den Dienst, den Sie gestern Abend meinem Mann erweisen wollten! Gott sei
      Dank habe ich ihn davor bewahrt.
 MRS. CHEVELEY springt auf: Sie
      also haben ihn veranlasst, mir diesen unverschämten Brief zu schreiben?
      Sie haben ihn veranlasst, sein Versprechen zurückzunehmen?
 LADY CHILTERN:
      Ja.
 MRS. CHEVELEY: Dann müssen Sie ihn
      veranlassen, es zu halten. Ich gebe Ihnen Zeit bis morgen Vormittag - mehr
      nicht. Wenn sich Ihr Mann bis dahin nicht feierlich verpflichtet, mich bei
      diesem großen Projekt, an dem ich interessiert bin, zu unterstützen.
 LADY CHILTERN: Dieser betrügerischen Spekulation.
 MRS. CHEVELEY: Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich habe Ihren Mann in der
      Hand, und wenn Sie klug sind, veranlassen Sie ihn, zu tun, was ich ihm
      gesagt habe.
 LADY CHILTERN geht auf sie zu:
      Sie sind unverschämt. Was hat mein Mann mit Ihnen zu schaffen? Mit einer
      Frau wie Ihnen?
 MRS. CHEVELEY mit bitterem
      Lachen: Auf dieser Welt gesellt sich gleich zu gleich. Weil Ihr Mann
      selbst betrügerisch und ehrlos ist, passen wir so gut zusammen. Zwischen
      Ihnen und ihm öffnen sich Abgründe. Er und ich sind einander näher als
      Freunde. Wir sind aneinandergekettete Feinde. Dieselbe Sünde verbindet
      uns.
 LADY CHILTERN: Wie können Sie es wagen, meinen Gatten mit sich auf eine
      Stufe zu stellen? Wie können Sie es wagen, ihm oder mir zu drohen?
      Verlassen Sie mein Haus. Sie taugen nicht, es zu betreten.
 Sir Robert
      Chiltern kommt von hinten. Er hört die letzten Worte
      seiner Frau und sieht, an wen sie
      gerichtet sind. Er wird totenbleich.
      
       MRS. CHEVELEY: Ihr Haus! Ein Haus, gekauft für den Preis der
      Ehrlosigkeit. Ein Haus, in dem alles und jedes durch Betrug bezahlt wurde.
      Dreht sich um und erblickt Sir
      Robert Chiltern. Fragen Sie ihn, woher sein Vermögen stammt! Lassen
      Sie sich von ihm erzählen, wie er einem Effektenmakler ein
      Kabinettsgeheimnis verkaufte. Erfahren Sie von ihm, welchem Umstand Sie
      Ihre Stellung verdanken.LADY CHILTERN: Das ist nicht wahr! Robert! Es ist nicht wahr!
 MRS. CHEVELEY zeigt mit
      ausgestrecktem Finger auf ihn: Sehen Sie ihn an! Kann er es leugnen?
      Wagt er es?
 SIR ROBERT CHILTERN: Gehen Sie! Gehen Sie auf der Stelle. Sie haben jetzt
      Ihr Schlimmstes getan.
 MRS. CHEVELEY: Mein Schlimmstes? Ich bin noch nicht mit Ihnen zu Ende, mit
      keinem von Ihnen. Ich gebe Ihnen beiden Zeit bis morgen Mittag. Wenn Sie
      bis dahin nicht tun, was ich von Ihnen verlange, wird die ganze Welt
      erfahren, wie Robert Chiltern begann.
 Sir Robert
      Chiltern läutet. Mason tritt ein.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: Begleiten Sie Mrs. Cheveley hinaus.
      
       Mrs.
      Cheveley zuckt zusammen, verneigt sich dann mit etwas
      übertriebener Höflichkeit vor Lady
      Chiltern, die den Gruß nicht erwidert.
      Als sie an Sir Robert Chiltern vorbeigeht, der dicht an der Tür steht, hält sie einen Augenblick inne und sieht ihm gerade
      ins Gesicht. Dann geht sie hinaus,
      gefolgt von dem Diener, der die Tür
      hinter sich schließt. Das Ehepaar bleibt allein zurück. Lady Chiltern steht wie jemand in einem schrecklichen Traum. Dann dreht
      sie sich um und blickt ihren Gatten an. Sie blickt ihn mit sonderbaren
      Augen an, als sähe sie ihn zum erstenmal.
      
       LADY CHILTERN: Du hast ein Kabinettsgeheimnis für Geld verkauft?
      Du hast dein Leben mit einem Betrug begonnen? Du hast deine Karriere auf
      Ehrlosigkeit aufgebaut? Oh, sag mir, dass es nicht wahr ist! Belüge mich!
      Belüge mich! Sag mir, dass es nicht wahr ist.SIR ROBERT CHILTERN: Was diese Frau gesagt hat, ist völlig wahr. Aber hör
      mich an, Gertrude. Du machst dir nicht klar, wie groß die Versuchung war.
      Lass mich dir die ganze Sache erzählen. Geht
      zu ihr.
 LADY CHILTERN: Komm mir nicht nahe. Rühr mich nicht an. Ich habe das
      Gefühl, als hättest du mich für immer besudelt. Oh! Welch eine Maske
      hast du in all diesen Jahren getragen! Eine abscheuliche bemalte Maske! Du
      hast dich für Geld verkauft. Oh! Ein gemeiner Dieb wäre besser. Du hast
      dich dem Höchstbietenden zum Verkauf angeboten! Du wurdest auf dem Markt
      gekauft. Die ganze Welt hast du belogen. Und doch willst du mich nicht belügen.
 SIR ROBERT CHILTERN stürzt auf sie
      zu: Gertrude! Gertrude!
 LADY CHILTERN stößt ihn mit
      ausgestreckten Händen zurück: Nein, sprich nicht! Sag nichts! Deine
      Stimme weckt furchtbare Erinnerungen - Erinnerungen an Dinge, die mich
      dazu brachten, dich zu lieben - Erinnerungen, die mir jetzt entsetzlich
      sind. Und wie habe ich dich angebetet. Du warst für mich etwas vom alltäglichen
      Leben Abgesondertes, etwas Lauteres, Edles, Redliches, ohne Makel. Die
      Welt erschien mir schöner, weil du darin lebtest, und Tugend wirklicher,
      weil es dich gab. Und jetzt - oh, wenn ich daran denke, dass ich einen
      Mann wie dich zu meinem Ideal machte! Zum Ideal meines Lebens!
 SIR ROBERT CHILTERN: Das war dein Fehler. Das war dein Irrtum. Der Irrtum,
      den alle Frauen begehen. Warum könnt ihr Frauen uns nicht samt Fehlern
      und allem lieben? Warum stellt ihr uns auf monströse Piedestale? Unser
      aller Füße sind aus Ton, die der Frauen wie die der Männer, aber wenn
      wir Männer Frauen lieben, dann lieben wir sie mit dem Wissen um ihre Schwächen,
      ihre Torheiten, ihre Unvollkommenheiten, lieben sie darum vielleicht um so
      mehr. Nicht die Vollkommenen, sondern die Unvollkommenen brauchen Liebe.
      Wenn wir durch eigene Hand oder durch die Hände anderer verwundet sind,
      sollte uns Liebe heilen - was hätte Liebe sonst überhaupt für einen
      Sinn? Alle Sünden, außer der Sünde gegen sie selbst, sollte die Liebe
      vergeben. Jedes Leben, außer dem liebelosen, sollte wahre Liebe
      verzeihen. Die Liebe eines Mannes ist so beschaffen. Sie ist umfassender,
      größer, menschlicher als die einer Frau. Frauen glauben, aus Männern
      Ideale zu machen. Was sie aus uns machen, sind nur falsche Idole. Du hast
      mich zu deinem falschen Idol gemacht, und ich besaß nicht den Mut,
      hinabzusteigen, dir meine Wunden zu weisen und dir von meinen Schwächen
      zu erzählen. Ich fürchtete, ich könnte deine Liebe verlieren, wie ich
      sie jetzt verloren habe. Und so hast du heute nacht mein Leben zugrunde
      gerichtet - ja, es zugrunde gerichtet! Was diese Frau von mir verlangte,
      war nichts im Vergleich zu dem, was sie mir bot. Sie bot mir Sicherheit,
      Ruhe, Bestand. Die Sünde meiner Jugend, die ich begraben glaubte, erhob
      sich vor mir, grässlich, abscheulich, die Hände an meiner Kehle. Ich hätte
      sie für alle Zeit töten, in ihr Grab zurückschicken, ihre Geschichte
      vernichten, das einzige Zeugnis gegen mich verbrennen können. Du hast
      mich daran gehindert. Niemand anders als du, das weißt du. Und was steht
      mir nun anderes bevor als öffentliche Schande, Sturz, furchtbare Schmach,
      der Hohn der Welt, ein einsames, entehrtes Leben und eines Tages
      vielleicht ein einsamer, entehrter Tod? Sollen doch die Frauen Männer
      nicht mehr zu Idealen machen! Sollen sie sie doch nicht auf Altäre
      stellen und sich vor ihnen verneigen, sonst vernichten sie womöglich
      anderer Leben so vollständig, wie du - du, die ich so glühend liebte -
      das meine vernichtet hast!
 Er geht aus dem Zimmer. Lady Chiltern eilt zu
      ihm, aber als sie die Tür erreicht, hat
      sich diese bereits geschlossen. Bleich vor Angst, verwirrt, hilflos,
      schwankt sie wie eine Pflanze im Wasser. Ihre ausgestreckten Hände
      scheinen in der Luft zu zittern wie Blumen im Wind.
      Dann wirft sie sich neben einem Sofa zu Boden und vergräbt ihr Gesicht. Ihr Schluchzen ist wie das Schluchzen eines Kindes.
      
       
 DRITTER AKT
      
      Bibliothek
      in Lord Gorings Haus in Curzon Street. Ein adamkeuscher Junggesellenraum.
      Rechts führt eine Tür zur Diele, links die
      Tür zum
      Rauchzimmer. Eine Flügeltür im Hintergrund öffnet sich zum Salon. Das Feuer ist angezündet. Phipps, der Butler, ordnet
      Zeitungen auf dem Schreibtisch. Phipps zeichnet sich durch seine
      Ungerührtheit aus. Enthusiasten haben ihn den idealen Butler genannt.
      Die Sphinx ist nicht so wenig
      mitteilsam. Er ist eine Maske mit Manieren. Von seinem geistigen Wesen oder seinem Gefühlsleben
      ist der Geschichte nichts bekannt. Er repräsentiert die Macht
      der Form. Lord Goring tritt auf, im Abendanzug, mit Blume
      im Knopfloch. Er trägt Zylinder und Inverness-Cape, weiße
      Handschuhe und einen Louis-Seize-Stock. Die ganzen köstlichen
      Modetorheiten sind ihm geläufig. Man merkt, dass er in unmittelbarer
      Beziehung zur modernen Lebensart steht, sie in der Tat bewirkt
      und daher beherrscht. Er ist der erste gutegekleidete Philosoph in der
      Geschichte des Denkvermögens.
      
       LORD GORING: Haben Sie mir die zweite Blume fürs Knopfloch
      beschafft, Phipps?PHIPPS: Ja, Mylord. Nimmt ihm Hut,
      Stock und Cape ab und reicht ihm
      auf einem Präsentierteller die neue Knopflochblume.
 LORD GORING: Eine ziemlich ausgefallene Sache, Phipps. Ich bin zur
      Zeit in London der einzige Mann von zumindest einiger Bedeutung, der eine
      Knopflochblume trägt.
 PHIPPS: Ja, Mylord. Ich habe es bemerkt.
 LORD GORING entfernt die alte
      Knopflochblume: Verstehen Sie, Phipps, Mode ist, was man selbst trägt.
      Unmodern ist das, was die anderen Leute tragen.
 PHIPPS: Ja, Mylord.
 LORD GORING: Genauso wie Pöbelhaftigkeit einfach das Benehmen anderer
      Leute ist.
 PHIPPS: Ja, Mylord.
 LORD GORING steckt die neue Blume
      ins Knopfloch: Und Falschheit die Treue anderer Leute.
 PHIPPS: Ja, Mylord.
 LORD GORING: Andere Leute sind einfach schrecklich. Die einzig mögliche
      Gesellschaft hat man an sich selbst.
 PHIPPS: Ja, Mylord.
 LORD GORING: Sich selbst zu lieben ist der Beginn eines lebenslänglichen
      Romans, Phipps.
 PHIPPS: Ja, Mylord.
 LORD GORING betrachtet sich im
      Spiegel: Ich glaube nicht, dass mir diese Knopflochblume so recht gefällt,
      Phipps. Macht mich etwas zu alt. Sehe damit fast aus wie in der Blüte
      meiner Jahre, wie, Phipps?
 PHIPPS: Ich bemerke an Euer Lordschaft Äußerem keine Veränderung.
 LORD GORING: Wirklich nicht, Phipps?
 PHIPPS: Nein, Mylord.
 LORD GORING: Ich bin da nicht ganz sicher. Für die Zukunft an
      Donnerstagabenden eine etwas trivialere Blume fürs Knopfloch, Phipps.
 PHIPPS: Ich werde mit der Blumenhändlerin sprechen, Mylord. Sie hat kürzlich
      einen Verlust in der Familie gehabt, was möglicherweise den Mangel an
      Trivialität erklärt, über die Euer Lordschaft sich bei der
      Knopflochblume beklagen.
 LORD GORING: Merkwürdige Sache bei den niederen Schichten in England - ständig
      verlieren sie ihre Verwandten.
 PHIPPS: Ja, Mylord! In der Hinsicht haben sie sehr großes Glück.
 LORD GORING dreht sich um und sieht
      ihn an, Phipps bleibt ungerührt: Hm. Briefe, Phipps?
 PHIPPS: Drei, Mylord. Reicht ihm die
      Briefe auf dem Präsentierteller.
 LORD GORING nimmt die Briefe: Meinen
      Wagen in zwanzig Minuten.
 PHIPPS: Ja, Mylord. Geht zur Tür.
 LORD GORING hält einen Brief in
      rosa Umschlag hoch: Hm, Phipps, wann kam dieser Brief?
 PHIPPS: Er wurde durch Boten abgegeben, als Euer Lordschaft just auf dem
      Weg zum Klub waren.
 LORD GORING: Das genügt. Phipps ab.
      Lady Chilterns Handschrift auf Lady Chilterns rosa Briefpapier. Das
      ist doch merkwürdig. Meiner Ansicht nach müsste Robert schreiben. Möchte
      wissen, was mir Lady Chiltern zu sagen hat? Setzt
      sich an seinen Schreibtisch, öffnet
      den Brief und liest ihn. >Ich brauche Dich. Ich vertraue Dir. Ich
      komme zu Dir. Gertrude.< Legt den
      Brief mit verwirrtem Ausdruck
      auf den Tisch. Dann nimmt er ihn wieder auf
      und liest ihn langsam noch einmal. >Ich brauche Dich. Ich vertraue
      Dir. Ich komme zu Dir.< Also hat sie alles entdeckt. Die arme Frau! Die
      arme Frau! Zieht seine Uhr und
      blickt darauf. Aber welche Zeit für einen Besuch! Zehn Uhr! Ich werde
      darauf verzichten müssen, zu den Berkshires zu gehen. Allerdings, es ist
      immer angenehm, erwartet zu werden und nicht zu kommen. Im Bachelor-Klub
      erwarten sie mich nicht, deshalb werde ich sicherlich dorthin gehen. Nun
      ja, ich werde sie dazu bringen, dass sie ihrem Mann beisteht. Das ist das
      einzige, was eine Frau zu tun hat. Das wachsende Gefühl für Moral bei
      Frauen macht Ehen zu einer so hoffnungslosen, einseitigen Einrichtung.
      Zehn Uhr! Sie sollte bald hier sein. Ich muss Phipps sagen, dass ich für
      niemand anders zu Hause bin. Geht zur Klingel Phipps tritt
      ein.
 PHIPPS: Lord Caversham.
 LORD GORING: Oh, warum tauchen nur Väter immer zur unrechten Zeit auf.
      Vermutlich ein merkwürdiges Versehen der Natur. Lord Caversham tritt ein. Entzückt, dich zu sehen, mein lieber
      Vater. Geht ihm entgegen.
 LORD CAVFRSHAM: Nimm mir den Mantel ab.
 LORD GORING: Lohnt das, Vater?
 LORD CAVERSHAM: Natürlich lohnt es. Welches ist der bequemste Sessel?
 LORD GORING: Dieser, Vater. Es ist der Sessel, den ich selbst benutze,
      wenn ich Besuch habe.
 LORD CAVERSHAM:
      Danke. Hoffentlich zieht es hier nicht?
 LORD GORING: Nein, Vater.
 LORD CAVERSHAM setzt sich: Freut
      mich zu hören. Kann Zugluft nicht vertragen. Habe zu Hause keine Zugluft.
 LORD GORING: Nur ziemlich viel Wind, Vater.
 LORD CAVERSHAM: Wie? Wie? Verstehe nicht, was du meinst. Möchte ein
      ernsthaftes Gespräch mit dir führen.
 LORD GORING: Mein lieber Vater! Zu dieser Stunde?
 LORD CAVERSHAM: Es ist erst zehn Uhr. Was hast du gegen die Stunde
      einzuwenden? Ich halte die Stunde für vortrefflich.
 LORD GORING: Nun, Vater, die Wahrheit ist, heute ist nicht mein Tag für
      ernsthafte Gespräche. Es tut mir sehr leid, aber es ist nicht mein Tag.
 LORD CAVERSHAM: Was soll das heißen?
 LORD GORING: In der Saison, Vater, führe ich ernsthafte Gespräche nur am
      ersten Dienstag jeden Monats, von vier bis sieben.
 LORD CAVERSHAM: Dann lass es also Dienstag sein, lass es Dienstag sein.
 LORD GORING: Aber es ist nach sieben, Vater, und mein Arzt sagt, nach
      sieben darf ich keinerlei ernsthaftes Gespräch führen. Ich rede sonst im
      Schlaf.
 LORD CAVERSHAM: Im Schlaf reden? Was macht das schon aus? Du bist nicht
      verheiratet.
 LORD GORING: Nein, Vater, ich bin nicht verheiratet.
 LORD CAVERSHAM:
      Hm! Deswegen bin ich gerade gekommen, um mit dir darüber zu sprechen.
      Du musst heiraten, und zwar sofort. Als ich so alt war wie du, mein Sohn,
      war ich seit drei Monaten ein untröstlicher Witwer und bewarb mich
      bereits um deine bewundernswerte Mutter. Verdammt noch mal, es ist deine
      Pflicht zu heiraten. Du kannst nicht immer nur zum Vergnügen leben. Jeder
      Mann von Stand ist heutzutage verheiratet. Junggesellen sind nicht mehr
      modern. Sie sind ein verfallenes Lotterielos. Zuviel ist über sie
      bekannt. Du musst eine Frau haben, mein Herr Sohn. Sieh dir an, wozu es
      dein Freund Robert Chiltern durch Rechtschaffenheit, angestrengte Arbeit
      und eine vernünftige Ehe mit einer tüchtigen Frau gebracht hat. Warum
      machst du's ihm nicht nach? Warum nimmst du ihn dir nicht zum Vorbild?
 LORD GORING: Ich glaube, ich werde es tun, Vater.
 LORD CAVERSHAM: Ich wünschte, du tätest es. Dann wäre ich glücklich.
      jetzt mache ich deinetwegen deiner Mutter das Leben schwer. Du bist
      herzlos, einfach herzlos.
 LORD GORING: Das will ich nicht hoffen, Vater.
 LORD CAVERSHAM: Und es ist hohe Zeit, dass du heiratest. Du bist
      vierunddreißig Jahre alt, mein Herr Sohn.
 LORD GORING: Ja, Vater, aber ich gebe nur zweiunddreißig zu - einunddreißigeinhalb,
      wenn ich eine wirklich passende Blume in Knopfloch habe. Diese hier ist
      nicht ... trivial genug.
 LORD GAVERSHAM: Ich sage dir, du bist vierunddreißig. Und außerdem zieht
      es in deinem Zimmer, was dein Verhalten noch ärger macht. Warum hast du
      mir erzählt, hier sei keine Zugluft, ich spüre Zugluft, ich spüre sie
      deutlich.
 LORD GORING: Ich auch, Vater. Es zieht fürchterlich. Ich werde dich
      morgen besuchen, Vater. Dann können wir alles bereden, was du willst. Du
      erlaubst, dass ich dir in deinen Mantel helfe, Vater.
 LORD CAVERSHAM: Nein, ich bin heute Abend in einer ganz bestimmten Absicht
      hergekommen, und die werde ich ausführen, wie sehr es auch meiner
      Gesundheit oder deiner schaden mag. Leg meinen Mantel hin.
 LORD GORING: Gewiss, Vater. Aber lass uns in ein anderes Zimmer gehn. Läutet.
      Hier zieht es fürchterlich. Phipps
      tritt ein. Phipps, brennt im Rauchzimmer ein tüchtiges Feuer?
 PHIPPS: Ja, Mylord.
 LORD GORING: Komm dorthin, Vater. Dein Niesen ist ja herzzerreißend.
 LORD CAVERSHAM: Ich nehme an, ich habe ein Recht, zu niesen, wenn mir
      danach ist?
 LORD GORING entschuldigend: Durchaus,
      Vater. Ich habe nur Mitgefühl zum Ausdruck gebracht.
 LORD CAVERSHAM: Oh, das verdammte Mitgefühl. Von der Sache gibt es
      heutzutage viel zuviel.
 LORD GORING: Ich bin völlig deiner Ansicht, Vater. Gäbe es weniger
      Mitgefühl auf der Welt, dann gäbe es auch weniger Kummer auf der Welt.
 LORD CAVERSHAM geht zum Rauchzimmer:
      Das ist ein Paradoxon, Herr, ich hasse Paradoxa.
 LORD GORINC: Ich auch, Vater. Jeder, den man heutzutage trifft, ist ein
      Paradoxon. Das ist sehr verdrießlich. Es macht die Gesellschaft so
      durchsichtig.
 LORD CAVERSHAM dreht sich um und
      blickt unter seinen buschigen Brauen hervor seinen Sohn an: Verstehst
      du eigentlich immer was du sagst?
 LORD GORING nach kurzem Zögern: Ja, Vater,
      wenn ich aufmerksam zuhöre.
 LORD CAVERSHAM entrüstet: Wenn
      du aufmerksam zuhörst! ... Eingebildeter junger Laffe!
 Geht brummelnd in das Rauchzimmer.
      Phipps tritt ein.
      
       LORD GORING: Phipps, eine Dame wird mich heute Abend in einer
      besonderen Angelegenheit aufsuchen. Führen Sie sie in den Salon, wenn sie
      kommt. Sie verstehen?PHIPPS: Ja, Mylord.
 LORD GORING: Es ist eine Sache von schwerwiegender Bedeutung, Phipps.
 PHIPPS: Ich verstehe, Mylord.
 LORD GORING: Niemand anders darf eingelassen werden, unter keinen Umständen.
 PHIPPS: Ich verstehe, Mylord.
 Es läutet.
      
       LORD GORING: Ah! Das ist wahrscheinlich die Dame. Ich werde sie
      selbst empfangen.
      
       Gerade als
      er zur Tür geht, kommt Lord Caversham aus dem
      Rauchzimmer.
      
       LORD CAVERSHAM: Nun? Muss ich dir erst wieder meine Aufwartung
      machen?LORD GORING erheblich verwirrt: Nur
      einen Augenblick, Vater. Entschuldige bitte. Lord Caversham geht zurück. Denken Sie an meine Anweisungen, Phipps
      - in jenes Zimmer.
 PHIPPS: Ja, Mylord.
 Lord Goring
      geht in das Rauchzimmer. Der Diener Harold
      führt Mis. Cheveley herein. Wie
      eine Lamie ist sie in Grün und Silber.
      Sie trägt einen Mantel aus schwarzem Atlas, der mit stumpfer
      Rosenblatt-Seide gefüttert ist.
      
       HAROLD: Ihren Namen, Madam?MRS. CHEVELEY zu Phipps, der auf sie zukommt: Ist Lord Goring nicht da? Mir wurde
      gesagt, er sei zu Hause.
 PHIPPS: Seine Lordschaft ist augenblicklich mit Lord Caversham beschäftigt,
      Madam.
 Wirft einen
      kalten, starren Blick auf Harold, der sich sofort zurückzieht.
      
       MRS. CHEVELEY bei sich: Welche
      Sohnesliebe!PHIPPS: Seine Lordschaft trug mir auf, Sie zu bitten, Madam, Sie möchten
      so freundlich sein und im Salon auf ihn warten.
 MRS. CHEVELEY mit einem Ausdruck der
      Überraschung: Lord Goring erwartet mich?
 PHIPPS: Ja, Madam.
 MRS. CHEVELEY: Sind Sie ganz sicher?
 PHIPPS: Seine Lordschaft trug mir auf, wenn eine Dame käme, solle ich sie
      bitten, im Salon zu warten. Geht zur
      Tür des Salons und öffnet sie.
      Seiner Lordschaft Befehle über den Gegenstand waren sehr präzis.
 MRS. CHEVELEY bei sich: Wie
      aufmerksam von ihm! Das Unerwartete zu erwarten beweist einen durchaus
      modernen Intellekt. Geht zu dem Salon und blickt
      hinein. Puh! Wie düster der Salon eines Junggesellen stets aussieht!
      Ich werde all das ändern müssen. Phipps
      bringt die Lampe vom Schreibtisch. Nein,
      die Lampe mag ich nicht. Sie ist viel zu hell. Zünden Sie ein paar Kerzen
      an.
 PHIPPS stellt die Lampe zurück: Gewiss,
      Madam.
 MRS. CHEVELEY: Ich hoffe, die Kerzen haben recht kleidsame Schirme.
 PHIPPS: Wir hörten bis jetzt noch keine Klagen darüber, Madam. Geht
      in den Salon und beginnt die Kerzen anzuzünden.
 MRS. CHEVELEY bei sich: Ich
      möchte wissen, welche Frau er für heute nacht erwartet. Es wird köstlich
      sein, ihn zu ertappen. Männer machen immer ein so dummes Gesicht, wenn
      sie ertappt werden. Und sie werden stets ertappt. Sieht
      sich im Zimmer um und nähert sich dem Schreibtisch. Welch
      hochinteressantes Zimmer! Welch hochinteressantes Gemälde! Möchte
      wissen, wie seine Korrespondenz beschaffen ist. Nimmt
      Briefe auf. Oh, was für eine uninteressante Korrespondenz! Rechnungen
      und Einladungskarten, Schulden und Witwen! Wer in aller Welt schreibt ihm
      auf rosa Papier? Wie albern, auf rosa Papier zu schreiben! Es sieht aus
      wie der Anfang eines Romans der Mittelklasse. Ein Roman sollte nie mit Gefühl
      beginnen. Er sollte mit Auskundschaften beginnen und mit einer Versorgung
      enden. Legt den Brief hin und nimmt ihn dann wieder auf. Diese Handschrift
      kenne ich. Es ist Gertrude Chilterns. Ich erinnere mich genau an sie. Die
      zehn Gebote in jedem Federstrich und das Sittengesetz über die ganze
      Seite. Möchte wissen, worüber ihm Gertrude schreibt? Vermutlich etwas
      Abscheuliches über mich. Wie ich diese Frau hasse! Liest
      den Brief. >Ich brauche Dich. Ich vertraue Dir. Ich komme zu Dir.
      Gertrude.< - >Ich brauche Dich. Ich vertraue Dir. Ich komme zu
      Dir.<
 Ein
      triumphierender Ausdruck breitet sich über ihr Gesicht. Sie
      ist im Begriff, den Brief zu
      stehlen, als Phipps erscheint.
      
       PHIPPS: Die Kerzen im Salon sind, wie Sie wünschten, angezündet,
      Madam.MRS. CHEVELEY:
      Danke. Steht hastig
      auf und schiebt den Brief unter eine große Schreibmappe mit silbernem Deckel, die auf dem Tisch
      liegt.
 PHIPPS: Ich hoffe zuversichtlich, die Schirme werden nach ihrem
      Geschmack sein, Madam. Es sind die kleidsamsten, die wir besitzen. Es sind
      die gleichen, wie Seine Lordschaft selbst sie benutzt, wenn er sich zum
      Dinner ankleidet.
 MRS. CHEVELEY mit einem Lächeln: Dann
      bin ich überzeugt, dass sie völlig angemessen sind.
 PHIPPS ernst: Danke, Madam.
 Mrs.
      Cheveley geht in den Salon. Phipps schließt die Tür und
      zieht sich zurück. Darauf öffnet
      sich langsam die Tür, und Mrs. Cheveley
      kommt heraus und schleicht verstohlen zum Schreibtisch. Plötzlich
      sind Stimmen aus dem Rauchzimmer zu vernehmen.
      Mrs. Cheveley erblasst und bleibt stehen. Die Stimmen werden lauter, sie
      beißt sich auf die Lippen und geht zurück in den Salon. Lord
      Goring und Lord Caversham treten ein.
      
       LORD GORING macht ihm ernste
      Vorstellungen: Mein lieber Vater, wenn ich schon heiraten soll, wirst
      du mir doch sicherlich gestatten, Zeit, Ort und Person selbst zu wählen.
      Vor allem die Person.LORD CAVERSHAM eigensinnig: Das
      ist eine Angelegenheit für mich. Du würdest wahrscheinlich eine sehr
      schlechte Wahl treffen. Ich sollte dabei befragt werden, nicht du. Vermögen
      steht auf dem Spiel. Es geht nicht um Liebe. Liebe kommt später im
      Eheleben.
 LORD GORING: Ja. Im Eheleben kommt die Liebe, wenn die Leute einander gründlich
      missfallen, nicht wahr, Vater? Hilft
      Lord Caversham in den Mantel.
 LORD CAVERSHAM: Gewiss. Ich meine natürlich, gewiss nicht. Du redest
      heute Abend sehr albern. Was ich sage, ist, dass die Ehe eine Sache des
      gesunden Menschenverstands ist.
 LORD GORING: Aber Frauen, die gesunden Menschenverstand besitzen, sind
      merkwürdigerweise so hässlich, stimmt's Vater? Natürlich sprechen ich
      nur vom Hörensagen.
 LORD CAVERSHAM: Keine Frau, ob hässlich oder hübsch, besitzt überhaupt
      gesunden Menschenverstand. Gesunder Menschenverstand ist der Vorzug
      unseres Geschlechts.
 LORD GORING: Ganz recht. Und wir Männer sind so selbstaufopfernd, dass
      wir ihn nie gebrauchen, oder, Vater?
 LORD GAVERSHAM: Ich gebrauche ihn, mein Herr Sohn. Ich gebrauche nichts
      anderes.
 LORD GORING: So erzählt mir meine Mutter.
 LORD CAVERSHAM: Das ist das Geheimnis ihres Glücks. Du bist sehr herzlos,
      sehr herzlos.
 LORD GORING: Ich hoffe, nicht, Vater.
 Begleitet
      ihn hinaus. Kehrt einen Augenblick später, ziemlich
      fassungslos, mit Sir Robert Chiltern
      zurück.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: Mein lieber Arthur, welch glücklicher Zufall,
      dich an der Haustür zu treffen! Dein Diener hatte mir gerade gesagt, du
      seist nicht zu Hause. Wie merkwürdig!LORD GORING: Tatsache ist, dass ich heute Abend schrecklich beschäftigt
      bin, Robert, und Anweisung gab, dass ich für niemand zu Hause sei. Selbst
      mein Vater wurde verhältnismäßig kühl empfangen. Er hat sich die ganze
      Zeit über Zugluft beklagt.
 SIR ROBERT
      CHILTERN: Ach! Für mich musst du zu Hause sein,
      Arthur. Du bist mein bester Freund. Vielleicht wirst du morgen mein
      einziger Freund sein. Meine Frau hat alles entdeckt.
 LORD GORING:
      Ah! Das habe ich geahnt!
 SIR ROBERT CHILTERN sieht ihn an:
      Wirklich? Woher?
 LORO GORING nach einigem Zögern: Oh,
      nur nach irgend etwas im Ausdruck deines Gesichts, als du hereinkamst. Wer
      hat es ihr erzählt?
 SIR ROBERT
      CHILTERN: Mrs. Cheveley selbst. Und die Frau, die
      ich liebe, weiß nun, dass ich meine Karriere mit einer Handlung erbärmlichen
      Betrugs begann, dass ich mein Leben auf Augenblicke der Schande gründete
      - dass ich wie ein gemeiner Höker das Geheimnis verkaufte, das mir als
      einem Mann von Ehre anvertraut war. Ich danke dem Himmel, dass der arme
      Lord Radley starb, ohne zu erfahren, dass ich ihn hinterging. Ich wünschte
      zu Gott, ich wäre gestorben, ehe ich so grauenhaft versucht wurde oder so
      tief sank. Vergräbt das Gesicht in den
      Händen.
 LORD GORING nach einer Pause: Du
      hast als Antwort auf dein Telegramm noch nichts aus Wien gehört?
 SIR ROBERT CHILTERN blickt hoch: Doch,
      heute Abend um acht erhielt ich ein Telegramm von dem Ersten Sekretär.
 LORD GORING: Und?
 SIR ROBERT CHILTERN: Nichts ist mit Sicherheit gegen sie bekannt. Im
      Gegenteil, sie nimmt eine ziemlich hohe Stellung in der Gesellschaft ein.
      Es ist so etwas wie ein offenes Geheimnis, dass Baron Arnheim ihr den größeren
      Teil seines ungeheuren Vermögens hinterlassen hat. Darüber hinaus kann
      ich nichts erfahren.
 LORD GORING: Dann entpuppt sie sich also nicht als eine Spionin?
 SIR ROBERT CHILTERN: Oh! Spione sind heutzutage von keinem Nutzen. Mit dem
      Beruf ist es vorbei. Ihre Arbeit tun statt dessen die Zeitungen.
 LORD GORING: Und verteufelt gut tun sie sie.
 SIR ROBERT CHILTERN: Arthur, ich bin ausgedörrt vor Durst. Darf ich nach
      etwas läuten? Ein wenig Hochheimer und Selters?
 LORD GORING: Natürlich. Lass mich. Läutet.
 SIR ROBERT CHILTERN: Danke! Ich weiß nicht, was ich tun soll, Arthur,
      ich weiß nicht, was ich tun soll, und du bist mein einziger Freund. Und
      was für ein Freund du bist - der eine Freund, dem ich vertrauen kann. Ich
      kann dir doch völlig vertrauen, nicht wahr?
 Phipps tritt
      ein.
      
       LORD GORING: Natürlich, mein lieber Robert. Zu Phipps. Bringen Sie Hochheimer und Selters.PHIPPS: Sehr wohl, Mylord.
 LORD GORING: Und, Phipps!
 PHIPPS: Ja, Mylord?
 LORD GORING: Willst du mich einen Augenblick entschuldigen, Robert? Ich möchte
      meinem Diener ein paar Anweisungen geben.
 SIR ROBERT CHILTERN: Gewiss.
 LORD GORING: Wenn die Dame kommt, sagen Sie ihr, dass ich heute Abend
      nicht zu Hause erwartet werde. Sagen Sie ihr, ich sei plötzlich aus der
      Stadt abberufen worden. Sie verstehen?
 PHIPPS: Die Dame befindet sich in jenem Raum, Mylord. Sie sagten mir, ich
      solle sie in den Salon führen, Mylord.
 LORD GORING: Daran haben Sie völlig recht getan. Phipps geht ab. Jetzt
      sitze ich in der Patsche. Nein, ich glaube, ich werde durchkommen. Ich
      werde ihr durch die Tür eine Lektion erteilen. Trotzdem ein missliches
      Unternehmen.
 SIR ROBERT CHILTERN: Arthur, sag mir, was ich tun soll. Es kommt mir vor,
      als sei mein Leben um mich zerfallen. Ich bin ein Schiff ohne Ruder in
      einer Nacht ohne Sterne.
 LORD GORING: Robert, du liebst deine Frau, nicht wahr?
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich liebe sie mehr als irgend etwas auf der Welt. Ich
      pflegte Ehrgeiz für das Größte zu halten. Das stimmt nicht. Liebe ist
      das Größte auf der Welt. Es gibt nichts als Liebe, und ich liebe sie.
      Aber ich bin in ihren Augen entwürdigt. Wertlos bin ich in ihren Augen.
      Ein weiter Abgrund klafft jetzt zwischen uns. Sie ist mir auf die Spur
      gekommen, Arthur, sie ist mir auf die Spur gekommen.
 LORD GORING: Hat sie nie in ihrem Leben etwas Törichtes etwas
      Unbesonnenes - getan, dass sie dein Vergehen nicht verzeihen sollte?
 SIR ROBERT CHILTERN: Meine Frau? Niemals! Sie kennt weder Schwäche noch
      Versuchung. Ich bin aus Ton wie andere Menschen. Sie steht für sich wie
      alle tugendhaften Frauen - mitleidslos in ihrer Vollkommenheit - kalt und
      streng und ohne Erbarmen. Aber ich liebe sie, Arthur. Wir sind kinderlos,
      und ich habe sonst niemanden, den ich lieben kann, niemanden, der mich
      liebte. Hätte uns Gott Kinder geschenkt, wäre sie vielleicht gütiger
      gegen mich gewesen. Aber Gott hat unser Haus einsam bleiben lassen. Und
      sie hat mir das Herz zerschnitten. Reden wir nicht davon. Ich war heute
      Abend roh gegen sie. Aber ich nehme an, wenn Sünder zu Heiligen sprechen,
      sind sie immer roh. Ich habe ihr Dinge gesagt, die von meiner Seite, von
      meinem Standpunkt, vom Standpunkt der Männer aus fürchterlich richtig
      waren. Aber reden wir nicht davon.
 LORD GORING: Deine Frau wird dir verzeihen. Vielleicht verzeiht sie dir
      schon in diesem Augenblick. Sie liebt dich, Robert. Warum sollte sie dir
      nicht verzeihen?
 SIR ROBERT CHILTERN: Gott gebe es! Gott gebe es! Vergräbt das Gesicht in den Händen.
      Aber da ist noch etwas, was ich dir sagen muss, Arthur.
 Phipps kommt
      mit Getränken.
      
       PHIPPS bedient Sir Robert
      Chiltern mit Rheinwein und Selters: Hochheimer und Selters, Sir.SIR ROBERT CHILTERN: Danke.
 LORD GORING: Hast du deinen Wagen unten, Robert?
 SIR ROBERT CHILTERN: Nein, ich bin vom Klub zu Fuß gekommen.
 LORD GORING: Sir Robert wird meinen Wagen nehmen, Phipps.
 PHIPPS: Sehr wohl, Mylord. Geht ab.
 LORD GORING: Robert, hast du etwas dagegen, wenn ich dich fortschicke?
 SIR ROBERT CHILTERN: Du musst mich noch fünf Minuten bleiben lassen,
      Arthur. Ich habe einen Entschluss gefasst, was ich heute nacht im
      Parlament tun werde. Die Debatte über den argentinischen Kanal soll um
      elf beginnen. Im Salon
      fällt ein Stuhl um. Was ist
      das?
 LORD GORING: Nichts.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich habe im Nebenzimmer einen Stuhl fallen hören.
      jemand hat gelauscht.
 LORD GORING: Nein, nein, da ist niemand.
 SIR ROBERT CHILTERN: Doch, da ist jemand. Es brennt Licht in dem Zimmer,
      und die Tür ist nur angelehnt. jemand hat jedes Geheimnis meines Lebens
      belauscht. Arthur, was bedeutet das?
 LORD GORING: Du bist erregt, Robert, entnervt. Ich sage dir, es ist
      niemand in dem Zimmer. Setz dich, Robert.
 SIR ROBERT CHILTERN: Gibst du mir dein Wort, dass dort niemand ist?
 LORD GORING: Ja.
 SIR ROBERT CHILTERN: Dein Ehrenwort? Setzt
      sich.
 LORD GORING: Ja.
 SIR ROBERT CHILTERN steht auf: Arthur,
      lass mich selbst nachsehen.
 LORD GORING: Nein, nein.
 SIR ROBERT CHILTERN: Wenn dort niemand ist, warum sollte ich dann nicht in
      das Zimmer hineinschauen? Arthur, du musst mich in das Zimmer gehen
      lassen, damit ich mich selbst überzeuge. Lass mich untersuchen, ob kein
      Horcher meines Lebens Geheimnis vernommen hat. Arthur, du kannst dir nicht
      vorstellen, was ich durchmache.
 LORD GORING: Robert, das muss aufhören. Ich habe dir gesagt, dass niemand
      in dem Zimmer ist - das genügt.
 SIR ROBERT CHILTERN stürzt zur
      Salontür: Es genügt nicht. Ich bestehe darauf, in dieses Zimmer zu
      gehen. Du hast mir gesagt, da sei niemand, welchen Grund kannst du also
      haben, es mir zu verweigern?
 LORD GORING: Um Gottes willen tu's nicht! Es ist jemand drin, den du nicht
      sehen darfst.
 SIR ROBERT
      CHILTERN: Ah! Dacht ich's doch!
 LORD GORING: Ich verbiete dir, das Zimmer zu betreten.
 SIR ROBERT CHILTERN: Zurück. Mein Leben steht auf dem Spiel. Und es ist
      mir einerlei, wer da ist. Ich will wissen, wem ich mein Geheimnis und
      meine Schande erzählt habe. Tritt
      in den Salon.
 LORD GORING: Du lieber Himmel! Seine eigene Frau!
 Sir Robert
      Chiltern kommt mit einem Ausdruck der Verachtung
      und Wut im Gesicht zurück.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: Welche Erklärung hast du mir für die
      Anwesenheit dieser Frau hier zu geben?LORD GORING: Robert, ich schwöre dir bei meiner Ehre, dass die Dame
      makellos ist und sich keines Verstoßes gegen dich schuldig gemacht hat.
 SIR ROBERT CHILTERN: Sie ist ein gemeines, infames Geschöpf!
 LORD GORING: Das darfst du nicht sagen, Robert. Um deinetwillen kam sie
      her. Dich zu retten, kam sie her. Sie liebt dich, und sonst niemand.
 SIR ROBERT CHILTERN: Du bist wahnsinnig. Was habe ich mit euerm
      Liebeshandel zu schaffen? Lass sie deine Geliebte bleiben! Ihr passt gut
      zusammen. Sie, verderbt und schändlich und du, falsch als Freund und
      sogar hinterlistig als Feind.
 LORD GORING: Das ist nicht wahr, Robert. Beim Himmel, das ist nicht wahr.
      In ihrer und deiner Gegenwart werde ich alles erklären.
 SIR ROBERT CHILTERN: Lassen Sie mich vorbei, Sir. Sie haben genug bei
      Ihrem Ehrenwort gelogen.
 Sir Robert
      Chiltern geht hinaus. Lord Goring eilt zu der Salontür, als Mrs. Cheveley,
      strahlend und höchst belustigt, herauskommt.
      
       MRS. CHEVELEY mit spöttischer
      Verneigung: Guten Abend, Lord Goring!LORD GORING:
      Mrs. Cheveley! Du lieber Himmel! ... Darf ich fragen,
      was Sie in meinem Salon getan haben?
 MRS. CHEVELEY: Nur gelauscht. Ich habe eine ausgemachte Leidenschaft,
      durch Schlüssellöcher zu lauschen. Man hört dabei stets so erstaunliche
      Dinge.
 LORD GORING: Heißt das nicht fast, die Vorsehung versuchen?
 MRS. CHEVELEY:
      Oh! Gewiss kann die Vorsehung jetzt der Versuchung widerstehen. Bedeutet
      ihm, ihr den Mantel abzunehmen, was
      er tut.
 LORD GORING: Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Ich werde Ihnen
      einen guten Rat geben.
 MRS. CHEVELEY:
      O bitte nicht! Man sollte einer Frau nie etwas geben,
      was sie am Abend nicht tragen kann.
 LORD GORING: Wie ich sehe, sind Sie noch genauso eigensinnig wie früher.
 MRS. CHEVELEY:
      Weit mehr! Ich habe mich sehr verbessert. Ich habe
      mehr Erfahrungen gemacht.
 LORD GORING: Zuviel Erfahrung ist etwas Gefährliches. Bitte nehmen Sie
      eine Zigarette. Die Hälfte aller hübschen Frauen in London raucht
      Zigaretten. Ich persönlich ziehe die andere Hälfte vor.
 MRS. CHEVELEY:
      Danke. Ich rauche nie. Meinem Schneider würde es nicht gefallen, und die
      erste Pflicht im Leben einer Frau ist die gegen ihren Schneider. Welches
      die zweite Pflicht ist, hat bisher noch niemand entdeckt.
 LORD GORING: Sie sind hergekommen, um mir Robert Chilterns Brief zu
      verkaufen, nicht wahr?
 MRS. CHEVELEY: Ihnen den Brief zu gewissen Bedingungen anzubieten! Wie
      haben Sie das erraten?
 LORD GORING: Weil Sie die Sache nicht erwähnten. Haben Sie ihn
      mitgebracht?
 MRS. CHEVELEY setzt sich: O
      nein! Ein gutgeschneidertes Kleid hat keine Taschen.
 LORD GORING: Welchen Preis verlangen Sie dafür?
 MPS. CHEVELEY: Wie abgeschmackt ihr Engländer seid! Die Engländer
      glauben, ein Scheckbuch könne jedes Problem im Leben lösen. Nun, mein
      lieber Arthur, ich besitze sehr viel mehr Geld als Sie und durchaus
      soviel, wie Robert Chiltern in die Hände bekommen hat. Nicht Geld ist es,
      was ich wünsche.
 LORD GORING: Was wünschen Sie dann, Mrs. Cheveley?
 MRS. CHEVELEY: Warum nennen Sie mich nicht Laura?
 LORD GORING: Ich mag den Namen nicht.
 MRS CHEVELEY: Einst vergötterten Sie ihn.
 LORD GORING: Ja, eben darum.
 Mrs.
      Cheveley winkt ihm, sich neben sie zu setzen. Er lächelt
      und tut es.
      
       MRS. CHEVELEY: Arthur, Sie haben mich einst geliebt.LORD GORING:
      Ja.
 MRS. CHEVELEY: Und Sie baten mich, Ihre Frau
      zu werden.
 LORD GORING: Das war die natürliche Folge meiner Liebe zu Ihnen.
 MRS. CHEVELEY: Und Sie gaben mir den Abschied, weil Sie sahen, oder es
      zumindest behaupteten, wie der arme alte Lord Mortlake im Wintergarten von
      Tenby einen heftigen Flirt mit mir versuchte.
 LORD GORING: Ich habe den Eindruck, mein Anwalt ordnete die Sache mit
      Ihnen zu gewissen Bedingungen..., von Ihnen selbst diktierten.
 MRS. CHEVELEY: Zu der Zeit war ich arm. Sie waren reich.
 LORD GORING: Ganz recht. Deshalb gaben Sie vor, mich zu lieben.
 MRS. CHEVELEY zuckt die Achseln: Der
      arme alte Lord Mortlake, der nur zwei Gesprächsthemen hatte, seine Gicht
      und seine Frau! Niemals konnte ich so recht herausbekommen, über welches
      von beiden er sprach. Er führte über beide eine ganz abscheuliche
      Sprache. Sie waren albern, Arthur. Lord Mortlake war mir nie mehr als ein
      Zeitvertreib. Einer von diesen im höchsten Grade langweiligen
      Zeitvertreiben, wie man sie nur in einem englischen Landhaus an einem
      englischen Sonntag auf dem Lande findet. Meiner Ansicht nach kann überhaupt
      niemand moralisch verantwortlich gemacht werden für das, was er oder sie
      in einem englischen Landhaus tut.
 LORD GORING: Ja. Ich kenne eine Menge Leute, die so denken.
 MRS. CHEVELEY: Ich liebte Sie, Arthur.
 LORD GORING: Meine liebe Mrs. Cheveley, Sie sind stets viel zu gescheit
      gewesen, um etwas von Liebe zu verstehen.
 MRS. CHEVELEY: Ich habe Sie wirklich geliebt. Und Sie liebten mich. Sie
      wissen, dass Sie mich liebten, und Liebe ist etwas ganz Wunderbares. Ich
      nehme an, wenn ein Mann einmal eine Frau geliebt hat, wird er alles für
      sie tun, ausgenommen sie weiterzulieben? Legt
      ihre Hand auf die seine.
 LORD GORING zieht seine Hand
      gelassen fort: Ja, das
      ausgenommen.
 MRS. CHEVELEY nach einer Pause: Ich
      bin es überdrüssig, im Ausland zu leben. Ich möchte nach London zurückkehren.
      Ich möchte hier ein bezauberndes Haus haben. Ich möchte einen Salon führen.
      Wenn man nur den Engländern das Reden und den Iren das Zuhören
      beibringen könnte, wäre die Gesellschaft hier recht zivilisiert. Außerdem
      habe ich das romantische Stadium erreicht. Als ich Sie gestern Abend bei
      den Chilterns sah, wusste ich, dass Sie der einzige Mensch sind, aus dem
      ich mir je etwas gemacht habe, wenn mir überhaupt je etwas an einem
      Menschen gelegen war, Arthur. Und deshalb werde ich Ihnen am Morgen des
      Tages, an dem Sie mich heiraten, Robert Chilterns Brief geben. Das ist
      mein Angebot. Ich werde Ihnen den Brief jetzt geben, wenn Sie versprechen,
      mich zu heiraten.
 LORD GORING: Jetzt?
 MRS. CHEVELEY lächelnd: Morgen.
 LORD GORING: Ist das wirklich Ihr Ernst?
 MRS. CHEVELEY: Ja, mein völliger Ernst.
 LORD GORING: Ich würde Ihnen einen sehr schlechten Ehemann abgeben.
 MRS. CHEVELEY: Ich habe nichts gegen schlechte Ehemänner einzuwenden. Ich
      habe zwei gehabt. Sie amüsierten mich ungeheuer.
 LORD GORING: Sie meinen, dass Sie selbst sich ungeheuer amüsiert haben,
      nicht wahr?
 MRS. CHEVELEY: Was wissen Sie von meinem Eheleben?
 LORD GORING: Nichts, aber ich kann es lesen wie ein Buch.
 MRS. CHEVELEY: Was für ein Buch?
 LORD GORING: Das vierte Buch Mosis.
 MRS. CHEVELEY: Halten Sie es für sehr charmant, in Ihrem eigenen Hause so
      ungezogen gegen eine Frau zu sein?
 LORD GORING: Bei sehr bestrickenden Frauen ist das Geschlecht eine
      Herausforderung, kein Schutz.
 MRS. CHEVELEY: Das soll vermutlich ein Kompliment sein. Mein lieber
      Arthur, Frauen werden nie durch Komplimente entwaffnet. Männer stets. Das
      ist der Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern.
 LORD GORING: Frauen werden, soweit ich sie kenne, nie durch etwas
      entwaffnet.
 MRS. CHEVELEY nach einer Pause: Dann
      wollen Sie also lieber zulassen, dass Ihr bester Freund, Robert Chiltern,
      zugrunde gerichtet wird, als jemanden zu heiraten, der wirklich noch
      erhebliche Reize übrigbehalten hat. Ich dachte, Sie würden sich zu einem
      hohen Gipfel der Selbstaufopferung aufschwingen, Arthur. Ich meine, Sie
      sollten es. Und den Rest Ihres Lebens könnten Sie verbringen,
      Betrachtungen über Ihre Vollkommenheiten anzustellen.
 LORD GORING:
      Oh! Das tu ich jetzt schon. Und Selbstaufopferung ist etwas, das durch
      ein Gesetz abgeschafft werden sollte. Sie ist so demoralisierend für die
      Leute, für die man sich aufopfert. Sie geraten immer auf einen schlechten
      Weg.
 MRS. CHEVELEY: Als ob irgend etwas Robert Chiltern demoralisieren könnte!
      Sie scheinen zu vergessen, dass ich seinen wahren Charakter kenne.
 LORD GORING: Was Sie von ihm kennen, ist nicht sein wahrer Charakter. Es
      war eine in seiner Jugend begangene unsinnige Tat, schimpflich zugegeben,
      schmachvoll, zugegeben, seiner unwürdig, das gebe ich zu, und daher ...
      nicht sein wahrer Charakter.
 MRS. CHEVELEY: Wie ihr Männer füreinander eintratet!
 LORD GORING: Wie ihr Frauen einander bekriegt!
 MRS. CHEVELEY bitter: Ich führe
      nur Krieg gegen eine Frau, gegen Gertrude Chiltern. Ich hasse sie. Ich
      hasse sie jetzt mehr denn je.
 LORD GORING: Vermutlich weil Sie eine echte Tragödie in ihr Leben
      gebracht haben.
 MRS. CHEVELEY mit höhnischem Lächeln:
      Oh, es gibt nur eine einzige echte Tragödie im Leben einer Frau. Die
      Tatsache, dass ihre Vergangenheit stets ihr Liebhaber und ihre Zukunft
      unweigerlich ihr Ehemann ist.
 LORD GORING: Lady Chiltern weiß nichts von einem derartigen Leben, auf
      das Sie anspielen.
 MRS. CHEVELEY: Eine Frau, deren Handschuhgröße siebendreiviertel ist,
      weiß nie viel von etwas. Es ist Ihnen doch bekannt, dass Gertrude stets
      siebendreiviertel getragen hat? Das ist einer der Gründe, warum nie
      irgendeine innere Übereinstimmung zwischen uns bestand ... Nun ja,
      Arthur, ich nehme an, dass wir dieses romantische Gespräch als beendet
      ansehen können. Sie geben zu, dass es romantisch war, nicht wahr? Für
      den Vorzug, Ihre Frau zu werden, war ich bereit, auf einen bedeutenden
      Gewinn zu verzichten, den Höhepunkt meiner diplomatischen Karriere. Sie
      lehnen ab. Sehr gut. Wenn Sir Robert mein argentinisches Projekt nicht
      unterstützt, stelle ich ihn bloß. Voilà
      tout.
 LORD GORING: Das dürfen Sie nicht. Es wäre niederträchtig,
      abscheulich, infam.
 MRS. CHEVELEY zuckt die Achseln: Oh!
      Nicht so große Worte. Sie besagen so wenig. Es ist eine geschäftliche
      Verhandlung. Weiter nichts. Es taugt nicht, Sentimentalität damit zu
      verquicken. Ich habe Robert Chiltern etwas Bestimmtes zum Kauf angeboten.
      Wenn er meinen Preis nicht zahlen will, wird er der Welt einen höheren
      Preis zahlen müssen. Mehr ist darüber nicht zu sagen. Ich muss gehen.
      Leben Sie wohl. Wollen Sie mir nicht die Hand reichen?
 LORD GORING: Ihnen? Nein. Ihre Verhandlung mit Robert Chiltern mag als
      eine ekelhafte geschäftliche Verhandlung in einem ekelhaften Geschäftszeitalter
      hingehen, aber Sie scheinen vergessen zu haben, dass Sie heute Abend
      herkamen, um von Liebe zu reden; Sie, deren Lippen das Wort Liebe
      entweihten. Sie, der sie ein Buch mit sieben Siegeln ist, sind heute
      Nachmittag in das Haus einer der erhabensten und edelsten Frauen gegangen,
      um ihren Mann in ihren Augen zu erniedrigen, ihre Liebe zu ihm zu morden,
      Gift in ihr Herz zu träufeln und Bitternis in ihr Leben zu bringen, ihr
      Idol zu zertrümmern und vielleicht ihre Seele zu zerstören. Das kann ich
      Ihnen nicht verzeihen. Das war entsetzlich. Dafür kann es kein Verzeihen
      geben.
 MRS. CHEVELEY: Sie sind ungerecht gegen mich, Arthur. Glauben Sie mir, Sie
      sind sehr ungerecht gegen mich. Ich ging keineswegs hin, um Gertrude zu
      verhöhnen. Ich hatte nichts dergleichen im Sinn, als ich eintrat. Ich
      sprach nur mit Lady Markby vor, um zu fragen, ob ein Schmuckstück, ein
      Kleinod, das ich gestern Abend irgendwo verloren habe, bei den Chilterns
      gefunden worden sei. Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie Lady Markby
      fragen. Sie wird Ihnen sagen, dass es wahr ist. Der Auftritt, zu dem es
      dann kam, spielte sich ab, als Lady Markby gegangen war, und wurde mir
      wahrhaftig durch Gertrudes Ungezogenheit und durch ihre Sticheleien
      aufgezwungen. Ich ging hin, oh! - auch ein wenig aus Bosheit, wenn Sie so
      wollen -, aber in Wirklichkeit, um zu fragen, ob man meine Diamantspange
      gefunden habe. So ist es überhaupt dazu gekommen.
 LORD GORING: Eine diamantene Schlangenspange mit einem Rubin?
 MRS. CHEVELEY:
      Ja. Woher wissen Sie es?
 LORD GORING: Weil sie gefunden wurde. Tatsächlich habe ich selbst sie
      gefunden und vergaß dummerweise, dem Butler etwas davon zu sagen, als ich
      das Haus verließ. Geht zu dem Schreibtisch
      und zieht Schubladen heraus. In diesem Schubfach ist sie nicht. Nein,
      hier. Dies ist die Spange, nicht wahr? Hält
      sie hoch.
 MRS.
      CHEVELEY: Ja. Ich freue mich so,
      sie wiederzuhaben. Sie war ... ein Geschenk.
 LORD GORING: Wollen Sie sie nicht tragen?
 MRS. CHEVELEY: Natürlich, wenn Sie sie mir anstecken. Lord Goring schließt sie ihr
      unvermutet um den Arm. Warum
      legen Sie mir die Spange als Armband um? Ich habe nie gewusst, dass man
      sie als Armband tragen könnte.
 LORD GORING: Wirklich nicht?
 MRS. CHEVELEY streckt ihren schönen
      Arm aus: Nein, aber sie sieht als Armband sehr gut an mir aus, nicht
      wahr?
 LORD GORING: Ja, viel besser als damals, da ich es zuletzt sah.
 MRS. CHEVELEY: Wann haben Sie es zuletzt gesehen?
 LORD GORING gelassen: Oh, vor
      zehn Jahren, an Lady Berkshire, der Sie es gestohlen haben.
 MRS. CHEVELEY erschrickt: Was
      wollen Sie damit sagen?
 LORD GORING: Ich will damit sagen, dass Sie diesen Schmuck meiner Kusine,
      Mary Berkshire, stahlen, den ich ihr zur Hochzeit schenkte. Der Verdacht
      fiel auf ein unglückliches Dienstmädchen, das in Schande davon gejagt
      wurde. Ich erkannte ihn gestern Abend. Ich beschloss, nichts davon zu
      sagen, bis ich den Dieb gefunden hätte. Jetzt habe ich die Diebin
      gefunden, und ich habe ihr eigenes Geständnis gehört.
 MRS. CHEVELEY wirft den Kopf zurück:
      Das ist nicht wahr.
 LORD GORING: Sie wissen, dass es wahr ist. Diebin steht in diesem
      Augenblick auf Ihrem Gesicht geschrieben.
 MRS. CHEVELEY: Ich werde die ganze Geschichte von Anfang bis Ende
      abstreiten. Ich werde sagen, dass ich dieses abscheuliche Ding nie gesehen
      habe, dass es nie in meinem Besitz war.
 Mrs.
      Cheveley versucht, das Armband zu
      entfernen, aber es gelingt ihr
      nicht. Lord Goring sieht ihr belustigt zu. Ihre schlanken Finger
      zerren vergeblich an dem Schmuck. Ein Fluch entfährt ihr.
      
       LORD GORING: Der Nachteil, wenn man etwas stiehlt, Mrs. Cheveley,
      ist, dass man nie weiß, wie wundervoll das Gestohlene ist. Sie können
      das Armband nicht ablegen, wenn Sie nicht wissen, wo sich die Feder
      befindet. Sie ist ziemlich schwer zu finden.MRS. CHEVELEY:
      Sie Scheusal! Sie Feigling! Sie versucht abermals, das Armband zu öffnen, was ihr nicht glückt.
 LORD
      GORING: Oh! Nicht so große Worte. Sie besagen so
      wenig.
 MRS. CHEVELEY zerrt wieder
      in einem Wutanfall mit unartikulierten Lauten an dem Armband. Dann hält
      sie inne und sieht Lord Goring
      an: Was werden Sie tun?
 LORD GORING: Ich werde nach meinem Diener läuten. Ein bewundernswerter
      Diener. Kommt stets denselben Augenblick, da man nach ihm läutet. Wenn er
      kommt, werde ich ihm auftragen, die Polizei zu holen.
 MRS. CHEVELEY zitternd: Die
      Polizei? Weswegen?
 LORD GORING: Morgen werden die Berkshires gegen Sie Klage erheben. Daher
      die Polizei.
 MRS. CHEVELEY befindet sich nun in
      der heftigen Pein physischen Entsetzens.
      Ihr Gesicht ist verzerrt. Ihr Mund schief. Eine Maske ist von ihr abgefallen. Sie ist im Augenblick schrecklich anzusehen:
      Nein, das nicht! Ich will alles tun, was Sie wollen. Alles auf der Welt,
      was Sie wollen.
 LORD GORING: Geben Sie mir Robert Chilterns Brief.
 MRS. CHEVELEY:
      Halt! Halt! Lassen Sie mir Zeit zum Nachdenken.
 LORD GORING: Geben Sie mir Robert Chilterns Brief.
 MRS. CHEVELEY: Ich habe ihn nicht bei mir. Morgen werde ich Ihnen den
      Brief geben.
 LORD GORING: Sie wissen, dass Sie lügen. Geben Sie mir sofort den Brief. Mrs.
      Cheveley holt den Brief hervor und gibt ihn ihm. Sie
      ist erschreckend bleich. Das ist er?
 MRS. CHEVELY mit heiserer Stimme: Ja.
 LORD GORING nimmt den
      Brief, prüft ihn, seufzt und verbrennt ihn
      über der Lampe: Für eine so gutgekleidete Frau, Mrs. Cheveley, haben
      Sie Augenblicke von bewundernswert gesundem Menschenverstand. Ich
      gratuliere Ihnen.
 MRS. CHEVELEY erblickt Lady
      Chilterns Brief, dessen Umschlag unter
      der Schreibmappe ein wenig hervorragt: Bitte holen Sie mir ein Glas
      Wasser.
 LORD GORING: Gewiss.
 Geht in die
      Zimmerecke und füllt ein Glas mit Wasser. Während er Mrs. Cheveley den Rücken
      kehrt, stiehlt sie Lady Chilterns
      Brief. Als Lord Goring mit dem Glas
      zurückkommt, weist sie es mit
      einer Handbewegung von sich.
      
       MRS. CHEVELEY: Danke. Wollen Sie mir in meinen Mantel helfen?LORD GORING: Mit Vergnügen. Legt
      ihr den Mantel um.
 MRS.
      CHEVELEY: Danke. Ich werde nie
      wieder versuchen, Robert Chiltern zu schaden.
 LORD GORING: Zum Glück haben Sie nicht die Möglichkeit, Mrs. Cheveley.
 MRS. CHEVELEY: Selbst wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich es
      nicht tun. Im Gegenteil, ich werde ihm einen großen Dienst erweisen.
 LORD GORING: Ich bin entzückt, das zu hören. Es ist ein Zeichen der
      Besserung.
 MRS. CHEVELEY:
      Ja. Ich kann es nicht ertragen, dass ein so rechtschaffener Gentleman,
      ein so ehrenwerter englischer Gentleman so schändlich hintergangen wird
      und -
 LORD GORING: Und?
 MRS. CHEVELEY: Ich stelle fest, dass sich Gertrude Chilterns
      Schwanengesang und Sterbensbekenntnis irgendwie in meine Tasche verirrt
      hat.
 LORD GORING: Was soll das heißen?
 MRS. CHEVELEY mit einem schneidend
      triumphierenden Ton in der Stimme:
      Es soll heißen, dass ich Robert Chiltern den Liebesbrief zusenden werde,
      den seine Frau Ihnen heute Abend schrieb.
 LORD GORING: Liebesbrief?
 MRS. CHEVELEY lachend: >Ich
      brauche Dich. Ich vertraue Dir. Ich komme zu Dir. Gertrude.<
 Lord Goring
      stürzt zum Schreibtisch, nimmt den Umschlag auf,
      findet ihn leer und dreht sich um.LORD GORING: Sie nichtswürdiges Weib, müssen Sie denn immer stehlen?
      Geben Sie mir den Brief zurück. Ich werde Ihnen den Brief mit Gewalt
      entreißen. Sie werden mein Zimmer nicht verlassen, ehe ich ihn habe.
 Er stürzt
      auf sie, aber Mrs. Cheveley legt sofort die Hand auf die elektrische
      Klingel, die sich auf dem Tisch befindet. Sie läutet
      mit schrillem Widerhall, und Phipps
      tritt ein.
      
       MRS. CHEVELEY nach einer
      Pause: Lord Gering hat nur geläutet, damit Sie mich hinausgeleiten.
      Guten Abend, Lord Goring!
      
       Geht von Phipps gefolgt, hinaus. Ihr Gesicht
      erstrahlt in boshaftem Triumph. Entzücken leuchtet aus ihren Augen.
      Jugend scheint
      wieder über sie zu kommen. Ihr
      letzter Blick ist wie ein geschwinder Pfeil. Lord Goring beißt sich auf
      die Lippe und zündet eine Zigarette an.
      
        
      
       
 VIERTER
      AKT
      
      Schauplatz
      wie im zweiten Akt. Lord Goring steht, die Hände in
      den Taschen, am Kamin. Er sieht
      etwas gelangweilt aus.
      
       LORD GORING zieht seine Uhr,
      befragt sie und läutet: Es ist doch zu dumm. Ich finde in diesem Haus
      niemand, mit dem ich reden kann. Dabei bin ich voll interessanter
      Nachrichten. Ich fühle mich wie die letzte Ausgabe von irgendwas.
      
       Diener tritt
      ein.
      
       JAMES: Sir Robert ist noch im Außenministerium, Mylord.LORD GORING: Lady Chiltern ist noch nicht unten?
 JAMES: Ihre Gnaden hat ihr Zimmer noch nicht verlassen. Miss Chiltern ist
      soeben vom Reiten zurückgekehrt.
 LORD GORING bei sich: Das ist
      immerhin etwas.
 JAMES: Lord Caversham wartet seit einiger Zeit in der Bibliothek auf Sir
      Robert. Ich habe ihm gesagt, Eure Lordschaft seien hier.
 LORD GORING: Danke. Würden Sie ihm freundlicherweise sagen, ich sei
      gegangen?
 JAMES verbeugt sich: Ich werde
      es ausrichten, Mylord. Geht ab.
 LORD GORING: Ich möchte meinem Vater wahrhaftig nicht drei Tage
      hintereinander begegnen. Das ist für jeden Sohn etwas zuviel der
      Aufregung. Ich hoffe zu Gott, er kommt nicht herauf. Von Vätern sollte
      man weder etwas sehen noch hören. Das ist die einzig angemessene Basis für
      ein Familienleben. Mütter sind anders. Mütter sind liebe Geschöpfe. Wirft
      sich in einen Sessel, nimmt eine
      Zeitung auf und beginnt zu lesen.
 Lord
      Caversham tritt ein.
      
       LORD CAVERSHAM: Nun, mein Herr Sohn, was machst du hier? Vergeudest
      wie üblich deine Zeit, nehme ich an?LORD GORING wirft die Zeitung hin
      und steht auf. Mein lieber Vater, wenn man einen Besuch macht, dann
      geschieht das, um andrer Leute Zeit zu vergeuden, nicht die eigene.
 LORD CAVERSHAM: Hast du darüber nachgedacht, was ich dir gestern Abend
      gesagt habe?
 LORD GORING: Ich habe an nichts anderes gedacht.
 LORD CAVERSHAM: Schon verlobt?
 LORD GORING munter: Noch nicht,
      aber ich hoffe es vor dem Lunch zu sein.
 LORD CAVERSHAM bissig: Du kannst
      dir bis zum Dinner Zeit lassen, wenn es dir angemessener erscheint.
 LORD GORING: Tausend Dank, aber ich glaube, ich möchte mich lieber vor
      dem Lunch verloben.
 LORD CAVERSHAM:
      Hm! Weiß nie, wann es dir Ernst ist und wann nicht.
 LORD GORING: Geht mir ebenso, Vater.
 Pause.
      
       LORD CAVERSHAM: Nehme an, du hast heute morgen die >Times<
      gelesen?LORD GORING leichthin: Die
      >Times<? Natürlich nicht. Ich lese nur die >Morning Post<.
      Vom heutigen Leben sollte man nur wissen, wo sich die Herzoginnen
      befinden, alles andere ist in hohem Grade demoralisierend.
 LORD CAVERSHAM: Willst du damit sagen, dass du nicht den Leitartikel über
      Robert Chilterns Karriere in der >Times< gelesen hast?
 LORD GORING: Gütiger Himmel! Nein. Was steht denn drin?
 LORD CAVERSHAM: Was soll schon drinstehen? Natürlich lauter Komplimente.
      Chilterns Rede heute nacht über dieses argentinische Kanalprojekt war
      eins der vortrefflichsten Beispiele von Rhetorik, die seit Canning je im
      Parlament zum besten gegeben wurden.
 LORD GORING:
      Ach! Nie von Canning gehört. Nie das Bedürfnis gehabt. Und hat ... hat
      Chiltern das Projekt unterstützt?
 LORD CAVERSHAM: Unterstützt? Wie wenig du ihn kennst! Er hat es nachdrücklich
      gebrandmarkt, ebenso wie das ganze System der modernen politischen
      Finanzwissenschaft. Diese Rede ist der Wendepunkt in seiner Laufbahn, wie
      die >Times< betont. Du solltest diesen Artikel lesen, mein Herr
      Sohn. Schlägt die >Times<
      auf. >Sir Robert Chiltern ... der Erste unter den aufsteigenden jungen
      Staatsmännern ... Glänzender Redner... Makellose Karriere ...
      Allbekannte Lauterkeit des Charakters... Repräsentiert das Beste im öffentlichen
      Leben Englands ... Herrlicher Gegensatz zu der unter ausländischen
      Politikern so verbreiteten laxen Moral.< Von dir werden sie das nie
      sagen, mein Herr Sohn.
 LORD GORING: Das hoffe ich aufrichtig, Vater. Aber es freut mich, was du
      mir über Robert erzählst, freut mich durchaus. Es beweist, dass er Mut
      hat.
 LORD CAVERSHAM: Er besitzt mehr als Mut, er besitzt Genie.
 LORD GORING:
      Ach! Ich ziehe Mut vor. Der ist heutzutage nicht so häufig wie Genie.
 LORD CAVERSHAM: Ich wünschte, du gingest ins Parlament.
 LORD GORING: Mein lieber Vater, nur Leute, die langweilig aussehen,
      gelangen jemals ins Unterhaus, und nur Leute, die langweilig sind, haben
      dort jemals Erfolg.
 LORD CAVERSHAM: Warum versuchst du nicht, etwas Nützliches im Leben zu
      tun?
 LORD GORING: Ich bin viel zu jung.
 LORD CAVERSHAM mürrisch: Ich
      hasse dieses Jugendgetue. Es ist heutzutage allzu sehr verbreitet.
 LORD GORING: Jugend ist kein Getue. Jugend ist eine Kunst.
 LORD CAVERSHAM: Warum hältst du nicht um diese hübsche Miss Chiltern an?
 LORD GORING: Ich habe ein sehr schüchternes Gemüt, besonders am
      Vormittag.
 LORD CAVERSHAM: Vermutlich besteht nicht die geringste Aussicht, dass sie
      dich nimmt.
 LORD GORING: Ich weiß nicht, wie die Wette heute steht.
 LORD CAVERSHAM: Wenn sie dich nähme, wäre sie die hübscheste Närrin in
      England.
 LORD GORING: Genau das, was ich gern heiraten würde. Eine von Grund auf
      vernünftige Frau würde mich in weniger als sechs Monaten in einen
      Zustand völliger Idiotie versetzen.
 LORD CAVERSHAM: Du verdienst sie nicht, mein Herr Sohn.
 LORD GORING: Mein lieber Vater, wenn wir Männer die Frauen heirateten,
      die wir verdienen, wäre uns eine sehr schlimme Zeit beschieden. Mabel Chiltern tritt ein.
 MABEL CHILTERN: Oh! ... Guten Tag, Lord Caversham. Ich hoffe, Lady
      Caversham befindet sich ganz wohl?
 LORD CAVERSHAM: Lady Caversham befindet sich wie üblich, wie üblich.
 LORD GORING: Guten Morgen, Miss Mabel!
 MABEL CHILTERN beachtet Lord Goring
      überhaupt nicht und wendet sich
      ausschließlich an Lord Caversham: Und Lady Cavershams Hüte. . .,
      haben sie sich gebessert?
 LORD CAVERSHAM: Sie haben einen bedenklichen Rückfall erlitten, wie ich
      leider sagen muss.
 LORD GORING: Guten Morgen, Miss Mabel.
 MABEL CHILTERN zu Lord
      Caversham: Hoffentlich ist keine Operation vonnöten.
 LORD CAVERSHAM über ihre Keckheit lächelnd:
      Wenn der Fall eintreten sollte, werden wir Lady Caversham ein Betäubungsmittel
      geben müssen. Andernfalls würde sie niemals zulassen, dass auch nur eine
      Feder angetastet wird.
 LORD GORING mit wachsendem
      Nachdruck: Guten Morgen, Miss Mabel.
 MABEL CHILTERN dreht sich mit
      gespielter Überraschung um: Oh, Sie hier? Sie begreifen natürlich,
      dass ich nie wieder mit Ihnen sprechen werde, nachdem Sie unsere
      Verabredung nicht eingehalten haben.
 LORD GORING: O bitte, sagen Sie nicht so etwas. Sie sind der einzige
      Mensch in London, von dem ich wirklich gern möchte, dass er mir zuhört.
 MABEL CHILTERN: Lord Goring, ich glaube nie auch nur ein einziges Wort,
      das Sie oder ich einander sagen.
 LORD CAVERSHAM: Da haben Sie völlig recht, meine Liebe, völlig recht,
      soweit es ihn betrifft, meine ich.
 MABEL CHILTERN: Glauben Sie, Sie könnten Ihren Sohn möglicherweise dazu
      bringen, dass er sich hin und wieder ein wenig besser benimmt? Nur zur
      Abwechslung.
 LORD CAVERSHAM: Leider muss ich Ihnen sagen, Miss Chiltern, dass ich überhaupt
      keinen Einfluss auf meinen Sohn habe. Ich wünschte, es wäre so. Wenn es
      so wäre, dann wüsste ich schon, wozu ich ihn bringen würde.
 MABEL CHILTERN: Ich fürchte, er gehört zu diesen fürchterlich schlappen
      Naturen, die für Einfluss nicht empfänglich sind.
 LORD CAVERSHAM: Er ist sehr herzlos, sehr herzlos.
 LORD GORING: Mit scheint, ich störe hier etwas.
 MABEL CHILTERN: Es ist sehr gut für Sie, zu stören und zu erfahren, was
      die Leute hinter Ihrem Rücken sagen.
 LORD GORING: Mir liegt überhaupt nichts daran, zu erfahren, was die Leute
      hinter meinem Rücken sagen. Das macht mich viel zu eingebildet.
 LORD CAVERSHAM: Nach dem, meine Liebe, muss ich mich wirklich von Ihnen
      verabschieden.
 MABEL CHILTERN: Oh! Sie werden mich doch hoffentlich nicht mit Lord Goring
      allein lassen? Vor allem nicht zu einer so frühen Stunde am Tag?
 LORD CAVERSHAM: Leider kann ich ihn nicht in die Downing Street mitnehmen.
      Heute ist nicht der Tag des Premierministers, die Arbeitslosen zu
      empfangen. Verabschiedet sich mit Händedruck
      von Mabel Chiltern, nimmt Hut und
      Stock und geht hinaus, nach einem durchdringend entrüsteten
      Abschiedsblick auf Lord Goring.
 MABEL CHILTERN nimmt Rosen
      auf und beginnt sie in einem Gefäß auf dem Tisch zu ordnen: Leute,
      die ihre Verabredungen im Park nicht einhalten, sind grässlich.
 LORD GORING: Abscheulich.
 MABEL CHILTERN: Ich freue mich, dass Sie es zugeben. Aber ich wünschte,
      Sie sähen nicht so vergnügt darüber aus.
 LORD GORING: Dafür kann ich nichts. Ich sehe immer vergnügt aus, wenn
      ich mit Ihnen zusammen bin.
 MABEL CHILTERN düster: Dann ist
      es vermutlich meine Pflicht, bei Ihnen zu bleiben?
 LORD GORING: Natürlich.
 MABEL CHILTERN: Nein, meine Pflicht ist etwas, das ich grundsätzlich
      nicht tue. Es deprimiert mich immer so. Deshalb muss ich Sie leider
      verlassen.
 LORD GORING: Bitte nicht, Miss Mabel. Ich habe Ihnen etwas ganz Besonderes
      zu sagen.
 MABEL CHILTERN entzückt: Oh!
      Ist es ein Antrag?
 LORD GORING etwas verblüfft: Nun
      ja, ja - ich muss sagen, so ist es.
 MABEL CHILTERN mit einem Seufzer der
      Befriedigung: Wie schön! Das ist heute der zweite.
 LORD GORING entrüstet: Heute
      der zweite? Welcher eingebildete Esel ist so unverschämt gewesen und hat
      gewagt, Ihnen einen Antrag zu machen, ehe ich Ihnen einen machte?
 MABEL CHILTERN: Tommy Trafford natürlich. Heute ist einer von Tommys
      Antragstagen. In der Saison macht er mir stets an Dienstagen und
      Donnerstagen einen Heiratsantrag.
 LORD GORING: Sie haben ihn doch hoffentlich nicht erhört?
 MABEL CHILTERN: Ich mache es mir zur Regel, Tommy nie zu erhören. Deshalb
      fährt er ja mit seinen Anträgen fort. Natürlich war ich heute morgen,
      als Sie sich nicht blicken ließen, sehr nahe daran, ja zu sagen. Es wäre
      für ihn und für Sie eine vortreffliche Lektion gewesen. Es hätte Sie
      beide bessere Manieren gelehrt.
 LORD GORING:
      Oh! Zum Henker mit Tommy Trafford! Tommy ist ein alberner kleiner Esel.
      Ich liebe Sie.
 MABEL CHILTERN: Ich weiß. Und ich finde, Sie hätten es schon früher erwähnen
      können. Ich habe Ihnen bestimmt massenhaft Gelegenheit gegeben.
 LORD GORING: Mabel, seien Sie ernst. Bitte, seien Sie ernst.
 MABEL CHILTERN: Ach! So redet ein Mann stets zu einem Mädchen, ehe er mit
      ihr verheiratet ist. Hinterher sagt er es nie.
 LORD GORING ergreift ihre Hand: Mabel,
      ich habe Ihnen gesagt, dass ich Sie liebe. Können Sie mich nicht ein
      wenig wiederlieben?
 MABEL CHILTERN: Dummer Arthur! Wenn Sie etwas davon wüssten ... etwas,
      wovon Sie keine Ahnung haben, dann wüssten Sie, dass ich Sie anbete.
      Jeder in London weiß es - außer Ihnen. Es ist ein öffentlicher Skandal,
      wie ich Sie anbete. Ich bin in den letzten sechs Monaten herumgegangen und
      habe überall in der Gesellschaft erzählt, dass ich Sie anbete. Ich bin
      neugierig, ob Sie zugeben, dass Sie mir etwas zu sagen haben. Ich habe überhaupt
      keinen Charakter mehr. Zumindest fühle ich mich so glücklich, dass ich völlig
      überzeugt bin, keinen Charakter mehr zu haben.
 LORD GORING nimmt sie
      in die Arme und küsst sie. Dann folgt eine
      Pause des Entzückens: Liebste! Weißt du, ich hatte schreckliche
      Angst, einen Korb zu bekommen!
 MABEL CHILTERN blickt zu ihm empor:
      Aber du hast doch noch nie von jemand einen Korb bekommen, nicht wahr,
      Arthur? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dich jemand abweist.
 LORD GORING nachdem er sie wieder
      geküsst hat: Natürlich bin ich nicht annähernd gut genug für dich,
      Mabel.
 MABEL CHILTERN schmiegt sich eng an
      ihn: Ich bin so froh darüber, Liebling. Ich fürchtete schon, du wärest
      es.
 LORD GORING nach einigem Zögern: Und
      ich bin ... ich bin etwas über dreißig.
 MABEL CHILTFRN: Du siehst Wochen jünger aus, Liebster.
 LORD GORING begeistert: Wie süß
      von dir, das zu sagen!... Und es ist nur anständig, dir offen zu sagen,
      dass ich schrecklich extravagant bin.
 MABEL CHILTERN: Aber das bin ich auch, Arthur. Deshalb werden wir uns
      bestimmt vertragen. Und jetzt muss ich zu Gertrude gehen.
 LORD GORING: Musst du wirklich? Küsst
      sie.
 MABEL CHILTERN: Ja.
 LORD GORING: Dann sag ihr, dass ich unbedingt mit ihr sprechen möchte.
      Ich habe hier den ganzen Vormittag gewartet, um sie oder Robert zu
      sprechen.
 MABEL CHILTERN: Willst du damit sagen, dass du nicht ausdrücklich deshalb
      gekommen bist, um mir einen Antrag zu machen?
 LORD GORING triumphierend: Nein,
      das war ein Geistesblitz.
 MABEL CHILTERN: Dein erster.
 LORD GORING mit Entschiedenheit: Mein letzter.
 MABEL CHILTERN: Das freut mich zu hören. Und nun rühr dich nicht von der
      Stelle. In fünf Minuten bin ich zurück. Und dass du mir nicht
      irgendwelchen Versuchungen erliegst, während ich fort bin.
 LORD GORING: Liebe Mabel, es gibt keine, wenn du fort bist. Das macht mich
      furchtbar abhängig von dir.
 Lady
      Chiltern tritt ein.
      
       LADY CHILTERN: Guten Morgen, Liebes! Wie hübsch du aussiehst!MABEL CHILTERN: Wie blass du aussiehst, Gertrude! Es steht dir sehr gut!
 LADY CHILTERN: Guten Morgen, Lord Goring!
 LORD GORINC, verneigt sich: Guten
      Morgen, Lady Chiltern!
 MABEL CHILTERN beiseite zu Lord
      Goring: Ich bin im Wintergarten, unter der zweiten Palme links.
 LORD GORING: Zweiten links?
 MABEL CHILTERN mit einem Ausdruck
      gespielter Überraschung: Ja, der üblichen Palme. Wirft ihm, von Lady Chiltern
      unbemerkt, eine Kusshand zu und
      geht hinaus.
 LORD GORING: Lady Chiltern, ich habe Ihnen eine ganze Menge sehr guter
      Neuigkeiten zu erzählen. Mrs. Cheveley hat mir heute nacht Roberts Brief
      gegeben, und ich habe ihn verbrannt. Robert ist in Sicherheit.
 LADY CHILTERN sinkt auf das Sofa: In
      Sicherheit! Oh! Ich bin so froh darüber. Welch ein guter Freund sind Sie
      ihm - sind Sie uns!
 LORD GORING: Es gibt jetzt nur einen Menschen, von dem man sagen könnte,
      dass er sich in Gefahr befindet.
 LADY CHILTERN: Wer ist das?
 LORD GORING setzt sich neben sie: Sie
      selbst.
 LADY CHILTIERN: Ich? In Gefahr? Was meinen Sie damit?
 LORD GORING: Gefahr ist ein zu gewaltiges Wort. Ich hätte es nicht
      gebrauchen sollen. Aber ich gebe zu, dass ich Ihnen etwas zu sagen habe,
      das Ihnen vielleicht Sorge bereitet, das mir schreckliche Sorgen macht.
      Gestern Abend schrieben Sie mir einen sehr schönen, sehr weiblichen
      Brief, in dem Sie um meine Hilfe baten. Sie schrieben mir als einem Ihrer
      ältesten Freunde, als einem der ältesten Freunde Ihres Mannes. Mrs.
      Cheveley stahl den Brief aus meiner Wohnung.
 LADY CHILTERN: Ja und? Was nützt er ihr? Warum sollte sie ihn nicht
      haben?
 LORD GORING steht auf: Lady
      Chiltern, ich will ganz offen gegen Sie sein. Mrs. Cheveley legt diesen
      Brief auf eine bestimmte Weise aus und hat die Absicht, ihn Ihrem Mann zu
      schicken.
 LADY CHILTERN: Aber wie könnte sie ihn denn auslegen? ... Oh! Nicht so!
      Nicht so! Wenn ich in - in Bedrängnis bin und Ihre Hilfe brauche, Ihnen
      vertraue, zu Ihnen kommen will ... damit Sie mir raten ... mir beistehen
      ... Oh! Gibt es Frauen, die so abscheulich sind ... ? Und sie hat die
      Absicht, ihn meinem Mann zu schicken? Erzählen Sie mir, was geschah. Erzählen
      Sie mir alles, was geschah.
 LORD GORING: Mrs. Cheveley war ohne mein Wissen in einem neben meiner
      Bibliothek gelegenen Raum verborgen. Ich glaubte, die Person, die in jenem
      Raum auf mich wartete, seien Sie selbst. Unerwartet kam Robert. Ein Stuhl
      oder sonst was fiel in dem Raum. Er drang mit Gewalt ein und entdeckte
      sie. Es kam zu einem fürchterlichen Auftritt zwischen uns. Ich glaubte
      immer noch, Sie seien dort. Zornig verließ er mich. Am Ende bemächtigte
      sich Mrs. Cheveley Ihres Briefes - sie stahl ihn, wann oder wie, weiß ich
      nicht.
 LADY CHILTERN: Zu welcher Zeit geschah das?
 LORD GORING: Um halb elf Und jetzt schlage ich vor, dass wir Robert sofort
      die ganze Sache erzählen.
 LADY CHILTERN sieht ihn mit
      einem Erstaunen an, das fast an Entsetzen
      grenzt: Sie wollen, dass ich Robert erzähle, die Frau, die Sie
      erwarteten, sei nicht Mrs. Cheveley, sondern ich selbst gewesen? Ich sei
      es gewesen, die Sie um halb elf Uhr nachts in einem Zimmer Ihres Hauses
      verborgen glaubten? Sie wollen, dass ich ihm das erzähle?
 LORD GORING: Ich halte es für besser, wenn er die volle Wahrheit erfährt.
 LADY CHILTERN steht auf: Oh, ich
      könnte es nicht, ich könnte es nicht!
 LORD GORING: Darf ich es tun?
 LADY CHILTERN: Nein.
 LORD GORING ernst: Sie haben
      unrecht, Lady Chiltern.
 LADY CHILTERN: Nein. Der Brief muss abgefangen werden. Das ist alles. Aber
      wie kann ich es tun? jeden Augenblick am Tag kommen Briefe für ihn. Seine
      Sekretäre öffnen sie und übergeben sie ihm. Ich wage nicht, die Diener
      zu bitten, dass sie mir seine Briefe bringen. Das wäre unmöglich. Oh!
      Warum sagen Sie mir nicht, was ich tun soll?
 LORD GORING: Bitte beruhigen Sie sich, Lady Chiltern, und beantworten Sie
      die Fragen, die ich Ihnen stellen werde. Sie sagten, seine Sekretäre öffnen
      seine Briefe.
 LADY CHILTERN: Ja.
 LORD GORING: Wer ist heute bei ihm? Mr. Trafford, nicht wahr?
 LADY CHILTERN: Nein. Ich glaube, Mr. Montford.
 LORD GORING: Können Sie ihm vertrauen?
 LADY CHILTERN mit einer Gebärde der
      Verzweiflung: Oh! Wie soll ich das wissen?
 LORD GORING: Er würde doch tun, worum Sie ihn bäten?
 LADY CHILTERN: Ich glaube.
 LORD CHILTERN: Ihr Brief war auf rosa Papier geschrieben. Er könnte ihn
      erkennen, ohne ihn zu lesen, nicht wahr? An der Farbe?
 LADY CHILTERN: Ich denke, ja.
 LORD GORING: Ist er jetzt im Hause?
 LADY CHILTERN: Ja.
 LORD GORING: Dann werde ich selbst zu ihm gehen und ihm sagen, dass heute
      ein bestimmter Brief, auf rosa Papier geschrieben, an Robert geschickt
      werden soll und dass er ihn um keinen Preis erreichen darf. Geht zur Tür und öffnet Sie. Oh! Robert kommt mit dem Brief in der
      Hand herauf Er hat ihn bereits erreicht.
 LADY CHILTERN mit einem
      Schmerzensschrei: Oh! Sein Leben haben Sie gerettet; was haben Sie mit
      meinem getan?
 Sir Robert
      Chiltern tritt ein. Er hat den Brief in der Hand und
      liest ihn. Er geht auf seine Frau
      zu, ohne Lord Gorings Anwesenheit zu bemerken.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: >Ich brauche Dich. Ich vertraue Dir. Ich
      komme zu Dir. Gertrude.< Oh, Liebste! Ist das wahr? Du vertraust mir
      wirklich und brauchst mich? Wenn es so ist, dann wäre es an mir, zu dir
      zu kommen, nicht an dir, mir zu schreiben, dass du zu mir kommen willst.
      Dieser Brief von dir, Gertrude, gibt mir das Gefühl, dass mich jetzt
      nichts, was die Welt tun mag, verletzen kann. Du brauchst mich, Gertrude.
      
       Lord Goring
      bedeutet Lady Chiltern, von Sir Robert Chiltern
      ungesehen durch eine bittende Gebärde,
      die Situation und Sir Roberts Irrtum gelten zu lassen.
      
       LADY CHILTERN: Ja.SIR ROBERT CHILTERN: Du vertraust mir, Gertrude?
 LADY CHILTERN: Ja.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ach! Warum hast du nicht hinzugefügt, dass du mich
      liebst?
 LADY CHILTERN nimmt seine
      Hand: Weil ich dich liebe.
 Lord Goring
      entfernt sich in den Wintergarten.
      
       SIR ROBERT CHILTERN küsst
      sie: Gertrude, du weißt nicht, was ich empfinde. Als mir Montford
      deinen Brief über den Tisch reichte - ich nehme an, er hat ihn irrtümlich
      geöffnet, ohne sich die Handschrift auf dem Umschlag anzusehen - und als
      ich las - oh! Da war mir einerlei, welche Schande oder Strafe mich
      erwartet, ich dachte nur daran, dass du mich noch liebst.LADY CHILTERN: Es erwartet dich keine Schande oder öffentlicher Schimpf.
      Mrs. Cheveley hat den Beweis, der sich in ihrem Besitz befand, Lord Goring
      übergeben, und er hat ihn vernichtet.
 SIR ROBERT CHILTERN: Weißt du das genau, Gertrude?
 LADY CHILTERN: Ja, Lord Goring hat es mir eben erzählt.
 SIR ROBERT CHILTERN: Dann bin ich in Sicherheit! Oh, wie wunderbar, sich
      sicher zu fühlen! Zwei Tage des Schreckens liegen hinter mir. Jetzt bin
      ich in Sicherheit. Wie hat Arthur meinen Brief vernichtet? Erzähl es mir.
 LADY CHILTERN: Er hat ihn verbrannt.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich wünschte, ich hätte diese meine einzige Jugendsünde
      zu Asche verbrennen sehen. Wie viele Menschen gibt es in unserm heutigen
      Leben, die gern ihre Vergangenheit vor sich zu weißer Asche verbrennen sähen!
      Ist Arthur noch da?
 LADY CHILTERN: Ja, er ist im Wintergarten.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich bin jetzt so froh, dass ich heute nacht im
      Parlament diese Rede- gehalten habe, so froh. Ich hielt sie in dem
      Gedanken, dass vielleicht öffentliche Schande folgen würde. Aber es kam
      anders.
 LADY CHILTERN: Öffentliche Ehre war der Erfolg.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich glaube, ja. Ich fürchte es fast. Denn obgleich
      ich vor Entdeckung sicher bin, obgleich jeder Beweis gegen mich vernichtet
      ist, sollte ich ... sollte ich mich wohl vom öffentlichen Leben zurückziehen,
      Gertrude? Er blickt seine Frau beklommen an.
 LADY CHILTERN eifrig: O
      ja, Robert, das solltest du tun. Es ist deine Pflicht.
 SIR ROBERT CHILTERN: Das bedeutet, viel aufzugeben.
 LADY CHILTERN: Nein, es wird bedeuten, viel zu gewinnen.
 Sir Robert
      Chiltern geht mit gequältem Ausdruck im Zimmer
      auf und ab. Dann tritt er zu seiner
      Frau und legt ihr die Hand auf
      die Schulter.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: Und du würdest glücklich sein, irgendwo
      allein mit mir zu leben, vielleicht im Ausland oder, fern von London, fern
      vom öffentlichen Leben, auf dem Lande? Du würdest nichts vermissen?LADY CHILTERN:
      Oh! Nichts, Robert.
 SIR ROBERT CHILTERN traurig: Und
      dein Ehrgeiz für mich? Du warst immer ehrgeizig für mich.
 LADY CHILTERN: Ach, mein Ehrgeiz! Ich habe jetzt keinen außer dem, dass
      wir beide einander lieben mögen. Es war dein Ehrgeiz, der dich vom
      rechten Wege führte. Lass uns nicht von Ehrgeiz sprechen.
 Lord Goring
      kommt aus dem Wintergarten, sehr zufrieden mit
      sich und mit einem völlig neuen
      Knopflochschmuck, den jemand für
      ihn ausgesucht hat.
      
       SIR ROBERT CHILTERN geht ihm
      entgegen: Arthur, ich muss dir danken für das, was du für mich getan
      hast. Ich weiß nicht, wie ich's dir vergelten kann. Drückt ihm die Hand.LORD GORING: Mein lieber Junge, das werde ich dir gleich sagen. In
      diesem Augenblick, unter der üblichen Palme ... im Wintergarten, meine
      ich ...
 Mason tritt
      ein.
      
       MASON: Lord Caversham.LORD GORING: Mein bewundernswerter Vater macht es sich wahrhaftig zur
      Gewohnheit, im unrechten Augenblick zu erscheinen. Das ist sehr herzlos
      von ihm, wirklich sehr herzlos.
 Lord
      Caversham tritt ein. Mason entfernt sich.
      
       LORD CAVERSHAM: Guten Morgen, Lady Chiltern! Ihnen, Chiltern,
      innigste Glückwünsche zu Ihrer glänzenden Rede heute nacht. Ich komme
      soeben vom Premierminister, und Sie sollen den vakanten Sitz im Kabinett
      erhalten.SIR ROBERT CHILTERN mit einem
      Ausdruck der Freude und des Triumphes:
      Einen Sitz im Kabinett?
 LORD CAVERSHAM: Ja, hier ist das Schreiben des Premierministers.
 Übergibt es
      ihm.
      
       SIR ROBERT CHILTERN nimmt
      das Schreiben und liest es: Einen
      Sitz im Kabinett!LORD CAVERSHAM: Gewiss, und den verdienen Sie auch. Sie haben das, was wir
      heutzutage im politischen Leben so dringend brauchen - erhabenen
      Charakter, erhabene Moral, erhabene Prinzipien. Zu
      Lord Goring. Alles, mein
      Herr Sohn, was du nicht besitzt und nie besitzen wirst.
 LORD GORING: Ich bin nicht für Prinzipien, Vater. Ich bin mehr für
      Vorurteile.
 Sir Robert
      Chiltern ist im Begriff, das Angebot des Premierministers anzunehmen, als
      er merkt, dass ihn seine Frau mit ihren klaren, ehrlichen Augen ansieht.
      Da wird ihm bewusst, dass es unmöglich ist.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: Ich kann dieses Angebot nicht annehmen, Lord
      Caversham. Ich habe mich entschieden, es abzulehnen.LORD CAVERSHAM: Es abzulehnen?
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich gedenke mich unverzüglich vom öffentlichen
      Leben zurückzuziehen.
 LORD CAVERSHAM aufgebracht:
      Einen Sitz im Kabinett ablehnen und vom öffentlichen Leben zurückziehen?
      Einen solchen verdammten Unsinn habe ich im Laufe meines ganzen Lebens
      nicht gehört. Bitte um Verzeihung, Lady Chiltern. Verzeihen Sie, Chiltern.
      Zu Lord Goring. Grinse nicht so,
      mein Herr Sohn.
 LORD GORING: Nein, Vater.
 LORD CAVERSHAM: Lady Chiltern, Sie sind eine vernünftige Frau, die vernünftigste
      Frau in London, die vernünftigste Frau, die ich kenne. Wollen Sie gütigst
      Ihren Gatten davor bewahren, einen solchen ... so zu reden? ... Wollen Sie
      die Güte haben, das zu tun, Lady Chiltern?
 LADY CHILTERN: Ich denke, mein Mann hat recht mit seinem Entschluss, Lord
      Caversham. Ich heiße ihn gut.
 LORD CAVERSHAM: Sie heißen ihn gut? Du lieber Himmel!
 LADY CHILTERN ergreift die Hand
      ihres Gatten: Ich bewundere ihn deswegen. Ich bewundere ihn deswegen
      ungeheuer. Nie zuvor habe ich ihn so bewundert. Er ist lauterer, als
      selbst ich es glaubte. Zu Sir Robert
      Chiltern. Du wirst jetzt den Brief an den Premierminister schreiben,
      nicht wahr? Schiebe es nicht auf, Robert.
 SIR ROBERT CHILTERN mit einem
      Anflug von Bitterkeit: Ich denke auch, ich sollte ihm sofort
      schreiben. Dergleichen Angebote werden nicht wiederholt. Ich bitte Sie,
      mich einen Augenblick zu entschuldigen, Lord Caversham.
 LADY CHILTERN: Ich darf doch mitkommen, Robert?
 SIR ROBERT CHILTERN: Ja, Gertrude.
 Lady
      Chiltern geht mit ihm hinaus.
      
       LORD CAVERSHAM: Was ist mit dieser Familie los. Was nicht in
      Ordnung hier, wie? Klopft sich an
      die Stirn. Schwachsinn? Vermutlich geerbt. Noch dazu beide. Frau wie
      Mann. Sehr betrüblich. In der Tat sehr betrüblich! Und dabei gehören
      sie keiner der alten Familien an. Kann es nicht begreifen.LORD GORING: Es ist kein Schwachsinn, Vater, ich versichere es dir.
 LORD CAVERSHAM: Was dann, Herr Sohn?
 LORD GORING nach kurzem Zögern: Nun
      ja, was man heutzutage hohe Moral nennt, Vater. Weiter nichts.
 LORD CAVERSHAM: Hasse diese neumodischen Bezeichnungen. Ist dasselbe, was
      wir vor fünfzig Jahren Schwachsinn nannten. Werde in diesem Hause nicht
      mehr bleiben.
 LORD GORING fasst ihn am Arm:
      Oh! Geh nur einen Augenblick da hinein Vater. Dritte Palme links, die übliche
      Palme.
 LORD CAVERSHAM: Wie?
 LORD GORING: Verzeihung, Vater, ich vergaß. Im Wintergarten, Vater, im
      Wintergarten - da ist jemand, und ich möchte dass du mit dem jemand
      sprichst.
 LORD CAVERSHAM: Worüber?
 LORD GORING: Über mich, Vater.
 LORD CAVEHSHAM grimmig: Kein
      Gegenstand, der große Beredsamkeit ermöglicht.
 LORD GORING: Nein, Vater, aber die Dame ist wie ich. Sie hält nicht viel
      von Beredsamkeit bei anderen. Sie findet sie etwas geräuschvoll.
 Lord
      Caversham geht in den Wintergarten. Lady Chiltern tritt
      ein.
      
       LORD GORING: Lady Chiltern, warum spielen Sie mit Mrs. Cheveleys
      Karten?LADY CHILTERN fährt zusammen: Ich verstehe Sie nicht.
 LORD GORING: Mrs. Cheveley hat versucht, Ihren Mann zugrunde zu richten.
      Ihn entweder aus dem öffentlichen Leben zu jagen oder ihn in eine
      schimpfliche Position zu bringen. Vor der letztgenannten Tragödie haben
      sie ihn bewahrt. In die andere treiben Sie ihn nun. Warum wollen Sie ihm
      den Schaden zufügen, den Mrs. Cheveley ihm vergeblich anzutun versuchte?
 LADY CHILTERN:
      Lord Goring?
 LORD GORING rafft
      sich zu einer großen Anstrengung auf und lässt den Philosophen erkennen, der unter dem Dandy verborgen ist:
      Erlauben Sie, Lady Chiltern. Sie schrieben mir gestern Abend einen Brief,
      in dem Sie sagten, Sie hätten Vertrauen zu mir und brauchten meine Hilfe.
      Jetzt ist der Augenblick, da Sie wirklich meine Hilfe brauchen, jetzt ist
      der Zeitpunkt, da Sie mir vertrauen müssen, meinem Rat und Urteil
      vertrauen müssen. Sie lieben Robert. Wollen Sie seine Liebe zu Ihnen töten?
      Welch ein Dasein wird er haben, wenn Sie ihn der Früchte seines Ehrgeizes
      berauben, wenn Sie ihn aus dem Glanz einer großen politischen Karriere
      reißen, wenn Sie ihm die Türen zum öffentlichen Leben verschließen,
      wenn Sie ihn zu sterilem Nichtstun verdammen, ihn, der für Triumph und
      Erfolg geschaffen ist? Die Bestimmung der Frauen ist nicht, uns zu
      richten, sondern uns zu vergeben, wenn wir Vergebung brauchen. Verzeihung,
      nicht Strafe ist ihre Aufgabe. Warum sollten Sie ihn mit Ruten geißeln für
      eine in seiner Jugend begangene Sünde, ehe er Sie, ehe er sich selbst
      kannte? Das Leben eines Mannes wiegt schwerer als das einer Frau. Es hat
      größere Wirkungen, einen weiteren Horizont, erhabenere Bestrebungen des
      Ehrgeizes. Das Leben einer Frau bewegt sich in Gefühlskurven. Auf Linien
      des Verstandes verläuft das Leben eines Mannes. Begehen Sie nicht einen
      furchtbaren Fehler, Lady Chiltern. Eine Frau, die eines Mannes Liebe
      aufrechterhalten und ihn wiederlieben kann, hat alles getan, was die Welt
      von Frauen verlangt oder von ihnen verlangen sollte.
 LADY CHILTERN gequält und zögernd:
      Aber mein Mann selbst wünscht, sich vom öffentlichen Leben zurückzuziehen.
      Er fühlt, dass es seine Pflicht ist. Er hat es als erster gesagt.
 LORD GORING: Eher, als Ihre Liebe zu verlieren, würde Robert alles tun,
      seine ganze Karriere preisgeben, was er jetzt zu tun im Begriff ist. Er
      bringt Ihnen ein ungeheures Opfer. Lassen Sie sich von mir raten, Lady
      Chiltern, und nehmen Sie ein so großes Opfer nicht an. Wenn Sie es tun,
      werden Sie es später bitter bereuen. Wir Männer und Frauen sind nicht
      dafür geschaffen, dergleichen Opfer voneinander anzunehmen. Wir sind
      ihrer nicht würdig. Außerdem ist Robert schon genug bestraft worden.
 LADY CHILTERN: Wir sind beide bestraft worden. Ich habe ihn zu hoch
      erhoben.
 LORD GORING Mit tiefem Gefühl in
      der Stimme: Setzen Sie ihn aus diesem Grunde nicht zu tief herab. Wenn
      er von seinem Altar gestürzt ist, werfen Sie ihn nicht in den Schmutz.
      Nichtstun wäre für Robert wahrhaftig der Schmutz der Schmach. Macht ist
      seine Leidenschaft. Er würde alles verlieren, selbst sein Vermögen,
      Liebe zu fühlen. Das Leben Ihres Mannes liegt in diesem Augenblick in
      Ihrer Hand, die Liebe Ihres Mannes liegt in Ihrer Hand. Zerstören Sie ihm
      nicht beides.
 Sir Robert
      Chiltern tritt ein.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: Hier ist der Entwurf meines Briefes, Gertrude.
      Soll ich ihn dir vorlesen?LADY CHILTERN: Lass mich sehen.
 Sir Robert
      gibt ihr den Brief. Sie liest ihn und zerreißt ihn dann mit leidenschaftlicher Gebärde.
      
       SIR ROBERT CHILTERN: Was tust du?LADY CHILTERN: Das Leben eines Mannes wiegt schwerer als das einer Frau.
      Es hat größere Wirkungen, einen weiteren Horizont, erhabenere
      Bestrebungen des Ehrgeizes. Das Leben einer Frau bewegt sich in Gefühlskurven.
      Auf Linien des Verstandes verläuft das Leben eines Mannes. Das und noch
      viel mehr habe ich soeben von Lord Goring gelernt. Und ich werde dir nicht
      dein Leben zerstören noch zusehen, wie du es als ein Opfer für mich
      zerstörst, ein unnutzes Opfer!
 SIR ROBERT CHILTERN: Gertrude! Gertrude!
 LADY CHILTERN: Du kannst vergessen. Männer vergessen leicht. Und ich
      verzeihen. Auf diese Weise helfen die Frauen den Menschen. Das sehe ich
      jetzt ein.
 SIR ROBERT CHILTERN umarmt sie,
      übermannt von Gefühl: Mein Weib! Mein Weib! Zu
      Lord Goring. Arthur, ich scheine immer in deiner Schuld zu stehen.
 LORD GORING: O Himmel, nein, Robert. In Lady Chilterns Schuld stehst du,
      nicht in meiner.
 SIR ROBERT CHILTERN: Ich verdanke dir viel. Und jetzt erzähl mir, was du
      mich fragen wolltest, als Lord Caversham hereinkam.
 LORD GORING: Robert, du bist der Vormund deiner Schwester, und ich möchte
      deine Einwilligung, sie zu heiraten. Das ist alles.
 LADY CHILTERN: Oh, ich freue mich so! Ich freue mich so! Drückt Lord Goring die Hand.
 LORD GORING: Ich danke Ihnen, Lady Chiltern.
 SIR ROBERT CHILTERN mit besorgtem
      Ausdruck: Meine Schwester soll deine Frau werden?
 LORD GORING: Ja.
 SIR ROBERT CHILTERN spricht mit großer
      Entschiedenheit: Arthur, es tut mir sehr leid, aber die Sache kommt überhaupt
      nicht in Frage. Ich muss an Mabels künftiges Glück denken. Und ich
      glaube nicht, dass ihr Glück in deinen Händen gesichert wäre. Ich kann
      nicht zulassen, dass sie geopfert wird.
 LORD GORING: Geopfert?
 SIR ROBERT CHILTERN: Ja, entschieden geopfert. Ehen ohne Liebe sind
      abscheulich. Aber es gibt etwas noch Schlimmeres als eine völlig
      liebelose Ehe: eine Ehe, in der Liebe ist, aber nur auf einer Seite;
      Treue, aber nur auf einer Seite; Hingabe, aber nur auf einer Seite, und in
      der von den beiden Herzen das eine mit Gewissheit brechen muss.
 LORD GORING: Aber ich liebe Mabel. Keine andere Frau hat einen Platz in
      meinem Leben.
 LADY CHILTERN: Robert, wenn sie einander lieben, warum sollten sie dann
      nicht heiraten?
 SIR ROBERT CHILTERN: Arthur kann Mabel nicht die Liebe entgegenbringen,
      die sie verdient.
 LORD GORING: Welchen Grund hast du, das zu behaupten?
 SIR ROBERT CHILTERN nach einer
      Pause: Verlangst du wirklich von mir, dass ich ihn dir sage?
 LORD GORING: Aber natürlich.
 SIR ROBERT CHILTERN: Wie du willst. Als ich gestern Abend zu dir kam, fand
      ich Mrs. Cheveley in deinen Räumen verborgen. Es war zwischen zehn und
      elf Uhr nachts. Mehr wünsche ich nicht zu sagen. Deine Beziehungen zu
      Mrs. Cheveley gehen mich, wie ich dir heute nacht sagte, nicht das
      geringste an. Ich weiß, dass du einmal mit ihr verlobt warst. Der Zauber,
      den sie auf dich ausübte, scheint zurückgekehrt zu sein. Du hast heute
      nacht von ihr als einer lauteren und makellosen Frau zu mir gesprochen,
      einer Frau, die du achtest und ehrst. Das mag sein. Aber ich kann das
      Leben meiner Schwester nicht in deine Hände geben. Es wäre unrecht von
      mir. Es wäre ein Unrecht, ein schändliches Unrecht gegen sie.
 LORD GORING: Ich habe nichts weiter zu sagen.
 LADY CHILTERN: Robert, es war nicht Mrs. Cheveley, die Lord Goring heute
      nacht erwartete.
 SIR ROBERT
      CHILTERN: Nicht Mrs. Cheveley! Wer dann?
 LORD GORING: Lady Chiltern!
 LADY CHILTERN: Es war deine eigene Frau. Robert, gestern Nachmittag sagte
      mir Lord Goring, wenn ich je in Not sei, könnte ich um Hilfe zu ihm
      kommen, da er unser ältester und bester Freund sei. Später, nach dem
      furchtbaren Auftritt in diesem Zimmer, schrieb ich ihm, dass ich ihm
      vertraue, dass ich ihn brauche, dass ich um Hilfe und Rat zu ihm käme. Sir
      Robert Chiltern zieht den Brief
      aus der Tasche. Ja, diesen
      Brief. Ich ging schließlich doch nicht zu Lord Goring. Ich spürte, dass
      wir uns allein helfen müssten. Stolz ließ mich so denken. Mrs. Cheveley ging. Sie stahl meinen Brief und schickte ihn dir heute morgen anonym zu,
      damit du glauben solltest ... Oh! Robert, ich kann dir nicht sagen, auf
      welchen Gedanken sie dich bringen wollte ...
 SIR ROBERT CHILTERN: Wie? War ich in deinen Augen so tief gesunken, dass
      du glaubtest, ich könnte auch nur eine Sekunde an deiner Lauterkeit
      zweifeln? Gertrude, Gertrude, du bist für mich das makellose Bild all
      dessen, was gut ist, und nie kann Sünde dich erreichen. Arthur, du kannst
      zu Mabel gehen, und du hast meine besten Wünsche! Oh! Wart noch einen
      Augenblick. Der Brief enthält keine Anrede. Das scheint die vortreffliche
      Mrs. Cheveley nicht bemerkt zu haben. Es sollte dort ein Name stehen.
 LADY CHILTERN: Lass mich deinen hinschreiben. Du bist es, dem ich vertraue
      und den ich brauche. Du und kein anderer.
 LORD GORING: Also wirklich, Lady Chiltern, ich meine, ich sollte meinen
      Brief zurückbekommen.
 LADY CHILTERN lächelnd: Nein,
      Sie sollen Mabel bekommen. Nimmt den
      Brief und schreibt den Namen ihres Mannes darauf.
 LORD GORING: Ich hoffe, sie hat ihren Entschluss nicht geändert. Es
      ist beinahe zwanzig Minuten her, seit ich sie zuletzt sah.
 Mabel
      Chiltern und Lord Caversham treten ein.
      
       MABEL CHILTERN: Lord Goring, ich finde Gespräche mit Ihrem Vater
      viel vereitelnder als mit Ihnen. Ich werde mich in Zukunft nur noch mit
      Lord Caversham unterhalten, und stets unter der üblichen Palme.LORD GORING: Liebling! Küsst sie.
 LORD CAVERSHAM nicht wenig verblüfft:
      Was hat das zu bedeuten, mein Herr Sohn? Du willst doch wohl nicht
      behaupten, dass diese bezaubernde, gescheite junge Dame so töricht
      gewesen ist, dich zu erhören?
 LORD GORING: Natürlich, Vater! Und Chiltern ist so vernünftig, den Sitz
      im Kabinett anzunehmen.
 LORD CAVERSHAM: Das freut mich aber sehr zu hören, Chiltern ... Ich
      gratuliere Ihnen. Wenn England nicht vor die Hunde oder die Radikalen
      geht, werden wir Sie eines Tages als Premierminister haben.
 Mason tritt
      ein.
      
       MASON: Es ist zum Lunch gedeckt, Mylady. Er geht hinaus.MABEL CHILTERN: Sie bleiben doch zum Lunch, nicht wahr, Lord Caversham?
 LORD CAVERSHAM: Mit Vergnügen, und danach fahre ich Sie zur Downing
      Street, Chiltern. Sie haben eine große Zukunft vor sich, eine große
      Zukunft. Zu Lord Goring. Wünschte,
      ich könnte von dir dasselbe sagen, mein Herr Sohn. Aber deine Karriere
      wird unweigerlich ganz und gar häuslich sein.
 LORD GORING: Ja, Vater, ich ziehe eine häusliche vor.
 LORD CAVERSHAM: Und wenn du dieser jungen Dame nicht ein idealer Gatte
      wirst, dann enterbe ich dich bis auf einen Schilling.
 MABEL CHILTERN: Ein idealer Gatte? Oh, ich glaube nicht, dass mir das
      gefallen würde. Es klingt wie etwas im Jenseits.
 LORD CAVERSHAM: Wie möchten Sie ihn dann haben, Liebes?
 MABEL CHILTERN: Er kann sein, wie er will. Ich möchte weiter nichts, als
      ... als... oh! als ihm eine wirkliche Frau sein.
 LORD CAVERSHAM: Auf mein Wort, darin liegt eine Menge gesunder Verstand,
      Lady Chiltern.
 Alle, außer
      Sir Robert Chiltern, gehen hinaus. Er lässt sich in
      Gedanken verloren in einen
      Sesselfallen. Nach einer kleinen Weile kommt
      Lady Chiltern zurück, auf der Suche nach ihm.
      
       LADY
      CHILTERN beugt sich über die
      Sessellehne: Kommst du nicht, Robert?SIR ROBERT CHILTERN nimmt ihre Hand: Gertrude, ist es Liebe, was du für
      mich empfindest, oder ist es nur Mitleid?
 LADY CHILTERN küsst ihn: Es ist
      Liebe, Robert. Liebe, und nur Liebe. Für uns beide beginnt ein neues
      Leben.
 Ende
      
        
      
      
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